Saison 2007/2008: Konzert 6

Sonntag, 24. Februar 2008 17 Uhr Deutschlandfunk, Kammermusiksaal

Der Guldin Flügel

Heinrich von Meißen gen. Frauenlob Ala aurea Ensemble für mittelalterliche Musik Maria Jonas und Kai Wessel, Gesang Kai Wessel, Maria Jonas Sendung im Deutschlandfunk am 11.3.2008

Heinrich von Meißen, genannt Frauenlob, bereiste Ende des 13. Jahrhunderts als fahrender Lied- und Spruchdichter die Fürstenhöfe und wurde zu einem der wichtigsten deutschen Dichter des Spätmittelalters. Sein umfangreiches literarisch-musikalisches Werk ist ausschließlich in Teilsammlungen überliefert, von seiner Meisterdichtung »Guldin Fluegel«, einer Minnesang-Adaption des biblischen Hoheliedes, existieren gleich mehrere Versionen. Ala Aura, das Mittelalterensemble rund um die Sängerin Maria Jonas, nimmt die Kolmarer Liederhandschrift zum Ausgangspunkt. An Unmittelbarkeit gewinnt die Darbietung durch die Spontaneität der Improvisationskunst, wie sie im Mittelalter eine Selbstverständlichkeit war.

Programmfolge

Prolog. Dyß ist in frawenlobes überzarten don
Dichter: Heyliger geist, herlucht min synne kamer!



Diß ist unsrer frawen leich oder »der guldin flügel«,
zu Latin »Cantica canticorum«
1. Vision: Nu lat uch lusten also hobsches meres
2. Dichter: Ey ich sach in dem trone
3. Vision: Ich binß herkenig nennig kurg
4. Dichter: Nu merckent wie sie trüge
5. Vision: Ich binß die gröste von der kür
6. Vision: Der schmyt von oberlande
7. Dichter: Ey bernde meit und erentriche frouwe
8. Vision: Ich bin ein zuckersußer brunne
9. Dichter: Nu leuckent nicht
10. Vision: Ich bin der sterne von Jacop

Pause

11. Dichter: Syt irs die meit
12. Vision: Ich bin der ersten sach ein kint
13. Dichter: Den siben kirchen schreip Johan
14. Vision: Sterck unde zirde hat mich umbehelset
15. Vision: Ayn schnyder schneyt mir myn gewant
16. Dichter: Ob ich die warheit lerne
17. Vision: Wie die töne löne schöne
18. Vision: Ey! was sich mischet und entmischet
19. Dichter: Ey, wie ein lebndez mynnen wort

Epilog
20. Dichter und Vision: Gein berge clymmen dur ir nar die geiße

Vater des Meistersangs

Heinrich von Meißen war einer der wichtigsten deutschen Dichter des Spätmittelalters. Um 1250 im sächsischen Meißen an der Elbe als Bürgersohn geboren, bereiste er als fahrender Lied- und Spruchdichter die Fürstenhöfe. Durch einen Verswettkampf, in dem es um die Bezeichnungen vrouwe (Frau) und wîp (Weib) ging, erhielt er seinen Beinamen »Frauenlob«. In seinen Sprüchen gestaltete er weltliche und geistliche Themen, in der Vermischung von Lied und Spruch führte er seine Kunst zum Meistersang hin. So sahen die Meistersinger in ihm auch das bedeutendste und berühmteste ihrer alten Vorbilder, ja den Begründer ihrer Kunst. Sie bewahrten sein Andenken bis in das 18. Jahrhundert hinein. Seit 1312 lebte Frauenlob in Mainz, wo er am 29. November 1318 an einer Vergiftung starb. Die Überlieferung schreibt, dass zahlreiche weinende Frauen seinen Sarg zur letzten Ruhestätte geleiteten.

Frauenlobs umfangreiches literarisch-musikalisches Werk ist nicht geschlossen überliefert, sondern in mehreren Teilsammlungen. Eine der wichtigsten davon ist die Große Heidelberger Liederhandschrift, die auch als Manessische Handschrift bekannt ist. Dort ist er als einziger Sänger zweimal porträtiert. Hinzu kommen die Weimarer Papierhandschrift sowie die Wiener und die Kolmarer Liederhandschrift, von denen die beiden letztgenannten auch Melodien überliefern. Höhepunkte im Schaffen des Heinrich von Meißen sind die drei erhaltenen Leiche: der Marienleich (Frauenleich), der Kreuzleich und der Minneleich.

Der Frauenleich, der auch der Guldin Flügel genannt wird, gilt als ein besonderes Meisterwerk. Eine seiner wichtigsten Inspirationsquellen ist das Hohe Lied (Canticum Canticorum), jene einzigartige Sammlung von Liebesgedichten aus dem Alten Testament. Insgesamt ist der Text in seiner rasanten und nur mit Konrad von Würzburgs Goldener Schmiede vergleichbaren Zusammenführung von marianischen Bildern, Vergleichen und Metaphern aber keineswegs nur eine Adapation des Hohen Liedes. Nach meinem Verständnis charakterisiert man den Guldin Flügel sogar gänzlich falsch, wenn man ihn in die Nähe einer Übersetzung oder Bearbeitung des biblischen Textes rückt. Denn solch eine Sicht hebt die enorme sprachschöpferische Kraft Frauenlobs in diesem Stück nicht ausreichend hervor, die es ihm ermöglicht, im Rahmen der formalen Möglichkeiten des Genres alte Grenzen zu überschreiten. Frauenlob gestaltet den Guldin Flügel dialogisch: Zunächst erscheint der Dichter mit seinen Lobgesängen auf die »höchste Frau«, die Jungfrau Maria, die dann im zweiten Teil selbst die Stimme erhebt: des Dichters Vision wird hör- und erlebbar.

Auch der Guldin Flügel wurde in mehreren Liederhandschriften überliefert, und zwar in unterschiedlichen Versionen. Im Falle der Kolmarer Liederhandschrift waren Leute am Werk, die bereits in einer Welt selbstverständlicher Schriftlichkeit lebten und deshalb die ihnen vorliegenden musikalischen Werke nach ästhetischen Normen überarbeiteten, wie sie sich im Verlaufe einer schriftlichen Tradition verfestigt hatten. In der Kolmarer Handschrift werden also nicht einfach Reflexe einer improvisierenden, mündlichen Tradierung verschriftet, hier werden ältere Quellen des Minnesangs und der Spruchdichtung neu abgeschrieben und redaktionell überarbeitet. Was von den Abweichungen gegenüber den früheren Handschriften noch aus alter Zeit stammt, was sich aus anderen Schriftquellen ergab, die aus der Zeit der Kolmarer Schreiber stammten, und inwieweit solche Varianten auf das Konto des älteren oder des neueren Sprachgebrauchs in den konkreten Sprechsituationen gehen, wird man im Einzelnen nicht mehr rekonstruieren können.

Wir benutzen für unser Programm ausschließlich die Kolmarer Liederhandschift, die mit der Jenaer und der Donaueschinger Handschrift als ältestes Zeugnis des deutschen Meistergesanges gelten kann. Die Handschrift ist seit 1589 in ihrem jetzigen Einband und seither im Umfang unverändert geblieben. Ihre Anlage beweist, dass ihr ältere Quellen zur Abschrift vorgelegen haben müssen, zu denen sicher auch Frauenlobs Lieder gehören. Ohne Zweifel ist die Handschrift Mitte des 15. Jahrhunderts entstanden - also zu einer Zeit, in der Heinrich von Meißen schon gut 100 Jahre tot war. Somit stellt die Kolmarer Handschrift auch ein Zeugnis sehr früher »historischer Aufführungspraxis« dar.

Dieser Umstand sowie die Darstellung Frauenlobs in der Manessischen Liederhandschrift als »König der Sänger und Musiker« hat unsere Interpretation des Guldin Flügel inspiriert. Und so haben wir die Kolmarer Handschrift neu abgeschrieben, redaktionell umgearbeitet und sie somit wieder in einen Dialog gestellt - diesmal in einen Dialog mit dem 21. Jahrhundert. Meine Grundidee besteht darin, den Dialog zwischen dem Dichter und seiner Vision der »hohen Frau« dichter zu gestalten, d. h. die strenge Zweiteilung aufzuheben und somit die zwei Sänger unmittelbarer aufeinander reagieren zu lassen.

Dies mag heute vielleicht als ein grober Eingriff erscheinen, woraus unvermeidlich die Frage resultiert, ob man so etwas überhaupt darf. Meine Antwort: Ja, man darf, wenn Quellenlage und historisches Umfeld dabei genau studiert und beachtet werden. Unser Anliegen ist die Rekonstruktion eines Mittelalter-Stücks, das nicht rein museal »historisch richtig«, sondern auch für den heutigen Menschen gestaltet werden soll.

Neben den zwei Sängern laden wir in Anlehnung an die Darstellung in der Manessischen Liederhandschrift drei weitere Musiker mit typischen Instrumenten aus der damaligen Zeit hinzu: Die Fidel dient als Hauptinstrument, quasi als »Orchester« des Mittelalters und wichtigstes Begleitinstrument für die Sänger. Die Harfe, das Instrument des Königs Davids und auch dasjenige des Gottes Apoll, war sehr verbreitet in der mittelalterlichen Bildersprache und galt als religiöses Instrument mit hohem Symbolgehalt. Das Hackbrett (Psalterium) - heute wohl nur dank der Lieddichtung des barocken Theologen Joachim Neander (»Psalter und Harfe, wacht auf«) im Sprachschatz noch allgemeiner verankert - wird schon im Alten Testament beschrieben. Seine Blüte erlebte es im frühen Mittelalter gewissermaßen als »Pflichtinstrument« für adelige Damen. Gespielt wurde es mit einem Plektrum (oft ein Federkiel), oder es wurde einfach mit den Fingern gezupft.

Es gab und gibt nicht die eine, definitive Version des Guldin Flügel. Es ist zu vermuten, dass seit dem Mittelalter eine tiefgreifende Veränderung des Erinnerns stattgefunden hat. Die orale Tradition ist uns heute in unseren Breitengraden verloren gegangen, das Schriftliche erscheint uns wichtiger, ja unantastbar. Die Darbietungen des Mittelalters leben aber von ihrer Unmittelbarkeit, ihrer Spontaneität und Improvisationskunst, so wie wir sie in unserem Kulturkreis heute vielleicht höchstens noch im Jazz erleben können. Außerdem hatten die Zuhörer früher ein in dieser Hinsicht viel besser geschultes Ohr und Gedächtnis. Zum einen waren die Bilder, die hier heraufbeschworen werden, den Menschen im Mittelalter bekannt und geläufig; zum anderen waren sie es gewohnt, das gesprochene Wort über einen viel längeren Zeitraum zu behalten - wer von den damaligen Zuhörern konnte schon lesen und schreiben? Und auch wenn sie es konnten: Zeitungen und Bücher für jedermann gab es damals noch nicht ...

In unserer Welt und in unseren Existenzen ist durchaus noch etwas vom Mittelalter vorhanden. Mag es als geschichtliche und kulturelle Epoche auch endgültig vorbei sein, so hat es uns doch ein Erbe hinterlassen.

Maria Jonas

Mitwirkende

Ala Aurea Ensemble für mittelalterliche Musik