Saison 2009/2010: Konzert 3

Sonntag, 8. November 2009 17 Uhr Deutschlandfunk, Kammermusiksaal

Johann Mattheson

Oratorium »Die heilsame Geburt und Menschwerdung unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi« Die Kölner Akademie Ltg. Michael Alexander Willens Kölner Akademie Sendung im Deutschlandfunk am 24.12.2009

Johann Mattheson, Sohn der Hansestadt Hamburg, gilt zurecht als einer der produktivsten und als der wohl scharfzüngigste deutsche Musikkritiker seiner Zeit. Er wusste genau, worüber er schrieb, denn er war gleichzeitig ein erfahrener Musiker, der schon als Kind Opernrollen übernommen hatte und von 1718 an für zehn Jahre als Domkantor tätig war. Michael Alexander Willens und seine Kölner Akademie stellen nunmehr Werke aus dem umfangreichen Œuvre des Komponisten Mattheson vor. Im Mittelpunkt steht ein Weihnachts-Oratorium, das rund zwei Jahrzehnte früher im Hamburger Dom erklang als Bachs berühmtes Schwesterwerk in den Leipziger Hauptkirchen.

Programmfolge

Johann Mattheson (1681-1764)
Meine Seele erhebt den Herren
Deutsches Magnificat für 8 Vokalstimmen (Soli und Chor),
2 Trompeten, Pauken, Traversflöte, Streicher und Basso continuo

Georg Philipp Telemann (1681-1767)
In deinem Wort und Sacrament TWV I:931
Kantate für 4 Vokalstimmen (Soli und Chor), Streicher und Basso continuo

Pause

Johann Mattheson
Die heilsame Geburt und Menschwerdung unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi
Oratorium für 4 Vokalstimmen (Soli und Chor),
2 Trompeten, 2 Hörner, Pauken, Traversflöte, Oboe, Streicher und Basso continuo

Pdf-Download: Gesangstexte und Übersetzungen

Vollkommene Kapellmeister

1681 ist das Geburtsjahr zweier nicht nur für die Musikgeschichte der Stadt Hamburg bedeutender Komponisten: Der eine, Georg Philip Telemann, war 1721 nach Hamburg gekommen, wo er das Amt des Kantors am ersten akademischen Gymnasium, dem Johanneum, sowie das des Musikdirektors der Hansestadt und ihrer fünf Hauptkirchen versehen sollte; im Jahr darauf übernahm er außerdem die Leitung der 1678 gegründeten Oper am Gänsemarkt. Darüber hinaus betätigte er sich als Verleger sowie als Veranstalter zahlreicher öffentlicher Konzerte. Der andere, Johann Mattheson, ist heute hauptsächlich als Musiktheoretiker bekannt, war aber tatsächlich einer der produktivsten Schriftsteller, Kritiker, Übersetzer, Musiker und Komponisten seiner Zeit.

Als Sohn eines Zollbeamten in Hamburg geboren, trat Mattheson, der das Johanneum besucht und eine umfassende Ausbildung in Musiktheorie und Komposition erhalten hatte, mit neun Jahren zunächst als Sopran ins Licht der Öffentlichkeit - auf der Opernbühne. Später sollte er für das Haus am Gänsemarkt mehrere Bühnenwerke komponieren und leiten; der Erfolg eines diese Werke, Cleopatra, führte 1704 zu einer gefährlichen Zuspitzung der gärenden Rivalität zwischen dem Komponisten und seinem jüngeren Kollegen Georg Friedrich Händel - das resultierende Duell vor dem Opernhaus ging jedoch glimpflich aus, da der andernfalls wohl tödliche Degenstoß Matthesons glücklicherweise an einem Mantelknopf Händels abglitt. Somit von den beträchtlichen Risiken einer Opernkarriere überzeugt, nahm Mattheson 1706 einen Posten als Sekretär des englischen Gesandten in Hamburg an. Während seiner Zeit im diplomatischen Dienst konnte er sich einen Namen als Schriftsteller und Übersetzer machen. Die wohl produktivste Phase als Komponist durchlebte Mattheson zwischen 1715 und 1728, in der Zeit seiner Anstellung als Kantor am Hamburger Dom, wo zu seinen Pflichten auch die musikalische Einrichtung der kirchlichen Feiern zu Weihnachten, Ostern, Pfingsten und Trinitatis gehörte.

Heutzutage erinnert man sich Matthesons hauptsächlich seiner musiktheoretischen Schriften wegen. Er gründete die erste Musikzeitschrift, Critica musica, und wurde unter seinen Zeitgenossen bekannt für die energische Verteidigung des modernen französischen und italienischen Kompositions- und Aufführungsstils, vornehmlich in der Oper, sowie für seine teilweise bissigen Kritiken - für, wie Telemann es einmal ausdrückte, seine »stachlichte Feder«. In anderen Werken, beispielsweise der Grundlage einer Ehrenpforte (1740), widmete er sich der Musikgeschichtsschreibung und Biografik. Sein Hauptwerk allerdings war Der vollkommene Capellmeister (1739), eine ausführliche Anleitung zu allem, was seiner Meinung nach der angehende Leiter eines Musikensembles wissen sollte: von Kulturpolitik und Musikästhetik über die Kompositionspraxis bis hin zum Wert einer lesbaren Handschrift, damit denn auch die Nachwelt von dem, was der Kapellmeister zu Papier bringe, profitieren könne.

Telemann stammte aus Magdeburg und hatte als Student in Leipzig endgültig zu Musik gefunden. In Hamburg wie Mattheson auch als Musiklehrer tätig, interessierte er sich ebenfalls für Neuerungen in Musiktheorie und -praxis. Gesichert ist, dass er die Veröffentlichung mehrerer musiktheoretischer und pädagogischer Schriften geplant hat, darunter Abhandlungen zur Kompositionslehre und über das Rezitativ sowie eine Übersetzung von Johann Joseph Fux' Gradus ad Parnassum. Die von Mattheson in einer Ode an Telemann gerichtete Bemerkung »Doch frag' ich auch mit Billigkeit: Woher nähmst du die Zeit?« scheint allerdings sehr berechtigt; keine der genannten Schriften Telemanns ist überliefert. Aus seiner Feder stammen aber Vorworte zu einer Anzahl musiktheoretischer und aufführungspraktischer Traktate.

Keiner der beiden Komponisten war unumstritten: Telemanns Kompositionen erregten das Missfallen der Gemeindeältesten der Hamburger Hauptkirchen, weil sie angeblich »zur Wollust« anreizten; Matthesons Entscheidung, für Aufführungen im Hamburger Dom nicht nur grundsätzlich auch Frauen, sondern bevorzugt Opernsänger und -sängerinnen zu engagieren, waren ebenfalls Gegenstand heftiger Kritik. Die Freundschaft beider mit dem Ratsherrn und Dichter Barthold Hinrich Brockes war sicherlich von Vorteil, da Brockes einen erheblichen Einfluss auf das Hamburger Musikleben hatte.

Die Uraufführung von Matthesons deutschem Magnificat a due cori fand am dritten Weihnachtstag 1718 statt. Der Text basiert auf dem Lobgesang Marias auf die Verkündigung der Geburt Christi (nach Lukas 1,46-55). In den Rahmenstrophen, »Meine Seele erhebet den Herren« und »Wie er geredet hat unsern Vätern«, die von den Chören gesungen werden, behält Mattheson die Übersetzung Luthers bei. Die Binnenstrophen werden von den vier Solisten im Wechsel als Arien und Rezitative gesungen; hier hat sich Mattheson für eine Nachdichtung entschieden, in der die Affekte, die das Heilsgeschehen begleiten - seien es nun Freude, Demut oder Entschlossenheit - herausgehoben und musikalisch umgesetzt werden. Der reich instrumentierte Anfang und der im alten polyphonen, fugierten Stil gehaltene Schlusssatz bilden so die Grundpfeiler, zwischen denen die intimer gehaltenen Solopartien ihre affektive Wirkung entfalten können. - Das Werk wird im heutigen Konzert in der von Mattheson vorgesehenen Besetzung von acht Sängern und einem kleinen Instrumentalensemble aufgeführt.

Die Kantate zum 1. Advent, In deinem Wort und Sacrament TWV I:931, ist das erste Werk aus Telemanns Kantaten-Jahrgang 1742/43, den »Lieder-Andachten« nach Texten des Hamburger Hauptpastors an St. Jacobi, Erdmann Neumeister. Im Eingangssatz werden die Melodien gleich zweier bekannter Choräle - Luthers Adventshymnus »Nun komm der Heiden Heiland« in der Tenor- und Basstimme und der ebenfalls aus dem 16. Jahrhundert stammende Choral »Kommt her zu mir, spricht Gottes Sohn« in Sopran und Alt - mit der Dichtung Neumeisters zu einem neuen Ganzen verwoben. Die hierauf folgenden Soloarien für Sopran-, Alt- und Bassstimme sind mit ihrer sparsam gehaltenen Besetzung höchst augenfällige Beispiele für den Einfallsreichtum Telemanns, der gerade mit minimalen Mitteln größte Vielfalt zu erzielen vermochte.

Matthesons Weihnachtsoratorium Die Heilsame Geburt und Menschwerdung unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi wurde 1715 in der Hamburger Domkirche aufgeführt; wie bei fast allen Weihnachtsoratorien Matthesons erklang der erste Teil vor, der zweite nach der Andacht. Als Textgrundlage dient die Weihnachtsgeschichte nach Lukas 2,1-18. Dieser Text wird in Luthers Übersetzung vom Evangelisten in Rezitativen wiedergegeben. Meditationen über die biblische Geschichte durchbrechen und kommentieren die Rahmenhandlung in Gestalt von Soloarien, Duetten und Trios. Figurenrede gibt es nur im Chor. Er tritt als »Chor der Engel« und »Chor der Hirten« auf und stimmt in diesen Rollen Luthers »Ehre sei Gott in der Höhe und den Menschen ein Wohlgefallen« bzw. »Lasset uns hingehen gen Bethlehem« an. Außerdem tritt der Chor auch mit Chorälen als Vertreter der zeitgenössischen Gemeinde auf. Die Ecksätze sind reich instrumentierte Fassungen der ersten und letzten Strophe von Luthers Weihnachtschoral »Vom Himmel hoch da komm ich her«, allerdings nicht mit der bekannten, von Luther 1539 komponierten Melodie, sondern in der älteren Fassung von 1535, einer Kontrafaktur des Volksliedes »Aus fremden Landen kam' ich her«, das Luther ursprünglich als musikalische Grundlage seiner Neudichtung verwendet hatte. Dass sich Mattheson für diese seit 1551 nicht mehr gebräuchliche Fassung entschieden hat, ist ungewöhnlich und beredtes Zeugnis seiner fundierten kirchenmusikhistorischen Kenntnisse. Der Choral zieht sich durch das gesamte Werk; in der Textstrophe »Bist willkommen, du edler Gast« durchwandert er gar alle Chorstimmen.

Die Heilsame Geburt und Menschwerdung unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi zeichnet sich besonders durch die farbenreiche, immer wechselnde Besetzung in den verschiedenen Nummern aus, die klar die besondere Experimentierfreude und kompositorische Virtuosität Matthesons erkennen lassen, der sich auch in seiner Kirchenmusik von den Innovationen der zeitgenössischen Oper inspirieren ließ.

Telemann pflegte schon während seiner Zeit als Frankfurter Musikdirektor (1712-1721) einen umfangreichen und äußerst freundschaftlichen Briefwechsel mit Mattheson, und auch in ihren für die Öffentlichkeit bestimmten theoretischen Werken überschütteten sich beide mit Lob. So schrieb Telemann für das Vorwort von Matthesons Großer General-Bass-Schule 1718 ein dem Autor gewidmetes Gedicht, das mit den Zeilen endete: »Hier schrieb ich gerne Viel zu Deinem wahren Lobe: / Wie wohl, was braucht es diß? / Gnug, Du bist Mattheson.« Mattheson erwiderte in seiner Grundlage einer Ehrenpforte, nicht weniger schmeichelhaft: »Ein Lulli wird gerühmt; Corelli lässt sich loben; / nur Telemann allein ist übers Lob erhoben.«

Nicola Heine

Mitwirkende

Die Kölner Akademie
Ltg. Michael Alexander Willens

Die Kölner Akademie musiziert heute in folgender Besetzung:

Nicki Kennedy (Sopran 1 / Soli), Anna Crookes (Sopran 2)
Ursula Eittinger (Alt 1 / Soli), Dorothee Merkel (Alt 2)
Andreas Post (Tenor 1 / Soli), Sven Hansen (Tenor 2)
Stephan MacLeod (Bass 1 / Soli), Johannes Gsänger (Bass 2)

David Hendry, Bruno Rodrigues Dinis Fernandes (Trompete)
Andrew Hale, Maria Vornhusen (Horn), Christoph Nünchert (Pauken)
Martin Sandhoff (Traversflöte), Ina Stock (Oboe), Veit Scholz (Fagott)
Catherine Manson (Konzertmeisterin), Anna von Raußendorff, Luna Oda, Frauke Heiwolt, Rachel Isserlis, Andreas Hempe, Christine Moran (Violinen)
Cosima Nieschlag, Sara Hubrich (Viola), Julie Maas, Teresa Kaminska (Violoncello)
David Sinclair (Violone), Willi Kronenberg (Cembalo)