Saison 2012/2013: Konzert 2

Sonntag, 28. Oktober 2012 17 Uhr Museum für Angewandte Kunst

Windy Moments

Kammermusik für Bläser und Klavier von Claude Paul Taffanel, Michael Glinka und Ludwig Thuille Sandhoff · Niesemann · Hoeprich · Scholz · van der Zwart Alexander Melnikov Alexander Melnikov Sendung auf WDR 3 am 9. Januar 2013

Mit einem Quintett des Franzosen Claude Paul Taffanel, einem Trio pathétique des Russen Michael Glinka und einem Sextett des Tirolers Ludwig Thuille stellen der Kölner Traversflötist Martin Sandhoff, seine vier Bläserkollegen und der Moskauer Pianist Alexander Melnikov am Hammerflügel ebenso virtuose wie klanglich reizvolle Raritäten aus dem Repertoire der romantischen Bläserkammermusik vor, die man heutzutage nur allzu selten einmal wie hier auf dem schattierungsreichen Instrumentarium ihrer Entstehungszeit erleben kann.

Programmfolge

Claude Paul Taffanel (1844-1908) Quintett g-Moll für Flöte, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott (1876) Allegro con moto - Andante - Vivace Michael Glinka (1804-1857) Trio pathetique d-Moll für Pianoforte, Klarinette und Fagott (1832) Allegro moderato - Scherzo. Vivacissimo / Trio - Largo - Allegro con spirito Pause Ludwig Thuille (1861-1907) Sextett B-Dur op. 6 für Flöte, Oboe, Clarinette, Horn, Fagott und Pianoforte (1886) Allegro moderato - Larghetto - Gavotte. Andante, quasi allegretto - Finale. Vivace

Klang der Zeit

Das 19. Jahrhundert scheint uns heute aus musikgeschichtlicher Perspektive noch gar nicht so weit entfernt, denn immer noch bestimmt sein musikalisches Repertoire den etablierten Konzert- und Opernbetrieb. Und doch ist diese klassische Musik der Romantik auch eine Alte Musik: So ist von den Stücken des heutigen Programms das jüngste vor gut 125 Jahren komponiert worden und das älteste vor etwa 188 Jahren. Alte Musik ist das auch, weil die Stücke zum Teil noch für Instrumente anderer Mensur komponiert wurden, die auch eine etwas andere Spieltechnik erfordern. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ist in dieser Hinsicht eine Phase des Übergangs, in der ältere und neuere Instrumententypen nebeneinander eingesetzt wurden – je nach persönlicher Vorliebe der Spieler. Kammermusik – zumal Bläserkammermusik – dieser Zeit einmal auf dem noch in älteren Spieltraditionen stehenden Instrumentarium zu hören, dazu ist im heutigen Konzert eine der seltenen Gelegenheiten. Schon ein flüchtiger Blick auf die Instrumente wird Unterschiede offenbaren: die Holzbauweise der Querflöte, die Klappensysteme von Oboe, Klarinette und Fagott, das Nebeneinander von Natur- und Ventilhorn oder das im Vergleich mit einem modernen Konzertflügel weniger ausladend dimensionierte Pianoforte. Beim gemeinsamen Spiel dieser Instrumente in Trio-, Quintett- und Sextett-Formation kommen ungewohnte Farbwerte und dynamische Nuancierungen zum Klingen – und das ist der eigentliche Sinn und Zweck dieser „historischen“ Aufführungspraxis. Denn es geht darum, eine Kompositions- und Spielästhetik wiederzuentdecken, die im Laufe der Zeit von jüngeren Spielkonventionen und neuen Herstellungstechniken überdeckt wurde.

Alte Musik, das ist die Neue Musik von gestern. Dieses Bonmot bewahrheitet sich einmal mehr beim Blick auf die Kompositionen von Claude Paul Taffanel. Der 1844 als Sohn eines Musiklehrers in Bordeaux geborene Flötist gilt als Vater der modernen französischen Flötenschule. Bereits mit vierzehn Jahren wurde er in Paris ein Schüler von Louis Dorus, der als Erster in Frankreich die Übernahme des von Theodor Böhm in München neu entwickelten chromatischen Klappensystems für die Flöte propagierte. Damit wurde dann auch Taffanel groß, der schon als frischer Konservatoriums-Student mit einem Premier Prix ausgezeichnet wurde. Schnell fand er den Weg in die Pariser Opernorchester und 1893 auch in eine Professur für Flöte an seiner alten Ausbildungsstätte. Daneben führten ihn Konzertreisen bis nach Russland. Auch als Dirigent und Komponist war Taffanel eine bedeutende Persönlichkeit im französischen Musikleben des Fin de Siècle; so setzte er sich beispielsweise für die Aufführung der Opern Richard Wagners und Giuseppe Verdis ein. Seine Méthode complète de Flûte als Lehrwerk zum Flötenspiel blieb allerdings ebenso Fragment wie seine instrumentenkundliche Abhandlung La Flûte. Es war dann Taffanels Schülern vorbehalten, sie nach seinem Tod 1908 zu komplettieren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Eine Herzensangelegenheit war Taffanel die Bläser-Kammermusik; zu diesem Zweck rief er 1879 die Societé des Instruments à Vent ins Leben, für die dann Charles Gounod 1885 seine Petite Symphonie komponierte. Taffanels bis heute bekanntestes Werk dürfte in der Societé ebenfalls in guten Händen gewesen sein: das Quintett für Flöte, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott g-Moll, das er 1876 komponierte und seinem Institutskollegen und ehemaligen Tonsatz-Lehrer Napoléon-Henri Reber widmete. Dementsprechend glänzt es einerseits – vor allem im ersten Satz – mit einer fast klassizistischen Kompositionstechnik. Andererseits legt der Bläser Taffanel natürlich Wert darauf, die kantablen und die virtuosen Qualitäten aller beteiligten Instrumente ins rechte Licht zu rücken; ersteres vornehmlich im lyrischen Mittelsatz, letzteres in fulminanter Weise im finalen Vivace, hinter dem sich eine mitreißende Tarantella verbirgt.

Michael Glinka gilt als Vater der klassischen Musik Russlands. Das Musikleben war dort seit dem 18. Jahrhundert vornehmlich von Künstlern aus dem Westen Europas geprägt worden, die am Zarenhof in St. Petersburg wirkten. Glinka, dem Sohn eines adeligen Gutsbesitzers aus der Nähe von Smolensk, wurde die Begegnung mit der Bläser-Kammermusik des schwedischen Klarinettisten Bernhard Henrik Crusell zum Schlüsselerlebnis. Am neugegründeten Adelsinstitut in St. Petersburg erhielt er nicht nur eine qualifizierte Schulausbildung, er fand auch Gelegenheit, sein Klavier- und Violinspiel zu perfektionieren. Dank des familiären Hintergrundes frei von finanziellen Sorgen und in den Literatenkreisen im Umfeld Puschkins verkehrend, widmete er sich in der Folgezeit vornehmlich musikalisch motivierten Bildungsreisen, die ihn nach Deutschland, Österreich und Italien, später noch nach Frankreich und Spanien führten und mit vielen bedeutenden Komponisten-Persönlichkeiten seiner Zeit zusammenbrachten. Andererseits ließen die Auslandsaufenthalte auch seine Pläne zu einer „vaterländisch-heroisch-tragischen Oper“ reifen - 1836 erlebte Ein Leben für den Zaren seine Uraufführung und machte ihn zu Russlands führendem Komponisten.

Ein unmittelbares Ergebnis seines ersten Italien-Aufenthaltes zwischen 1830 und 1833, der ihn mit Vincenzo Bellini, Gaetano Donizetti und Felix Mendelssohn Bartholdy bekannt machte, ist das Trio pathetique in d-Moll für Klarinette, Fagott und Klavier - eine Besetzung, in der die mittleren und tiefen Holzbläser-Lagen dominieren und damit gedeckte, manchmal fahle Klänge. Glinka schrieb das Trio 1832 in Mailand und ließ es dort von Musikern der Scala spielen. Pathetisch, wie es der Titel erwarten lässt, ist vor allem die Eröffnung des Werks angelegt; im weiteren Verlauf wird immer wieder einem gelösteren Nebengedanken Raum gegeben. Seiner von Heimweh durchzogenen Melancholie in jenen Tagen überlässt sich Glinka im Largo-Satz, den er hinter dem heiteren Scherzo an dritter Stelle platziert und der auch deshalb so eindringlich in Erinnerung bleibt, weil das abschließende Allegro moderato überraschend knapp ausfällt.

Der Jüngste im Bunde der drei Komponisten des heutigen Programms ist der Österreicher Ludwig Thuille. In Bozen geboren, ging er einige Jahre ins Internat am Stift Kremsmünster und kam dann in die Familie seiner Halbschwester in Innsbruck. Dort sorgte die Komponistenwitwe Pauline Nagiller für die musikalische Ausbildung des talentierten Pianisten. Er wurde Kompositionsschüler von Joseph Pembaur und wechselte später an die Königliche Musikschule in München zu Josef Gabriel Rheinberger und Karl Bärmann. Sein Examen bestritt er 1882 mit dem Vortrag eines eigenen Klavierkonzertes, und schon im Jahr darauf war er selbst Dozent am Münchner Institut. Noch in Innsbrucker Jugendtagen gründete seine Freundschaft mit dem drei Jahre jüngeren Richard Strauss (der u. a. 1886 in Meiningen Thuilles F-Dur-Sinfonie uraufführte). Mit den kompositorischen Erfolgen des jüngeren, in seinem künstlerischen Wollen progressiveren Strauss konnte Thuille allerdings nicht mithalten, was das Verhältnis der beiden zeitweise trübte. Nachhaltiger entfaltete er seine Wirkung als Lehrender, der eine vermittelnde Position einnahm zwischen den auseinanderstrebenden ästhetischen Strömungen - der „neudeutschen“ Schule um Franz Liszt und Richard Wagner und der klassizistischen Richtung um Johannes Brahms.

Als Komponist blieb Thuille nach seinem plötzlichen Tod - er starb 1907 mit 45 Jahren an Herzversagen - vor allem durch seine Kammermusik in Erinnerung, und in der bildet das heute zu hörende Sextett für Bläser und Klavier B-Dur fraglos den Höhepunkt. Thuille schrieb es 1886 und widmete es Emma Dietl, der Frau, die er im folgenden Jahr heiratete. Wiederum ein Jahr später saß er selbst bei der Uraufführung in Wiesbaden am Klavier – selbstverständlich hatte er diese Partie auf die eigenen herausragenden pianistischen Fähigkeiten abgestimmt. Aber auch die Bläserstimmen verraten den schon erfahrenen Komponisten und Instrumentator, der einen komplexen Satz aus individuell höchst anspruchs-, aber auch sehr effektvollen Partien zu schreiben versteht. Die Viersätzigkeit und der weit aufgefächerte Klang verleihen dem Werk fast schon sinfonische Ausmaße; in der Stilistik findet es einen überzeugenden Weg zwischen den Schulen, wobei die Gestaltung des dritten Satzes als Gavotte deutlich auf das Vorbild Richard Strauss, konkret auf dessen Suite für 13 Bläser op. 4 hindeutet, die zwei Jahre vor Thuilles Sextett entstand. Vor allem aber verströmt dessen Werk in seinem melodischen Fluss, im so mühelos erscheinenden und doch so anspruchsvoll geschriebenen Zusammenspiel der Stimmen eine zeitlose Grandezza, die es zu einem Repertoirestück der Bläserkammermusik gemacht hat.

Eines noch haben die drei Werke des heutigen Abends gemeinsam: Ihre Komponisten waren relativ jung, als sie sie komponierten - Taffanel 32, Glinka 28 und Thuille 25 Jahre. Inwieweit man das aus dem frischen Klang der alten Instrumente heraushört, muss freilich jeder Zuhörer für sich selbst entscheiden.

behe

Mitwirkende

Martin Sandhoff
Martin Sandhoff - Flöte verwendet im heutigen Konzert die hölzerne Querflöte eines anonymen Erbauers aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Michael Niesemann - Oboe spielt in diesem Konzert eine französische Oboe, die Alexandre Robert 1894 in Paris erbaut hat. Eric Hoeprich - Klarinette hat für das heutige Programm eine Klarinette Jochen Seggelkes ausgewählt, die ein Münchner Instrument Georg Ottensteiners von 1865 kopiert. Veit Scholz - Fagott Das Fagott, auf dem Veit Scholz im heutigen Konzert spielt, wurde 1896 von Wilhelm Heckel in Hamburg erbaut. Teunis van der Zwart - Horn spielt heuet auf einem Naturhorn von Antoine Courtois (Paris 1855) und einem anonymen deutschen Ventilhorn aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Alexander Melnikov - Pianoforte Im heutigen Konzert spielt er auf einem Blüthner-Flügel aus der Zeit um 1900.