Saison 2001/2002: Konzert 4

Sonntag, 16. Dezember 2001 17 Uhr Sendesaal des Deutschlandfunks

Georg Philipp Telemann und seine französischen Beziehungen

Werke von Georg Philipp Telemann, Jean Marie Leclair und Michel Corrette Camerata Köln Sendung im Deutschlandfunk am 18.12.2001

Telemann ist polyglott. Zwar kann er noch nicht wie spätere Komponisten behaupten, dass die ganze Welt seine Musiksprache verstehe. Dass seine Kompositionen aber Merkmale aus der gesamten musikalischen Welt seiner Zeit aufnehmen und Telemann seinerseits damit Bezüge zu verschiedenen nationalen Stilen herstellt, ist offenkundig. Die Gründungsidee des Ensembles Camerata Köln, alte Kammermusik in virtuoser Beherrschung historischer Instrumente unter Beachtung stilistischer Kriterien zum Klingen zu bringen, ist in diesem Programm auf Telemann und seine französischen Zeitgenossen Jean-Marie Leclair (1703-1777) und Michel Corette (1709-1795) sowie vorweihnachtliche Klänge gerichtet.

Programmfolge

Georg Philipp Telemann (1681-1767)
Concerto da camera g-Moll
für Blockflöte, 2 Violinen und Basso continuo
Allegro
Siciliana
Bourrée
Menuet

Michel Corette (1709-1795)
Concert "Le Noel Allemand"
für Flöte, 2 Violinen und Basso continuo
Allegro
Adagio
Allegro

Georg Philipp Telemann
Nouveau Quatuor ("Pariser Quartett") Nr. 2 a-Moll
für Flöte, Violine, Viola da Gamba und Basso continuo
Allegrement
Flatteusement
Légèrement
Un peu vivement
Vite
Coullement

Pause

Jean Marie Leclair (1697-1764)
Deuxième Récréation de musique op. 8
für zwei Flöten/Violinen und Basso continuo
Ouverture (Gravement-Légèrement-Lentement)
Forlane. Point trop vite
Sarabande. Lentement
Menuet - Autre Menuet
Badinage
Chaconne
Tambourin - Autre Tambourin

Ein großer Liebhaber französischer Musik

"Je suis grand Partisan de la Musique Fran¸oise, je l'avoue." - Er gestehe, ein großer Liebhaber der französischen Musik zu sein, hatte Georg Philipp Telemann im November 1718 von Frankfurt am Main aus dem Hamburger Musikpublizisten Johann Mattheson geschrieben. Auf Französisch, der seinerzeit gängigen Konversationssprache unter den Gebildeten in deutschen Landen. Denn seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts war hier Französisches zur Mode geworden, ließ im einheimischen Adel jeder die Repräsentationsmöglichkeiten seiner Herrschaft an Ludwig XIV. und seinem prächtigen Versailles messen, von der Gestaltung des Residenzschlosses bis zur perückengekrönten Uniform der Lakaien. Eine Bewegung, die auch auf die freien, patrizisch verwalteten Städte abfärbte, in denen sich zur selben Zeit - Ironie der Geschichte - mit den vertriebenen Hugenotten Opfer des französischen Absolutismus ansiedelten und auf ihre Art ein wenig vom Lebensstil ihres Heimatlandes vermittelten.

Die nach Berlin größte französische Kolonie im hugenottenfreundlichen Kurfürstentum Brandenburg bildete zum Ende des 18. Jahrhunderts Telemanns Geburtsstadt Magdeburg. Das wird dem wenige Jahre alten Knaben zwar kaum Einsichten in die französische Musikkunst vermittelt haben, aber wohl erste Eindrücke der anderen Sprache und Kultur; und vielleicht hat es auch seine Weltoffenheit gefördert. Die Gymnasialzeit in Hildesheim gab dem Heranwachsenden dann Gelegenheit zu Exkursionen nach Hannover. Neben der allerorts geschätzten italienischen Instrumentalvirtuosität goutierte man dort, in der Hofkapelle des Schlosses Herrenhausen, mit Vorliebe die abgemessen-eleganten Ensemblewerke Jean-Baptiste Lullys und seiner Gefolgsleute. Für Telemann sollte diese in ihren musikalischen Komponenten so fein austarierte, mit ihrem Verzicht auf Extreme eine besondere Eleganz und Noblesse verströmende Kompositions- und Musizierweise zeitlebens zu einem wesentlichen Element seines eigenen Stils werden. Die oft als Antipoden verstandenen Charakteristika der italienischen und französischen Musik, ebenso aber die gedankenschwer anmutende und damals schon mit deutschem Gemüt assoziierte Komplexität kontrapunktischer Künste, schließlich die rhythmisch exzentrische und melodisch exotische Volksmusik aus Polen und Mähren vermochte er in seinen Werken zu etwas unverwechselbar "Telemannischem" zu verbinden - unterhaltsam und anspruchsvoll zugleich.

Beste Gelegenheit dazu, Unterschiedlichstes kompositorisch zu vereinen, bot ihm die Ouvertürensuite, eine (wie der Name verrät) genuin französische Form, die sich in den ersten Dekaden des 18. Jahrhunderts in Deutschland größter Beliebtheit erfreute. Hervorgegangen war sie aus der Praxis, die pompöse Eröffnung und die ursprünglich getanzten Zwischenmusiken einer Oper als geschlossene instrumentale Satzfolge darzubieten, deren Reiz nicht zuletzt im Affekt-Kontrast der einander ablösenden Sätze bestand. Inzwischen als Instrumentalgattung selbständig geworden, bot die Ouvertürensuite nun phantasievollen Komponisten ein uneingeschränktes Experimentierfeld für ungewöhnliche musikalische Einfälle satztechnischer oder instrumentatorischer Natur, die aus Gründen ästhetischer Ausgewogenheit meist in die behütende Nachbarschaft gemessener aristokratischer Tanzformen wie Menuett, Sarabande, oder Chaconne gestellt wurden.

Einen ersten Höhepunkt im Ouvertürenschaffen Telemanns stellt seine Dienstzeit beim Grafen Erdmann von Promnitzau zwischen 1705 und 1708 dar. Der war gerade aus Paris zurückgekehrt und stand ganz unter dem Eindruck der dort gehörten Ouvertürensuiten - zum Teil hatte er sie auch in Notenform in seinem Reisegepäck mit nach Deutschland gebracht. Aber weder des Grafen Residenz Sorau noch das thüringische Eisenach, wo Telemann in der Folgezeit die Hofkapelle Herzog Johann Wilhelms einrichten half, wurden deswegen zu rein französisch geprägten Kultur-Enklaven: der deutsche "vermischte" Kunstgeschmack liebte es, sich am Kontrast der Stile zu reiben; entsprechend reizte Telemann die Synthese aus (französischer) Ouvertürensuite und (italienischem) Concerto. Sein Concerto da camera g-Moll ist ein treffliches Beispiel dafür, das zeigen schon allein die Satzbezeichnungen: Ein agiler Allegro-Beginn und eine expressive Siciliana lassen als dritten Satz eigentlich einen abschließendes feuriges Allegro erwarten. Telemann fügt aber mit einer beschwingten Bourée und einem grazilen Menuett zwei typische französische Suiten-Sätze an; auch ist allen vier Sätzen - ganz im Gegensatz zum konventionellen Konzert - die Tonart und das thematische Material des Anfangs gemeinsam.

Dieses souveräne, geistreiche Spiel mit den Formen und Stilen spiegelt Telemanns künstlerische Originalität. Zu seinem außergewöhnlichen, an Popularität grenzenden Ruhm trug aber vor allem bei, dass er seine Kunst der interessierten Öffentlichkeit zugänglich machte: Nahezu vier Dutzend Musikdrucke mit eigenen, vor allem kammermusikalischen Werken gab Telemann in seinen Jahren als Musikdirektor Frankfurts und Hamburgs zwischen 1715 und 1740 im Selbstverlag heraus. Dass er damit bald sogar in Paris zu den musikalischen Größen zählte, obwohl man sich an der Seine gemeinhin von deutschen Musikern nichts Gutes versprach, lässt allerdings heute noch staunen: Unter den Subskribenten seiner 1733 veröffentlichten "Musique de Table" finden sich zum Beispiel 20 Franzosen (davon 18 aus Paris), die zusammen 33 Exemplare bestellten - damit ging jedes sechste der gedruckten Exemplare der umfangreichen "Tafelmusik" nach Frankreich! Auch kursierten in den 1730er Jahren mindestens fünf seiner Kammermusik-Veröffentlichungen in Pariser Nachdrucken, der größte Teil davon in Editionen des Verlegers Charles-Nicolas Le Clerc. Der hatte dafür seit 1736 ein königliches Druckprivileg in Händen - keineswegs aber eine Autorisierung des Komponisten. Als dieser sich dann im Herbst 1737 einen lange gehegten Wunsch erfüllte und von Hamburg aus nach Paris aufbrach, ging es ihm offenbar darum, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, die Bildungsreise mit der Geschäftsreise:

"Meine längst-abgezielte Reise nach Paris, wohin ich schon von verschiedenen Jahren her, durch einige der dortigen Virtuosen, die an etlichen meiner Wercke Geschmack gefunden hatten, war eingeladen worden, erfolgte um Michaelis, 1737. und wurde in 8. Monathen zurück geleget. Daselbst ließ ich, nach erhaltenem Königl. Generalprivilegio auf 20 Jahr, neue Quatuors auf Vorausbezahlung und 6. Sonaten, die durchgehends aus melodischen Canons bestehen, in Kupffer stechen. Die Bewunderungs-würdige Art, mit welcher die Quatuors von den Herren Blauet, Traversisten; Guignon, Violinisten; Forcroy dem Sohn, Gambisten; und Edouard, Violoncellisten, gespielet wurden, verdiente, wenn Worte zugänglich wären, hier eine Beschreibung. Gnug, sie machten die Ohren des Hofes und der Stadt ungewöhnlich aufmercksam, und erwarben mir, in kurtzer Zeit, eine fast allgemeine Ehre, welche mit gehäuffter Höflichkeit begleitet war."

Telemanns Paris-Reise, hier auszugsweise in seinen 1740 von Mattheson übermittelten Worten skizziert, wurde zu einem künstlerischen Triumph, der sich nicht zuletzt am Erfolg der "Nouveaux Quatuors en Six Suites" messen ließ, jenen von Telemann in Paris bei Le Clerc veröffentlichten Sonaten für drei konzertierende Instrumente und Generalbass. Sie wurden von den genannten königlichen Musikern Michel Blavet, Jean-Pierre Guignon, Jean-Baptiste Antoine Forqueray und Edouard begeistert aufgenommen, deren individuelle Qualitäten Telemann bei der Komposition wohl berücksichtigt hatte - ebenso aber von den musikfreudigen adeligen und bürgerlichen Salons. Wieder hatte Telemanns musikalische Sprache den Nerv des Publikums getroffen, und wieder war es die Ouvertürensuite, deren formale Variabilität ihn zur Modellierung seiner fließend-leicht anmutenden und doch bis ins Detail anspruchsvoll ausgearbeiteten Kompositionen gedient hatte. 1739 kommentierte Mattheson in seiner Schrift "Der Vollkommene Capellmeister" Telemanns Frankreich-Aufenthalt mit den Worten: "Ob jener seine Pariser Reise zum lernen oder lehren angestellet gehabt, stehet im Zweifel. Ich glaube mehr zum letzten, als ersten Zweck." Telemann, Neuem und Andersartigem gegenüber allezeit aufgeschlossen, ging es bei seinem Paris-Aufenthalt aber sicherlich auch um das Kennen-Lernen. Bunt-schillernd stellte sich die Musikszene dort Ende der 1730er Jahre jedenfalls dar. Denkbar, dass es den mit allen Wassern der bürgerlichen Oper Hamburgs gewaschenen Musiker auch reizte, einen Charakter wie Michel Corrette zu erleben, der die Theater der tendenziell subversiven Opéra-comique mit konzertanten Zwischenmusiken über beliebte Chanson- und Vaudeville-Themen versorgte. Spätestens seit 1737 war er aber auch als Organist der Kirche Sainte-Marie du Temple tätig. Erfahrungen aus beiden Wirkungsstätten (vielleicht auch eine Begegnung mit Telemann?) mögen ihm Inspirationen für sein wahrscheinlich 1742 erstmals veröffentlichtes Concerto "Le Noël Allemand" über das lutherische Weihnachtslied "Lob Gott, ihr Christen, alle gleich" gegeben haben.

Als Telemann in Paris eintraf, war allerdings der seinerzeit bedeutendste französische Violinspieler gerade in Richtung Niederlande abgereist: Jean-Marie Leclair, der nach Kompetenzstreitigkeiten mit seinem Rivalen Guignon den Dienst in der königlichen Kapelle quittiert hatte und nun am Hof der Oranier-Prinzessin Anne sein Auskommen fand. Erst 1743 sollte er sich wieder dauerhaft in Paris niederlassen. Seine "Deuxième Récréation de Musique" op. 8 wurde gleichwohl in der französischen Hauptstadt gedruckt und erschien dort wahrscheinlich 1737. Sie stellt nicht nur zeitlich ein Pendant zu Telemanns "Pariser Quartetten" dar. Auch hier entfaltet sich ein Musiker im vermischten Geschmack, ein Franzose, der in Italien auf der Violine ausgebildet worden war. Und auch ihm dient dazu als trefflich geeignete Gattung die kammermusikalisch besetzte Ouvertürensuite.

behe

Mitwirkende

Camerata Köln
Michael Schneider - Blockflöte, Traversflöte
Karl Kaiser - Traversflöte
Sabine Lier - Violine
Verena Schoneweg - Violine
Julianne Borsodi - Violoncello, Viola da gamba
Sabine Bauer - Cembalo

Mehr zur Camerata Köln in unserer Musikerdatenbank und auf ihrer Homepage (externer Link)