Saison 2006/2007: Konzert 3

Sonntag, 19. November 2006 17 Uhr Trinitatiskirche [!]

Lübecker Abendmusik

Dietrich Buxtehude La Capella Ducale | Musica Fiata Ltg. Roland Wilson Musica fiata Sendung im Deutschlandfunk am 28.11.2006

Bach, Händel und Mattheson pilgerten nach Lübeck in die örtliche Marienkirche, um sich von Dietrich Buxtehudes Orgelkünsten, aber auch von seinen Vokalwerken verblüffen und inspirieren zu lassen. Die von Roland Wilson ausgewählten Kantaten und Motetten leben von arioser Liedhaftigkeit, den wirkungsvollen Instrumentalritornellen und einer intim-anmutigen Expressivität. Mit seinen beiden Alte-Musik-Ensembles La Capella Ducale und Musica Fiata Köln erweckt Wilson zudem mit dem »Benedicam Dominum« jenes Werk authentisch und klangüberwältigend zu neuem Leben, für das Buxtehude damals die sechs Vokal- und Instrumentalgruppen auf die Emporen der Marienkirche verteilt hat.

Programmfolge

Dietrich Buxtehude (1637-1707)
Lübecker Abendmusik

Wie wird erneuet, wie wird erfreuet BuxWV 110
für 2 Soprane, Alt, 2 Tenöre, Bass,
2 Violinen, 2 Violen, Dulzian, 3 Zinken, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Cymbalom und Basso continuo
Text...

Gott hilf mir BuxWV 34
für 2 Soprane, Alt, Tenor, 2 Bässe,
2 Violinen, 2 Violen, Dulzian und Basso continuo
Text...

Ihr lieben Christen, freut euch nun BuxWV 51
für 2 Soprane, Alt, Tenor, Bass,
3 Violinen, 2 Violen, Dulzian, 3 Zinken, 2 Trompeten, 3 Posaunen und Basso continuo
Text...

Pause

Mein Gemüt erfreuet sich BuxWV 72
für Sopran, Alt, Bass,
4 Violinen, Dulzian, 2 Zinken, 2 Trompeten, 3 Posaunen und Basso continuo
Text...

Wo soll ich fliehen hin? BuxWV 112
für Sopran, Alt, Tenor, Bass,
2 Violinen, 2 Violen und Basso continuo
Text...

Herr, ich lasse dich nicht BuxWV 36
für Tenor, Bass,
2 Violinen, 2 Violen, Violone und Basso continuo
Text...

Benedicam Dominum BuxWV 113
für 6 Chöre: 2 Soprane, Alt, Tenor, Bass; Cappella: Sopran, Alt, Tenor, Bass;
2 Violinen, Violone; 2 Zinken, Dulzian; 3 Posaunen; 4 Trompeten, Posaune, Pommer;
Basso continuo
Text...

Vom Glanz hanseatischer Kirchenkonzerte

»Daß in einigen Jahren her, annoch die gewöhnlichen, auch von Dero Hochlöblichen Vorfahren aus E E Hochw Rath, und der Ehrliebenden Burger- und Kauffmanschafft, hieselbst angeordneten Serenaden, oder Abend-Musicen, in der Kirchen S. Marien, bis dato beybehalten worden, solches habe ich meines Ortes nebst viel andern Music-Libenden, negst Gott dem Allerhöchsten, Deroselben hohen assistenz,und liberalitet, alß welche darzu ein Merckliches contribuiret hat, billig zu dancken...«

So formuliert es Dietrich Buxtehude, Organist der Marienkirche in der Hansestadt Lübeck, in einem Brief vom 12. April 1699 an die städtische Kaufmannschaft. Für die finanzielle Unterstützung bei der Ausrichtung seiner »Abendmusiken« war er den kunstsinnigen Patriziern wahrhaft zu Dank verpflichtet, denn eigentlich gehörten sie gar nicht zu seinem direkten Aufgabenbereich, sondern waren eine freiwillige künstlerische Leistung. Sein Vorgänger Franz Tunder hatte mit dieser Tradition begonnen, als er nach dem Vorbild der Amtskollegen in Amsterdam und Kopenhagen die Geschäftleute Donnerstag abends, wenn sie auf die Eröffnung der Börse warteten, zunächst mit Orgelspiel unterhielt, dann, ermutigt durch den regen Zuspruch seiner Konzerte, bald auch mit geistlicher Musik für einige Vokalstimmen und Streicher. Buxtehude war nach dem Tod Tunders im Frühjahr 1668 als etwa 30-jähriger ambitionierter Organist aus dem dänischen Helsingør nach Lübeck gekommen. Er entwickelte nicht nur einen modernen, selbstbewusst-experimentellen Orgel-Stil am dreimanualigen, zuletzt zwischen 1637 und 1641 von Friedrich Stellwagen überholten Instrument der Marienkirche, er wertete auch die Abendmusiken in Form und Inhalt entscheidend auf. Sie fanden unter seiner Ägide regelmäßig als Sonntagnachmittagskonzerte in den letzten Herbstwochen statt, spätestens seit 1684 vom vorletzten Sonntag des Kirchenjahres bis zum Sonntag vor Weihnachten, den 1. Advent ausgenommen. Buxtehude stellte bei diesen Gelegenheiten auch in Fortsetzung musikdramatische Werke geistlichen Inhalts vor, aufwändig dargeboten von einer bis zu 40 Köpfe zählenden Musikerschar. Dies bemerkenswerterweise erstmals im Jahr 1678, als im benachbarten Hamburg die weltliche Oper am Gänsemarkt ihre Pforten öffnete. Die Hochzeit des Lamms und die freudenvolle Einholung der Braut zu derselben, Himmlische Seelenlust auf Erden über die Menschwerdung und Geburt unsers Heilandes Jesu Christi oder Das Allererschröcklichste und Allererfreulichste, nemlich Ende der Zeit und Anfang der Ewigkeit - so lauten Textbuch-Titel der von Buxtehude damals komponierten Oratorien; sie nehmen auf die endzeitlichen und weihnachtlichen Themen Bezug, wie sie auch für die Lesungen der betreffenden Sonntage im Kirchenjahr charakteristisch sind. Ihre Musik ist offenbar sämtlich verschollen; nur in der anonym überlieferten Komposition »Wacht! Euch zum Streit gefasset macht« könnte uns eine solche opernhafte Abendmusik aus Buxtehudes Feder erhalten geblieben zu sein.

Andererseits präsentierte Buxtehude in seinen Abendmusiken aber auch solche Kompositionen, die er ursprünglich für seinen üblichen sonn- und feiertäglichen Dienste komponiert hatte. Denn neben der pflichtgemäßen Begleitung der Liturgie durch Orgelspiel in den Hauptgottesdiensten und Vespern an Sonn- und Feiertagen bzw. an deren Vorabenden machte er offenbar gerne von der Möglichkeit Gebrauch, während der Austeilung des Abendmahls von der Orgel und den benachbarten Seitenemporen aus mit Sängern und städtischen Instrumentalisten geistliche Ensemblemusik zu musizieren. Dazu erwirkte er schon kurz nach seinem Amtsantritt die Errichtung zweier zusätzlicher Seitenemporen neben den vier bereits vorhandenen (die vokal-instrumentale Predigtmusik erklang dagegen unter der Leitung des Kantors Jacob Pagendarm mit den Chorknaben der Katharinenschule von der Empore des Lettners aus).

Aus dem Jahr 1700 ist für die Abendmusiken eine Programmzusammenstellung mit verschiedenen geistlichen Vokalkompositionen belegt, in denen Lob- und Dank-Texte, aber auch Bittgebete aus der Bibel, aus Gesangbüchern und weiterem Erbauungsschrifttum vertont waren. Buxtehudes Gönner hatten auf den eingangs zitierten Brief offenbar nicht mit solcher Spendenfreude reagiert, dass er sich in diesem Jahr den gewohnten opernähnlichen Aufwand an Material und Personal hätte leisten können.

Die beiden Hälften des heutigen Programms entsprechen in Umfang und Inhalt jeweils einer solchen vielgestaltigen Lübecker Abendmusik mit »ordinären« Kirchenmusiken, die in ihrer Mehrheit wohl aus den 1680er Jahren stammen. Sie bestechen zunächst einmal durch den Reichtum der Formen: Bibelwort-Vertonungen in konzertierender Anlage, die wortgeprägt motettischen Kontrapunkt und virtuoses Motivspiel in kombinationsreichem Wechsel bietet; feinsinnig austarierte Arien-Gebilde als perfekte Musikalisierung von Texten in Odenform; Choralbearbeitungen, in denen der altehrwürdige Cantus firmus bald in einer Singstimme, bald als Instrumentalzitat hervorsticht. Manchmal hält sich Buxtehude strikt an eines dieser Formmodelle, um ein ganzes Werk zu gestalten, häufiger aber kombiniert er sie alle zu komplexen Satzfolgen, die dann durch musikalische Konstanten wie Instrumentalritornelle, rahmende Chöre oder gleichbleibende Begleitschemata zu einer größeren Einheit finden. Hinzu kommt eine abwechslungsreiche Besetzung der Kompositionen: von einer einfachen Dialogstruktur mit zwei Stimmen, Streichern und Basso continuo (»Herr, ich lasse dich nicht« BuxWV 36) über nur im Vokalen reichere Besetzungen (»Gott, hilf mir« BuxWV 34, »Wo soll ich fliehen hin« BuxWV 112) bis zur mehrchörigen Disposition mit reicher Bläserausstattung durch Zinken, Posaunen und Trompeten. Den Gipfelpunkt dessen bildet das lateinischen Psalmkonzert »Benedicam Dominum« BuxWV 113. Hier entfalten ein fünfstimmiger Solo- und ein vierstimmiger Cappella-Vokalchor sowie vier Instrumentalchöre, die sich auf die sechs Seitenemporen der Marienkirche verteilen ließen, ein überwältigend vielschichtiges Klanggebilde über dem Basso continuo.

Die Wirkung der opulenten opernhaften Abendmusiken auf die Zuhörer lässt sich aber nicht nur in der schieren Klangpracht der Vokalkonzerte erahnen, sondern ebenso in den Momenten dramatischer Textintensität, wie sie Buxtehude beispielsweise im dichten Dialog zwischen Gott und Jakob aus »Herr, ich lasse dich nicht« gelingen oder am Beginn von »Gott hilf mir« im Wechselspiel zwischen Vokalstimme und Streichern. Und dem Klangästheten bietet Buxtehude mit Details wie der Beteiligung eines hier als Cymbalon bezeichneten Hackbretts in der poetischen Oden-Vertonung »Wie wird erneuet« BuxWV 110 oder des archaisch anmutenden Basspommers in der lateinischen Psalmvertonung »Benedicam Dominum« weitere musikalische Reize.

Mancher Musiker der jüngeren Generation pilgerte um 1700 nach Lübeck, zunächst, um Buxtehudes extravagantes Orgelspiel zu hören und sich daran zu schulen. So im Sommer 1703 von Hamburg aus Georg Friedrich Händel gemeinsam mit Johann Mattheson, im Herbst 1705 von Arnstadt aus Johann Sebastian Bach. Alle drei hatten gute Chancen auf die Amtsnachfolge des damals auf das 70. Lebensjahr zugehenden Marienorganisten, ließen sich aber von der damit verbundenen Bedingung abhalten, dessen älteste Tochter zu ehelichen. Bach kam mit beachtlicher Verspätung erst im Februar 1706 vom jenem eigentlich nur für vier Wochen gewährten Bildungsurlaub zurück nach Thüringen, denn er hatte in Lübeck nicht nur die Orgelkunst Buxtehudes studiert, sondern auch dessen »extraordinäre« Abendmusiken am 2. und 3. Dezember 1705 erlebt – vielleicht sogar als einer der mitwirkenden Instrumentalisten: die Trauermusik Castrum doloris zum Tod Kaiser Leopolds I. und die Jubelmusik Templum honoris zur Thronbesteigung Josephs I. Welchen Eindruck sie auf Bach gemacht hatten, zeigte seine eigene prachtvoll mehrchörige Ratswahlmusik »Gott ist mein König« BWV 71, die er im Februar 1708 als Organist der Freien Reichsstadt Mühlhausen komponierte.

Wenn in Lübeck auch die Abendmusiken noch bis 1810 weiterbestanden: Nicht Buxtehudes Amtsnachfolger, sondern der kurzzeitige Lübecker Meisterschüler Bach aus Thüringen wurde zum Erbe seiner kompositorischen Phantastik – und bewahrte sie auch im Zuge jener Reform, die kurz nach Buxtehudes Tod die opernhaften Formen Rezitativ und Da-capo-Arie als kirchenmusikalische Standards etablierte.

behe

Mitwirkende

La Cappella ducale
Monika Mauch, Stephanie Petit-Laurent, Karolina Brachman, Rannveig Sigurdardottir - Sopran
Werner Buchin, Arnon Zlotnik - Alt
Markus Brutscher, Immo Schröder - Tenor
Wolf Mathias Friedrich, Ulrich Maier - Bass

Musica fiata
Anette Sichelschmidt, Christine Moran - Violine
Christiane Volke, Andreas Pilger - Violine, Viola
Frithjof Smith, Arno Paduch, François Petit-Laurent - Zink
Hannes Rux, Almut Rux, Ute Hartwich, François Petit-Laurent - Trompete

Ltg. Roland Wilson