Saison 2011/2012: Konzert 7
Seitenweise Saitenweisen
Europäische Barockmusik für Salterio, Harfe, Laute und Barockgitarre Elisabeth Seitz | Johanna Seitz Stefan Maass | Stephan Rath Sendung auf WDR 3 am 2.5.2012Anmutige Lieder aus dem elisabethanischen England, eine elegante Suite für die 24 Violinisten des französischen Sonnenkönigs und temperamentvolle Tänze aus Spanien und seinem italienischen Vizekönigtum Neapel: gleich »seitenweise Saitenweisen« des 16. und 17. Jahrhunderts aus verschiedenen Ecken Europas hat der Lautenist Stephan Rath zusammengetragen, um sie nach den historischen Vorbildern der Whole Consorts, Entrées des luths und Cori dei liuti gemeinsam mit dem Barock-Gitarristen Stefan Maass sowie den Schwestern Elisabeth und Johanna Seitz an Salterio und Harfe für den heutigen Hörer wiederzuentdecken.
Programmfolge
Liebliche Resonanzen und schöne Effekte
»Einen Lauten-Chor nenn ich, wenn man Clavicymbel oder Spinetten, Theorben, Lauten, Bandoren, Orpheoreon, Cithern, eine große Bass-Lyra, oder was und so viel man von solchen und dergleichen Fundament-Instrumenten zuwege bringen kann, zusammenordnet. Welcher Chor […] ein Englisch Consort ist genennet worden und wegen Anrührung der vielen Saiten gar ein schönen Effectum machet und herzlichen, lieblichen Resonanz von sich gibt.«
Die Zupfinstrumente spielten in der Kunstmusik früherer Zeiten eine wesentlich größere Rolle als man heute gemeinhin annimmt. Ein Gewährsmann dafür ist der herzoglich-braunschweigische Hofkapellmeister Michael Praetorius. Im dritten Teil seines Traktats Syntagma musicum von 1619 findet sich das voranstehende Zitat. Praetorius wusste, wovon er sprach. Weit herumgekommen war er im Deutschen Reich im Gefolge seines Herzogs Heinrich Julius auf Fürsten- und Reichstagen. Bei solchen Gelegenheiten war es einfach, sich mit italienischen Musikerkollegen auszutauschen, wie sie vor allem in den Diensten der süddeutschen Territorialherren standen. In Wolfenbüttel selbst lernte er französische Musik aus erster Hand kennen, u.a. durch den zum Gastspiel weilenden Pierre Francisque Caroubel, einen Pariser Hofgeiger italienischer Herkunft. Im Winter 1594/1595 wird ein anderer musikalischer Gast auf den noch jungen Praetorius besonderen Eindruck gemacht haben: Damals traf aus London der englische Meisterlautenist John Dowland am Hof des für seinen Kunstsinn offenbar europaweit bekannten Braunschweiger Herzogs ein.
Auch sonst gibt es eine Unmenge textlicher und ikonographischer Zeugnisse aus der Historie, aus denen man ersehen kann, dass seinerzeit viele Arten von Zupfinstrumenten regelmäßig zusammenspielten. Im heutigen Konzert finden sich einige davon wieder zum Consort zusammen: Da ist das Psalterium - zu Deutsch: das Hackbrett, für das sich sogar obligate Partien in barocken Opernarien erhalten haben, während man es heute eigentlich ausschließlich noch mit der bayerischen Stubenmusik und der Volksmusik des Balkans verbindet. Die Harfe, hier in Form einer Arpa doppia mit zwei Saitenreihen, war im 16. und 17. Jahrhundert sowohl als Solo- wie auch als Continuoinstrument sehr beliebt. Die barocke Gitarre weist kleinere Korpus-Abmessungen auf als eine moderne Gitarre, hat aber wesentlich mehr Saiten und ist auch etwas anders gestimmt. Sie diente und dient nicht zuletzt als Rhythmuselement des Ensembles. Die kleine Knickhalslaute hat dagegen eher eine melodische Funktion, während die Theorben oder Chitarronen als größere Instrumente der Lautenfamilie über die normalen Saiten hinaus weitere, sehr lange Saiten aufweisen, die als Bässe nicht nur mitschwingen, sondern auch gespielt werden.
Im Gegensatz zu den historischen Beschreibungen existiert aber keine Komposition, die speziell für solch eine Consort-Besetzung geschrieben wurde. Im Gegenteil schwingt im Begriff des Consorts eine vielleicht nicht beliebige, aber doch in den einzelnen Positionen austauschbare Besetzungsweise mit. So erklingen die Werke auch heute nach alter Praxis in Arrangements, die zum Teil schriftlich fixiert sind, zum Teil aber auch in jeder Aufführung spontane Änderungen erfahren können - das in den Noten überlieferte Opus stellt also klanglich ein „Work in Progress“ dar. Historische Bearbeitungen von Vokalstücken für Lautenensemble zeigen, wie man dabei praktisch vorging: Die erste Laute übernahm Ober- und Bassstimme der Vorlage und füllte den Tonraum dazwischen durch Akkorde aus. Nicht anders verfuhren die zweite Laute mit Alt- und Bass- sowie eine dritte Laute mit Tenor- und Bassstimme, während die Basslaute die tiefste Partie und darüber ergänzende Akkorde spielte. So entstand jener „schöne Effekt“ der „herzlichen, lieblichen Resonanz“, von der Praetorius spricht. Nur vereinzelt sind die Instrumente des Quartetts dagegen auch einmal einstimmig zu hören.
Das heutige Programm gliedert sich in vier Teile, die als suitenartige Einheiten konzipiert sind und verschiedene Zeiten und Stilbereiche der barocken Musik für Zupfinstrumente vorstellen. Da ist einmal die englische Musik aus dem so genannten „Goldenen Zeitalter“ zwischen etwa 1550 und 1625, während der Regenschaft Elisabeths I. und Jakobs I. Die zentrale englische Musikerpersönlichkeit dieser Zeit ist John Dowland. Mit dem inhaltsreichen Sprachspiel „Semper Dowland semper dolens“ („Immer Dowland, immer betrübt“) überschrieb der englische Katholik selbst eine seiner bekanntesten elegischen Pavanen. Sie erschien 1604 in seiner auf eigene Kosten gedruckten Sammlung Lachrimae, or Seven Teares als Fassung fürs instrumentale Consort, sie zirkulierte aber auch als Lautenversion. Das Stück spiegelt jenen bittersüßen Zustand der Melancholie, wie er sich in dieser Zeit offenbar besonders in England zu einer Art Modekrankheit auswuchs. Thomas Morley, seit 1589 Organist an der Londoner St. Paul’s Cathedral und seit 1592 Mitglied der königlichen Kapelle, veröffentlichte 1599 ein erstes Booke of Consort Lessons, in dem sich u.a. Arrangements von Liedern und Tänzen Dowlands und seines Lauten-Kollegen Richard Allison finden.
Für die Beliebtheit Dowlands im allgemeinen und seiner Lachrimae-Komposition im besonderen spricht die Bearbeitung durch den deutschen Geiger Johann Schop, der seit Ende 1621 der Hamburger Ratsmusik vorstand. Seine Lachrimae-Fassung für Ensemble findet sich in einer Sammlung namens ’T uitnement Kabinet, die Mitte des 17. Jahrhunderts in Amsterdam erschien. Einer weiteren englischen Edition, den Lessons for Consort des englischen Hoflautenisten Philip Rosseter, ist die Galliarde seines Kollegen John Baxter über das Stück »Sacred End« entnommen. Sie wiederum scheint auf eine gleichnamige Pavane von Thomas Morely zurückzugehen - Netzwerke und »Copy and paste«-Verfahren sind also wahrlich keine Erfindungen unserer Zeit.
In Frankreich, der zweiten Station des Programms, erfreuten sich bei den rauschenden höfischen Festen die entsprechenden Klänge der Entrées de Luth, Auftritten eines ganzen Zupforchesters, größter Beliebtheit. Nach Consort-Manier bediente sich ein solches Ensemble am französischen Hof des Repertoires der 24 Violons du Roy, der königlichen Streicher-Elite. Aber nicht nur in Paris kannte und schätzte man dieses Repertoire. Eine umfangreiche Kopie mit Tanzsätzen vom französischen Königshof aus der Zeit zwischen 1640 und 1670 fand zeitnah Eingang in die Notenbibliothek des hessischen Landgrafen in Kassel. Wie damals, so bildet sie auch heute die Grundlage einer Suite, die Liedhaftes und Ballettmusiken wirkungsvoll verbindet.
Die spanische Musik rechnet mit starken improvisatorischen Elementen, da sie in Formen wie den Follias, Chaconnen, Passacaglien und Canarios überwiegend auf ostinaten, also immer wiederkehrenden Bassformeln aufgebaut ist. Im heutigen Programm wird dieses Repertoire zunächst durch neapolitanische Musiker repräsentiert. Neapel stand im 16. und 17. Jahrhundert als Vizekönigreich unter der Herrschaft Spaniens, was der Stadt eine besondere kulturelle Blüte bescherte. Im reichen Schatz der neapolitanischen Barockmusik vermischt sich Höfisches und Volkstümliches, Spanisches und Italienisches zu einem glänzenden Amalgam der Formen und Stile. Den Reigen der in Süditalien tätigen Musiker eröffnet Bartolomeo Montalbano mit einer launischen Sinfonia, die er mit dem Beinamen »Der Eifersüchtige« versehen hat. Sie erschien 1629 gemeinsam mit einer Reihe weiterer Instrumentalsätze in Palermo, wo Montalbano damals als Kapellmeister der Franziskanerkirche wirkte. Den Neapolitaner Antonio Falconieri führten Wanderjahre u.a. nach Parma, Rom, Florenz, Wien, Venedig und auch mehrere Jahre nach Spanien, bevor er 1639 als Lautenist in die Real Capella seiner Heimatstadt eintrat und 1648 an deren Spitze rückte. Die »süße Melodie« aus seiner Feder, die heute erklingt, entwickelt sich allmählich zum temperamentvollen Tanz. Die Gagliarda neapolitana des blinden Organisten an San Angelo à Nido, Antonio Valente, findet sich in einem Sammeldruck von 1576, der bezeichnenderweise nicht in der italienischen, sondern in einer Variante der spanischen Orgeltabulatur notiert ist.
In Spanien selbst erschien seit dem 17. Jahrhundert eine Reihe von Lehrschriften samt Repertoirekostproben für die klassischen Begleitinstrumente der Zeit. So publizierte Gaspar Sanz, der als Gitarrist in Neapel ausgebildet worden war, 1674 in Madrid mit seiner Instrucción de música sobre la guitarra española die erste Gitarrenlehre; drei Jahre später folgte Lucas Ruiz de Ribayaz mit seinem Luz y norte musical, das neben der Gitarre auch die Harfe berücksichtigt. Im Compendio numeroso, den der Harfenist Diego Fernandez de Huete sukzessive 1702 und 1704 veröffentlichte, bringt sich auch das spanische Vizekönigtum am Fuße des Vesuvs noch einmal nachdrücklich in Erinnerung - so in Gestalt jener impulsiven Tarantella, die das heutige Programm beschließt.