Saison 2013/2014: Konzert 4

Sonntag, 15. Dezember 2013 17 Uhr Trinitatiskirche

Häretische Engel

Musikalische Rituale und Volkstraditionen des mittelalterlichen Bosnien-Herzegowina Dialogos | Kantaduri Dialogos/Kkantaduri Sendung auf WDR 3 am 16. Januar 2014

Das mittelalterliche Bosnien-Herzegowina überrascht mit einer Vielfalt von religiösen Traditionen: Da gab es Katholiken und Orthodoxe, den Katharern nahestehende Häretiker, aber auch Juden und Muslime. Ihre Riten sind noch in mystischen Manuskripten lateinischer, kyrillischer und glagolitischer Herkunft lebendig, aber auch in mündlichen Traditionen und Gesängen. Gemeinsam mit Interpreten der Volksmusik, darunter einer der jüngsten Epensänger Herzegowinas, begibt sich das Mittelalter-Ensemble Dialogos um Katarina Livljanić auf die musikalische Suche nach dem Verbindenden in dieser von Krieg und Hass gezeichneten Region.

Programmfolge

Si kamin Grabstein-Inschrift aus Kosor (vor 1411) Glava Hr'stova Geisterbeschwörung in einem Amulett des Heiligen Sisinnius (14./15. Jahrhundert) Iskoni bje slovo Prolog des Johannes-Evangeliums aus dem Radosav-Buch (1444 – 1461) Zašto Gospod Bog satvori sai sviet? Von der Erschaffung der Welt (Bosnien, 14. Jahrhundert) A se leži Bratmio Grabstein-Inschrift aus Peljave (16. Jahrhundert) Zaklinam tebe, prinecisti dusce Exorzismus aus dem Rituale Romanum Illyrica Lingua (1640) Koli že krešten ne budet Exkommunikationsformel aus dem Gesetzbuch des Zaren Stefan Dušan (14. Jahrhundert) Oče naš Das Vaterunser aus dem Radosav-Buch Kad se duša s tilom dili Dialog zwischen einem guten und einem bösen Engel (Tkon, Kloster Cokovac, 1614) O Gospojo uzvišena Gesang der Heiligen Jungfrau von Fra Toma Babić (1726) I znamenie velie Text der Apokalypse aus dem Radosav-Buch Braćo, brata sprovodimo Begräbnisgesang einer Bruderschaft (14. Jahrhundert) Glas veliki trublje ove Gebet für das Jüngste Gericht aus dem Vartal-Kodex (16. Jahrhundert) Dan od gnjiva Totensequenz auf eine Volksmelodie aus Ćemerno Pisma od tašte slave Gedicht von der Vergänglichkeit des Fra Toma Babić (1726) Bože, davno ti sam legao Stah, boga moleći Grabstein-Inschriften aus Bosnien und Herzegowina (14. – 16. Jahrhundert) Si knigi piše Radosav krstienin Epilog aus dem Radosav-Buch Szenario und Text-Adaptionen: Livljanić Musikalische Rekonstruktion: Livljanić und Joško Ćaleta Philologische Beratung: Marinka Simić, Marija Ana Dürrigl Übertitel: Jean-Maire Jobard

Mystische Manuskripte und mündliche Traditionen

Das mittelalterliche Bosnien überwältigt uns mit seinem Reichtum an Traditionen und Religionen. Dort lebten nebeneinander Katholiken, Orthodoxe, christliche bosnische Häretiker, aber ebenso Juden und Musilime. Ihre Texte und Riten sind in Manuskripten lateinischer, kyrillischer, glagolitischer, arabischer und hebräischer Schrift überliefert, aber ebenso in zahlreichen mündlichen Traditionen und im Volksglauben.

Eine erste Idee zu diesem Programm kam mir, als ich die Inschrift eines bosnischen Grabsteins aus dem Mittelalter las: »Ich wollte weiterleben, aber ich konnte es nicht.« Wie sie da in den Stein eines dieser Denkmäler eingemeißelt waren, mit denen die Felder um die Dörfer Bosnien-Herzegowinas gesäumt sind, musste ich an all die Männer und Frauen denken, von denen die Zeitungen in den fünfzehn Jahren sprachen, die der Krieg in Ex-Jugoslawien dauerte. Menschen, die »weiterleben wollten, aber es nicht konnten«, weil jemand anderes das so beschlossen hatte. Und so habe ich beschlossen, diesem Grabstein wieder Leben einzuhauchen und ihn sprechen und singen zu lassen – und um diese herzergreifenden Texte herum ein neues Programm für Dialogos zu schaffen.

Die Recherche-Arbeit hat mich zu anderen Texten geführt, die von mittelalterlichen Grabsteinen (so genannten stećci) aus der Region Bosnien-Herzegowina stammen, zu bosnischen, kroatischen und serbischen mittelalterlichen Manuskripten, zu Zeugnissen der katholischen und der orthodoxen Kirche, aber auch der als häretisch angesehenen bosnischen Kirche.

Diese religiöse Tradition der Bogumilen oder einfacher ausgedrückt: des bosnischen Christentums, wurde durch Katholiken und Orthodoxe oft unerbittlich verfolgt – das Gesetzbuch des serbischen Zaren Stefan Dušan, aus dem wir einen kurzen Auszug interpretieren, sieht für die Mitglieder dieser Kirche schwere Körperstrafen vor. Einige der raren Manuskripte dieser Glaubensgemeinschaft sind erhalten geblieben. Diese apokryphen poetischen Texte haben mich in ihrer direkten und manchmal auch brutalen Expressivität sehr berührt, in der Wesentliches ausgesprochen wird. Aberglaube und heidnische Praktiken blieben zwischen den christlichen Bräuchen erhalten; die Riten und Texte beherbergen ganze Scharen von guten, bösen und gefallenen Engeln und kleine Hausgötter, die in einer Kaminecke wohnen und noch heimlich mit den eingeweihten Großmüttern sprechen. Unter den Texten der bosnischen Kirche sei auch noch das Radosav-Buch hervorgehoben, eines der wichtigsten Schriftzeugnisse dieser Glaubensgemeinschaft, das um die Mitte des 15. Jahrhunderts im kyrillischen Alphabet mit einigen glagolitischen Ergänzungen angefertigt wurde. Wir stellen daraus einen Auszug der Apokalypse und den Prolog des Johannes-Evangeliums vor, der traditionell nach der Geisterbeschwörung gesungen wurde, um ein Kind zur Welt zu bringen; außerdem stammt daraus das Vaterunser und schließlich der kurze Epilog unseres Programms, in dem der Schreiber der Quelle seine Identität verrät.

Es ist auf diese Weise ein Szenario entstanden, in dem sich Gebete, Anrufungen, Exorzismen und Grabstein-Inschriften (die als pointierte Kommentare ähnlich antiken Chören den Vortrag gliedern) mit Meditationen von seltener Kraft und Finesse verbinden (Zašto Gospod Bog satvori sai sviet, eine poetische eigenwillige Vision von der Erschaffung der Welt, geschrieben im Umfeld der bosnischen Christen). Während des langen Entstehungsprozesses dieses neuen künstlerischen Mosaiks auf der Grundlage alter Texte hat sich allmählich das Hauptthema herauskristallisiert: Das Programm basiert auf zwei großen Übergangsriten des menschlichen Lebens, der Geburt und dem Tod. Sie finden ihre Reflexionen in den großen Visionen der Schöpfung und des Weltuntergangs.

Einige der Textquellen überliefern auch Passagen mit musikalischer Notation (allen voran das Rituale Romanum Illyrica Lingua). Sie bilden den Ausgangspunkt, um den musikalischen Teil des Programms zu entwickeln. Die Mehrheit der schriftlichen Quellen dieser Gebete und Anrufungen ist allerdings ohne Musik auf uns gekommen. Als ich mich mit den Musikstilen auseinandersetzte, die zu diesen Texten passen könnten, wurde mir schnell klar, dass die heutigen Arten traditionellen Gesangs in Bosnien-Herzegowina noch Spuren jener archaischen, rauen und substantiellen musikalischen Sprache tragen. Daher war eine umfangreiche Rekonstruktion- und Rekompositions-Arbeit zu leisten, die von den alten Fragmenten und den gebräuchlichen Gesangsformeln der traditionellen Sänger ausgeht.

Auf diesem musikalischen Weg traf das Ensemble Dialogos die traditionellen Musiker um Joško Ćaleta, darunter einer der jüngsten Erben des epischen Gesangs in Herzegowina. Mittelalterliche und traditionelle Musiker verbinden sich jetzt in unterschiedlichen Konstellationen, um die Vielfalt an Farben in diesem ganz besonderen »Labor« zu erkunden. Gemeinsam bringen sie verschollene Wurzeln einer musikalischen Sprache zum Vorschein, deren unterschiedliche Facetten in den mittelalterlichen Manuskripten und weiteren mündlichen Traditionen erhalten sind.

Die berührenden und herben Gesänge zeigen eine Vortragsweise an der Schwelle zum Musiktheater, die das Publikum einlädt, den Riten zu folgen, wie sie von Geburt und Tod, Schöpfung und Ende singen. Die Segensgebete und Verwünschungen, die Anrufungen der Engel, die bei der Geburt eines Kindes helfen, und die Exorzismen böser Geister werfen ein Licht auf Rituale, die von heidnischen Bräuchen durchtränkt sind. Instrumental begleitete Balladen wie Kad se duša s tilom dili, ein unglaublicher Dialog zwischen einem guten und einem bösen Engel, die über das Schicksal einer Seele verhandeln, wechseln mit dissonanten, geradezu schreienden mehrstimmigen Gesängen.

Die Texte der Grabinschriften, durch die die Toten mit den Lebenden sprechen, erscheinen wie ein Aridane-Faden, in dem sich Geburt und Tod ohne Pause gegenseitig befruchten, um Frieden und den Sinn zu suchen auf dieser von den Kriegen verwüsteten Erde, die davon immer noch sichtbare Narben trägt.
Katarina Livljanić

Einige Vokalstücke des Programms wurden nach polyphonen Formen rekonstruiert, die noch immer in der geistlichen und weltlichen Praxis dieser geographischen Region lebendig sind. Ihr musikalischer Stil ist typisch für die traditionellen Weisen im westlichen Herzegowina und dem Hinterland Dalmatiens.

Die Inschriften der Grabsteine werden in einer Gesangsart vorgetragen, die man ganga nennt. Diese Gesangsweise ist eng mit dem Atem verbunden, denn die Länge des Gesangs richtet sich nach dem Atem-Volumen des Vorsängers. Es wird hier zweistimmig gesungen, wobei eine Stimme den Gesang führt, während die anderen Sänger folgen und die Hauptmelodie begleiten und unterbrechen. Die Melodien basieren auf eng begrenzten, repetitiven und mikrotonalen Tonfolgen, die in der Regel chromatisch gestaltet sind. Die Weitergabe dieser Weisen erfolgte früher nur in mündlicher Form vom Lehrer an seine Schüler. Davon haben wir uns bei der Vorbereitung dieses Programms leiten lassen und mit Jure Miloš zusammengearbeitet, einem der jungen Zeugen dieser Tradition, der sie von seinem Großvater erlernt hat.

Neben den rein vokalen Stücken in unserem Programm verbinden sich traditionelle Instrumente aus Dalmatien und Herzegowina mit Instrumenten des Mittelalters: Flöten, Fidel, Rebec, aber auch Dvojnice und Gusle. Dieses Instrument mit nur einer Saite ist typisch für die Begleitung des Epengesangs: Die Singstimme entwickelt zu seinem Ton in einem durchdringenden Register eine einfache Mehrstimmigkeit. Die guslari genannten Epensänger sind Sänger-Dichter, die lange Dichtungen memorisieren und sogar improvisieren und so die Tradition ihrer Vorfahren fortführen.
Joško Ćaleta

Mitwirkende

Katarina Livljanić Dialogos Albrecht Maurer – Fidel, Rebec Norbert Rodenkirchen – Flöten Ltg. Katarina Livljanić – Gesang Kantaduri Nikola Damjanović, Srećko Damjanović, Milivoj Rilov – Gesang Jure Miloš – Gesang, Gusle, Diple, Dvojnice Ltg. Joško Ćaleta – Gesang