Saison 2019/2020: Konzert 2
Musikalische Wege in Europa
Sonaten des 18. Jahrhunderts mit Violoncello und Cembalo Kristin von der Goltz | Christine Schornsheim Sendung auf WDR 3 am 30. Dezember 2019, ab 20:04 UhrLange schätzte man das Violoncello als treuen Bass-Begleiter, dann profilierte es sich nach 1700 zunehmend auch als Solist. Die neue Art des Cellospiels verbreitete sich wie so viele musikalische Novitäten von Italien aus in ganz Europa. In ihrem reizvollen Duo-Programm besuchen die Cellistin Kristin von der Goltz und die Cembalistin Christine Schornsheim London und Paris, München und Hamburg, aber auch das fränkische Schloss Wiesentheid, wohin Antonio Vivaldi Cellosonaten lieferte. Die Reise endet im Madrid Luigi Boccherinis.
Programmfolge
Newcomer mit Tiefgang
Mit dem Aufschwung des Instrumentalspiels im Zuge der großen musikalischen Stilwende um 1600 betraute man bevorzugt die Violine mit der solistischen Darstellung expressiver Melodien, virtuoser Läufe und bizarrster Sprünge. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis auch die tiefen Geigeninstrumente – nicht zuletzt dank technischer Fortschritte in der Saitenherstellung – zu Solo-Ehren kamen. Erst einmal waren sie im Basso continuo engagiert und teilten sich die Begleitaufgaben dort mit Verwandten aus der Gamben-Familie bis hinein in die Kontrabasslage. Als sich eine schlankere Bassgeige mit sonorer Tiefe, aber auch betörend schön klingenden Höhen endlich solistisch profilierte, war man sich in ihrer Benennung noch nicht ganz schlüssig. Das schwingt in ihrem im Laufe des 18. Jahrhunderts etablierten Namen bis heute mit: Violoncello, der „kleine große Streichbass“.
Die reizvollen kammermusikalischen Beispiele des heutigen Programms aus der frühen Solokarriere dieses Instruments führen von Italien aus nach England und Frankreich, Deutschland und Spanien. Denn nicht anders als im Fall der Violine in den 1620er Jahren waren es nach 1700 italienische Ausnahme-Musiker, die das virtuose Solospiel auf dem Violoncello in den Norden Europas trugen.
So traf 1701 der 23-jährige Cellist Nicola Francesco Haym in London ein. Sieben Jahre lang hatte er zuvor neben dem Meistergeiger Arcangelo Corelli in der Privatkapelle des kunstsinnigen römischen Kardinals Pietro Ottoboni gespielt. Dort hatte Haym auch zwei Kompositionen geschrieben, die als Prototyp der Sonate für Violoncello und Basso continuo gelten können. Eine von ihnen eröffnet das heutige Programm: ein kontrastreiches viersätziges Stück in der zweimaligen Folge aus langsamem und schnellem Satz. Bemerkenswert neben der Kürze des Ganzen ist der Wechsel der Grundtonart von a-Moll nach e-Moll zur zweiten Werkhälfte. Schon am Beginn demonstriert Haym seine Fähigkeiten im mehrstimmigen Spiel; die schnellen Sätze rechnen mit virtuosen Griffwechseln und flinker Bogenführung.
In Frankreich nahm der italophile Herzog Philippe d’Orléans, ein Neffe Ludwigs XIV., 1705 Jean-Baptiste Stuck in seine Dienste, einen aus Livorno stammenden Cellovirtuosen österreichischer Eltern. Dass seinem Instrument auch in Paris nachhaltiger Erfolg beschieden war, einer Hochburg des aristokratischen Solospiels auf der vornehm näselnden Viola da gamba, belegt unter anderem das Opus 26 von Joseph Bodin de Boismortier, dem produktivsten und erfolgreichsten französischen Kammerkomponisten seiner Zeit. Geschäftstüchtig, wie er war, nennt er in diesem Druck von 1729 mit Solosonaten im italienischen Stil neben dem Violoncello noch Gambe und Fagott als Alternativ-Instrumente für die konzertierende Oberstimme.
Derweil hatte sich der Kölner Erzbischof und Kurfürst Clemens August von Bayern höchstselbst für den Wechsel von der Gambe, die er von Jugend auf spielte, zum Violoncello entschieden und im selben Jahr 1729 mit Joseph-Marie-Clément Dall'Abaco einen Cellisten zu seinem Kammerdiener und musikalischen Intimus ernannt. Er wurde dem Kurfürsten in den Mußestunden zum wichtigsten Musizierpartner, und seine Duos für zwei Violoncelli dürften da ebenso als anspruchsvolle Literatur gedient haben wie seine elf miniaturhaften Capricci für Violoncello solo. Das sechste Capriccio im Stil einer Courante erinnert in seinem Gestus an vergleichbar bewegte Sätze aus Johann Sebastian Bachs berühmten Suiten für Violoncello solo.
Georg Philipp Telemann genoss nicht den Ruf eines ausgesprochenen Virtuosen, war aber auf vielen Instrumenten bewandert und wusste entsprechend idiomatisch zu komponieren: „Gib jedem Instrument das, was es leyden kann, / so hat der Spieler Lust, du hast Vergnügen dran“, fasste der nachmalige Hamburger Musikdirektor das 1718 noch in Frankfurt am Main in Worte. Also darf sich das Cembalo in der Ouvertüre a-Moll nach dem gravitätischen Eröffnungssatz noch in einer Reihe stilisierter Tänze vornehmlich nach französischem Geschmack in Szene setzen. In der Sonate D-Dur, deren vier Teile Telemann 1728/29 in mehreren Folgen seiner kammermusikalischen Publikationsreihe Der getreue Music-Meister herausgab, ist wieder die konzertante Virtuosität des Violoncellos gefragt.
Der Violinmeister Antonio Vivaldi entdeckte unter den begabten Schülerinnen, die er am Ospedale della Pietà in Venedig unterrichtete, so manche Virtuosin auf dem Violoncello. Das zeigen die entsprechenden Konzerte, die er für die bei Besuchern der Lagunenstadt stark nachgefragten Aufführungen in diesem Waisenhaus für weibliche Musik-Talente komponierte, das belegen aber auch seine Sonaten für Violoncello und Basso continuo. Sechs davon erschienen 1740 in einer Druckausgabe in Paris. Ist es ein Zufall, dass sich dort im selben Jahr der passionierte Gambist Hubert Le Blanc veranlasst sah, in einer Streitschrift die Gambe gegen die „Angriffe der Violine und die Anmaßungen des Violoncellos“ zu verteidigen?
Als dann 1767 der 24-jährige italienische Cellist Luigi Boccherini an der Seine eintraf, hatte das Violoncello die Gambe verdrängt. Boccherinis Kammermusik, die für sein eigenes Instrument dankbare Partien bereithält, blieb in den Pariser Salons auch präsent, während er selbst als Kammermusiker des spanischen Infanten bald vornehmlich in Madrid lebte. Seit 1786 stand Boccherini zusätzlich im Range eines externen preußischen Kammerkomponisten; seit 1783 schon hatte er den Violoncello spielenden Kronprinzen und jetzt als König regierenden Friedrich Wilhelm II. regelmäßig mit Kompositionen versorgt.
Die A-Dur-Sonate erschien 1771 im Druck. Boccherini hat sie aber wohl schon bis zu fünfzehn Jahre früher komponiert, als ihn Gastauftritte mit seinem Vater von Lucca aus regelmäßig nach Wien führten. Die wirkungsvolle Solopartie betört mit technischer Brillanz und empfindsamen Melodien, die sich in weiten Bögen entfalten. Das Violoncello ist auf dem Weg in die Klassik.