2021/2022: Konzert 1

Sonntag, 19. September 2021 WDR-Funkhaus 17 Uhr

Mister Burneys Reisen

Europäische Vokal- und Instrumentalmusik des 18. Jahrhunderts Tehila Nini Goldstein Les Voyageurs Les Voyageurs Sendung auf WDR 3 Montag, 24. Januar 2022, ab 20:04 Uhr

In den 1770er-Jahren war der Engländer Charles Burney quer durch Europa unterwegs auf der Suche nach den neuesten musikalischen Trends. Vieles dazu notierte er mit subtilem Humor in seinen Tagebüchern, manches fand sich später in seiner General History of Music wieder. Seine Analysen von Konzerten, Charakteren und Situationen geben unterhaltsame Einblicke in eine schillernde Musikwelt. Das Kölner Ensemble Les Voyageurs lässt die spannendsten Stationen auf der Reise vo n London nach Venedig in einer trefflichen Werkauswahl lebendig werden.

Programmfolge

London Charles Burney (1726–1814) Pastora’s come with Myrtle crowned A Favourite Dialogue aus Clio and Euterpe or British Harmony, Vol. 1 (London 1759) Giuseppe Sammartini (1695–1750) Saturnia, wife of thundering Jove Air aus The Judgment of Paris (London 1740) Paris Pierre Danican Philidor (1681–1731) Fugue – Rondeau aus der Suite D-Dur für 2 Sopraninstrumente op. 1,3 (Paris 1717) Michel Richard de Lalande (1657–1726) Tu ad liberandum Air aus dem Te Deum (Paris 1684) Claude-Bénigne Balbastre (1724–1799) Allegro moderato aus der Sonate C-Dur für Cembalo/Fortepiano mit Begleitung von 2 Violinen und Bass op. 3,3 (Paris, 1770er-Jahre) Joseph-Nicolas-Pancrace Royer (1703–1755) Dieu des Amants fidèles Air aus Zaïde (Paris 1739) La Zaïde Pièce de Clavecin aus dem Premier Livre (Paris 1746) Jean-Philippe Rameau (1683–1764) Tristes Apprêts Air aus Castor et Pollux (Paris 1737) Luigi Boccherini (1743–1805) Allegro assai aus der Sonate D-Dur für Cembalo/Fortepiano und obligate Violine op. 5,4 (Paris 1769) Lyon – Genf André-Ernest-Modeste Grétry (1741–1813) Je crains de lui parler la nuit Air aus Richard Cœur de Lion (Paris 1783) Jean-Marie Leclair (1697–1764) Chaconne aus Première Récréation de Musique für 2 Violinen und Basso continuo op. 6 (Paris um 1736) Mailand Johann Christian Bach (1735–1782) The broom of Cowdenknowes Schottisches Volkslied in der Bearbeitung für Sopran und Instrumente (London, 1770er-Jahre) Florian Leopold Gassmann (1729–1774) Fuge Nr. 12 d-Moll für 2 Violinen und Basso continuo Tommaso Traetta (1727–1779) Ombra cara amorosa Arie aus Antigona (St. Petersburg 1772) Padua Antonio Vandini (um 1690–1778) Sonate a-Moll für Violoncello und Basso continuo Largo – Allegro – Allegro assai Rom – London Georg Friedrich Händel (1685–1759) O qualis de coelo sonus Kantate für Sopran, 2 Violinen und Basso continuo (Rom 1707)

Europa zwischen Barock und Klassik

Die Zeit sei mehr als reif für einen Reisebericht über die Musikwelt Italiens, woher das übrige Europa nicht nur mit den besten Komponisten und musikalischen Künstlern versehen worden, sondern von dem es sogar seine Begriffe vom Schönen und Vortrefflichen in dieser Kunst entlehnt hat. Das konstatiert Charles Burney 1771 in der Einleitung zu seinem Buch The Present State of Music in France and Italy, das schon im Folgejahr auch in der deutschen Übersetzung von Christian Daniel Eberlin erschien. Burney war für diese musikalische Erkundungsreise der richtige Mann: akademisch gebildet, ein fähiger Organist und Komponist, hatte er als Streicher noch in Georg Friedrich Händels Oratorienorchester gespielt und war 1769 in Oxford zum Doktor der Musik promoviert worden.

Die ersten Etappen von Burneys Reise möchte das heutige Programm beispielhaft musikalisch lebendig machen. Die Werkauswahl ist dabei auf jene Besetzung zugeschnitten, die der Reisende immer wieder als Gast privater Abendunterhaltungen erlebte. So im Juli 1770 in Mailand: Der Herr vom Hause spielte die erste Geige und hatte einen kräftigen Strich. Was ich am liebsten hörte, war die Singstimme der Dame vom Hause; sie sang ohne allen Zwang verschiedene schöne Arien. Ueberhaupt sah dieß Concert unsern Privatconcerten ziemlich ähnlich.

In London pulsierte damals das Musikleben nicht zuletzt dank der Anwesenheit italienischer Musikerinnen und Musiker. Einer der wichtigsten von ihnen war der Oboist Giuseppe Sammartini. 1740 hatte er mit The Judgment of Paris die Vertonung eines älteren englischen Librettos vorgelegt, das die Pastoralthematik vergleichbarer italienischer Opern aufgriff. Der Burney zugeschriebene kecke Dialogue zwischen dem Hirten Aminta und seiner Angebeteten, 1759 in einer Londoner Ariensammlung gedruckt, erlaubt den direkten Vergleich mit Sammartinis Vokalkunst.

Auf seiner Reise begegnet Burney zunächst einmal der Musik Frankreichs. In Paris besucht er die Aufführungsreihe der Concerts sprituels. Der Name von Pierre Danican Philidor, der sich zur Zeit Ludwigs XIV. als Kammermusiker in Versailles profiliert hatte, steht da für eine von mehreren einflussreichen Musikerdynastien im Umfeld des Königshofes. Dies Concert wird in dem grossen Saale des Louvre gehalten, und die Vokalmusik darin bestehet aus einzelnen Stücken lateinischer Kirchenmusiken. Das erste Stück war eine Motette von de la Lande. In seinem Te Deum hat Michel-Richard de Lalande als Sous-maître in der Hofkapelle des Sonnenkönigs in den 1680er-Jahren den Vers Te ad liberandum als lyrisches streicherbegleitetes Sopransolo vertont.

Weitere musikalische Einsichten bringt Burney der Besuch von Gottesdiensten. Sonntags ging ich nach St. Roque, den berühmten Balbastre, Organisten dieser Kirche, zu hören. Nach der Kirche lud Herr Balbastre mich nach seinem Hause, um einen schönen rückerschen Flügel zu sehen. Claude-Bénige Balbastre zählt zu den letzten Tastenmeistern der großen französischen Clavecinisten-Schule; in seinen Sonates en Quatuor op. 3 ist er auf dem Weg zur klassischen Klavier-Kammermusik mit zwei Violinen und Streichbass.

Großes Interesse zeigt Burney auch für die Pariser Oper. Am 15. Juni 1770 erlebt er mit Zaïde von Joseph-Nicolas Pancrace Royer ein Werk aus dem Jahr 1739. Es ist ziemlich wunderbar, daß seitdem nichts besseres, nichts in einem moderneren Geschmacke ist gesetzt worden. Royer zählt ebenfalls zu Frankreichs großen Cembalovirtuosen; der Erfolg der Zaïde hat ihn motiviert, einige Sätze daraus für sein erstes Buch mit Pièces de Clavecin zu bearbeiten.

Die Verbindung der Tastenmusik mit der Opernbühne symbolisiert auch das erwähnte Ruckers-Cembalo in Balbastres Wohnung. Seine Bemalung liefert eine Hommage an Jean-Philippe Rameau, den progressivsten Pariser Opernkomponisten in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Auswärts sieht man die Geburt der Venus, und inwendig auf dem Deckel die Geschichte von Rameau’s berühmtester Oper, Castor und Pollux. Hier sind die Erde, die Hölle und das Elysium vorgestellt; in dem letztern sitzt dieser berühmte Komponist auf einer Rasenbank, die Leyer in der Hand; das Bildnis ist überaus ähnlich, denn ich sah Rameau im Jahre 1764.

Aktuellste Musik kann Burney im musikalischen Salon der 25-jährigen Anne Louise Brillon de Jouy hören. Sie ist eine der größten Spielerinnen auf dem Clavizymbel. Verschiedene berühmte deutsche und italiänische Komponisten haben dieser Dame ihre Werke zugeeignet, z. E. Schobert und Boccherini. Der Begegnung zwischen Luigi Boccherini und der Virtuosin, die auch komponiert, verdanken sich die einzigen Sonaten für Clavier und Violine aus der Feder des großen italienischen Cellisten, der im April 1768 von Paris aus nach Spanien ging.

Burney reist weiter Richtung Lyon. Weil dieser Ort so nahe an Italien gränzt, so hätte man schliessen sollen, daß hier der musikalische Geschmack mehr italiänisches an sich genommen habe, als zu Paris; aber ich fand gerade das Gegenteil. Jean-Marie Leclair hatte einst seine Geburtsstadt Lyon verlassen, um in Turin bei Giovanni Battista Somis Violinunterricht zu nehmen. Der Auszug seiner kammermusikalischen Récreation de Musique von 1736 zeigt, wie er es verstand, die französische Ballett-Tradition der Suite mit dem italienischen Triosonaten-Satz zu verbinden.

Noch in Paris hat Burney mit André-Ernest-Modeste Grétry einen vielversprechenden Vertreter der neuen Komponistengeneration kennengelernt. Auf dem Rückweg von Italien wird Burney eine seiner Opern in Lyon hören. Die Musik von Gretry hat viel artiges und sinnreiches, völlig in dem buon gusto Italiens; welches mich überzeugte, daß dieser Tonkünstler nicht umsonst acht Jahre in diesem Lande zugebracht habe. Grétry, der aus Lüttich stammte, hatte seine Karriere zunächst nach Rom und Bologna geführt. In Genf hatte er in den 1760er-Jahren vergeblich versucht, Voltaire als Opern-Librettisten zu gewinnen. Als Burney in Genf Station macht, ist ihm unverhofft ein Gespräch mit dem berühmten Philosophen vergönnt. Er bemerkte, daß der Partheyengeist in der Poesie so nötig sey, als in der Politik. ,Wenn die Kritiker ruhig sind, so ist das nicht ein Beweis von der Vollkommenheit und dem richtigen Geschmacke der Zeiten, sondern von ihrer Dummheit‘.

Über Turin kommt Burney in der zweiten Julihälfte nach Mailand. Zehn Jahre zuvor war dort noch ein Künstler tätig, den Burney inzwischen zuhause als Kollegen schätzt: Johann Christian Bach. In dem Dohm sind zwey große Orgeln, an jeder Seite des Chors eine. Es sind hier zwey Organisten; Joh. Chr. Bach, ehe er nach London kam, war einer von ihnen. Den jüngsten Sohn von Johann Sebastian Bach mit seinem bezaubernden italienischen Melos hatte Burneys Nation nun längst als ihren” Bach ins Herz geschlossen.

Burney erlebt in Mailand, das damals zum habsburgischen Imperium gehört, die Aufführung einer komischen Oper, die drei Jahre zuvor für Wien entstanden ist: L’amore artigiano. Die Musik, worin sehr viel schönes war, hatte Herrn Florian Gasmann, in kaiserlichen Diensten, zum Verfasser, der den Flügel spielte. Florian Leopold Gassmann hat in Bologna bei Padre Giovanni Battista Martini studiert, der damals europaweit maßgeblichen Autorität in Sachen Kontrapunkt. Gassmanns Fugen in Triosonaten-Besetzung erinnern an diese alte kompositorische Tradition.

In dem eingangs skizzierten Mailänder Privatkonzert gefallen Burney vornehmlich die Arien von Tommaso Traetta, der sich in den 1750er-Jahren von Neapel aus die Opernbühnen Italiens erobert hatte. Inzwischen ist er Kapellmeister am Hof der Zarin Katharina II. in St. Petersburg.

Die weitere Reise durch die Städte Oberitaliens führt Burney in Padua in die Basilica di Sant’Antonio. An ordentlichen Festen besteht in dieser Kirche der Musikchor aus vierzig Persohnen: acht Violinen, vier Bratschen, vier Violoncells, zwey Contreviolons und vier Blasinstrumente, dabey sechzehn Sänger sind. Der berühmte Antonio Vandini ist der erste beym Violonschell. Einer der beiden Organisten – sie lässt Burney in seiner Aufzählung unerwähnt – mag sich in seiner Freizeit ans Cembalo gesetzt haben, um mit Vandini dessen reizvolle Cellosonaten zu musizieren.

Auch Venedig, Florenz, Rom und Neapel stehen noch auf Burneys Reiseplan. Damit bewegt er sich auf den Spuren von Georg Friedrich Händel. Der hatte sich dort zwischen 1706 und 1710 seine musikalische Weltläufigkeit angeeignet. Meine italienische Reise, anstatt die Hochachtung, die ich allemal gegen die besten Arbeiten dieses wahrhaftig großen Tonkünstlers gehegt habe, zu vermindern, hat sie solche vielmehr vermehret, und bey meiner Zurückkunft habe ich solche mit neuem Vergnügen gehört. Händels Motette O qualis de caelo sonus dürfte zum Pfingstfest 1707 für seinen römischen Gönner Francesco Maria Ruspoli erklungen sein, mit der Sopranistin Maria Durastanti als Solistin. Auch sie trug in den folgenden Jahrzehnten die italienische Gesangskunst in den Norden: nach Dresden, London – und Paris.

behe

Mitwirkende

Tehila Nini Goldstein – Sopran

Les Voyageurs:
Cécile Dorchêne, Joanna Huszcza – Violine
Ira Givol – Violoncello
Michael Borgstede – Cembalo