2021/2022: Konzert 4
Vom Himmel hoch
DieWeihnachtshistorievon Heinrich Schütz und Choralkonzerte von Michael Praetorius La Capella Ducale | Musica Fiata Roland Wilson
Die fürstlichen Kapellmeister Heinrich Schütz und Michael Praetorius trumpften in ihren Weihnachtsmusiken mit vielstimmiger Klangpracht auf, ohne die Ausgestaltung rhetorischer Details aus den Augen zu verlieren. Praetorius ließ sich gerne von altvertrauten Choralmelodien neu inspirieren, für Schütz waren eher die Worte der Luther-Bibel Impulsgeber. Beide Meister stellt Roland Wilson einander gegenüber, wobei La Capella Ducale und Musica Fiata die Weihnachtshistorie von Schütz erstmals in einer kürzlich wiederentdeckten schlüssigeren Berliner Fassung
präsentieren.
Programmfolge
Wachet auf, ruft uns die Stimme
Nun komm, der Heiden Heiland
Es ist ein Ros entsprungen
Vom Himmel hoch
Puer natus in Bethlehem
Wie schön leuchtet der MorgensternHeinrich Schütz (1585–1672) Weihnachts-Historie (Dresden 1660) in der Berliner Fassung SWV 435b nach der Handschrift der Sing-Akademie zu Berlin
Fürstliche Weihnachten
Ein Gedenkjahr für Michael Praetorius geht zu Ende. Er ist in der Musikgeschichte allgemein bekannt als Autor der bedeutenden dreibändigen Abhandlung Syntagma Musicum, auch als Komponist von Tanzmusik und im besten Falle für seine weihnachtlichen Kompositionen. Seine Produktivität und Vielseitigkeit haben aber leider dazu geführt, dass er als Komponist falsch eingeschätzt wird. Vielen gilt er als mittelmäßiger Provinz-Hofkapellmeister von weit geringerem Rang als etwa Heinrich Schütz, dessen Psalmen Davids im selben Jahr wie die Polyhymnia Caduceatrix & Panegyrica erschienen – jene prachtvolle Sammlung von Praetorius, aus der wir heute eine Auswahl weihnachtlicher Vokalkonzerte vorstellen.
Obgleich Praetorius tatsächlich am weniger bedeutenden Herzoghof von Wolfenbüttel diente, darf doch nicht übersehen werden, dass er zugleich als reisender „Capellmeister von Haus aus“ und als Ratgeber weithin einen hervorragenden Ruf genoss. Viele bedeutende Fürstenhäuser nahmen seine Dienste in Anspruch, vor allem der kursächsische Hof in Dresden, an dem Praetorius bis zu seinem Tod 1621 sogar offizieller Vorgesetzter des 14 Jahre jüngeren Schütz war.
Wenn die Werke von Praetorius heute eine erhöhte Aufmerksamkeit verdienen, so nicht nur wegen ihrer eindrucksvollen mehrchörigen Anlage und ihrer farbigen Instrumentation, sondern ebenso wegen ihres expressiven Gehalts. Die vierzig Einzelwerke der Polyhymnia Caduceatrix & Panegyrica waren Teil eines gigantischen Kompositionsprojekts, das 15 Bände umfassen sollte. Zwar vollendete Praetorius einen Großteil der Musik, doch er war sich offensichtlich bewusst, dass er aufgrund seiner labilen Gesundheit dieses Opus nicht würde abschließen können. So zog er am Ende auch Stücke vor, die er eigentlich für spätere Folgen vorgesehen hatte, um für die Nachwelt sämtliche „neue Arten und Manieren der Concertat-Music“ zusammenzustellen. Wie Claudio Monteverdi in Mantua mit seiner epochalen Marienvesper von 1610 versuchte Praetorius hier, das Alte mit dem Neuen zu verbinden. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, werden dabei Luther-Choräle mit neuen Charakteristika der italienischen Musik kombiniert. Die hatte Praetorius – anders als der in Venedig bei Giovanni Gabrieli ausgebildete Schütz – nicht vor Ort, sondern durch seine umfangreiche Sammlung italienischer Handschriften und Drucke kennengelernt. Besonders beeindrucken in seinen Kompositionen die üppig verzierten Gesangslinien der vom Basso continuo begleiteten Voci concertati, die unabhängigen Instrumentalchöre – die oft Sinfonien als Vor- oder Zwischenspiele beisteuern – sowie die Echoeffekte und die zahlreichen Ritornelle.
In den für heute ausgewählten Werken unterwirft sich Praetorius zwar den vom Cantus firmus, der vorgegebenen Liedmelodie, gesteckten Grenzen, doch es gelingt ihm zugleich, die relativ unpersönlichen Choräle mit einem Höchstmaß an individuellem Ausdruck zu versehen. Dies erreicht er mit scheinbar einfachen Mitteln, etwa indem er einzelne Worte oder Phrasen herausgreift und in auffälliger Weise verarbeitet. Die auf Advent und Weihnacht bezugnehmenden Werke zählen zum Bekanntesten aus seinem Œuvre und demonstrieren tatsächlich alle musikalischen „Arten und Manieren“. Das Spektrum reicht von schlichten Stücken wie Vom Himmel hoch (gesetzt für nur drei Soprane) bis hin zu glanzvollen mehrchörigen Kompositionen. Das fröhliche, populäre Element zeigt sich zudem in den Ritornellen von Puer natus in Bethlehem nd Nun komm, der Heiden Heiland. Es gelingt Praetorius hier, Publikumswirksamkeit mit all den neuen Techniken zu vereinen, die er bei seinem autodidaktischen Studium der italienischen Musik kennengelernt hatte. So schuf er einen höchst effektiven, individuellen Stil, der die vielfältigsten Emotionen auszudrücken vermag.
Wer diese Musik aufführt, sieht sich mit einer Flut von Informationen zur Interpretation konfrontiert, die Praetorius mitgeliefert hat. Am Beginn der Sammlung steht eine mehrseitige Erläuterung, gefolgt von umfangreichen Hinweisen vor jedem einzelnen Stück. Weitere Informationen finden sich im Syntagma Musicum. Die detaillierten Angaben beziehen sich nicht nur auf die Instrumentation, sondern auch auf die Platzierung der Gruppen oder der einzelnen Sänger sowie auf Tempo, Dynamik und mögliche Transpositionen. Selbst die Darstellung einzelner Worte wird behandelt.
Die Werke der Polyhymnia Caduceatrix & Panegyrica entstanden vermutlich zwischen 1613 und 1617, als Praetorius’ Tätigkeit für den Dresdner Hof ihren Höhepunkt erreicht hatte. Es steht außer Frage, dass er das Opus gezielt für die dortige Kapelle schrieb. Dort verfügte er anscheinend über exzellente Sänger und virtuose Instrumentalisten, wie die brillanten Zink- und Violinstimmen in Wachet auf, ruft uns die Stimme und Nun komm, der Heiden Heiland belegen. Wir haben unser Instrumentalensemble entsprechend den Angaben von Praetorius bewusst abwechslungsreich besetzt. Dabei ging es uns nicht nur um eine vielfältige Gestaltung, sondern auch um den Versuch, die individuelle Wirkung der einzelnen Stücke herauszuarbeiten.
Etwa vier Jahrzehnte liegen zwischen der Entstehung der weihnachtlichen Vokalkonzerte von Michael Praetorius und der Weihnachts-Historie, die Heinrich Schütz „auff gnädigste Anordnung Churfl. Durchl. zu Sachsen“ für den Dresdner Hof schrieb. Offenbar erlebte sie ihre Uraufführung am 25. Dezember 1660 in der Schlosskapelle: „die Geburth Christi in stilo recitativo“, vermerken die Hofdiarien für diesen Tag. Mit dem Tod von Praetorius war Schütz in Dresden zum allein verantwortlichen Kapellmeister avanciert. Seit der Übernahme der Regentschaft durch Johann Georg II. Ende 1656 lebte er im Teil-Ruhestand: ein Capellae Magister Senior, der nur noch zu besonderen Gelegenheiten mit Kompositionen aufwartete. Von der abgeklärten Strenge anderer später Schütz-Werke ist in der oratorienartigen Historia der Freuden- und Gnadenreichen Geburth Gottes und Marien Sohnes, Jesu Christi aber nichts zu spüren, eher schon etwas von der Freude des einstigen Kollegen Praetorius am klangsinnlichen Musizieren. Da huscht dem Meister, der auf dem überlieferten Alters-Porträt so streng dreinschaut, beim Komponieren in vorweihnachtlicher Stimmung wohl doch immer wieder ein Lächeln übers Gesicht. Das legen vor allem die acht „Intermedien“ nahe, in denen er die wörtliche Rede der Engel, der Hirten, der Weisen aus dem Morgenland, der Hohenpriester und Schriftgelehrten und des Königs Herodes vertont hat. Das sind stimmungsvolle Charakterzeichnungen in Form von Arien oder Chören mit abwechslungsreicher Instrumentalbegleitung – geradezu musikalische Genrebilder.
Bemerkenswerterweise hat Schütz diese Sätze und die beiden Rahmenchöre einer breiteren musikalischen Öffentlichkeit erst einmal vorenthalten. Im Druck publizierte er nur die in der modernen Rezitativ-Form vertonten Evangelistenworte – nach dem Wortrhythmus seien sie zu musizieren, „ohne einige Tactgebung mit der Hand“, warnt das Nachwort jeden weniger erfahrenen Interpreten. Und damit nicht genug: „Alldieweil Er vermercket, daß außer Fürstl. wohlbestallten Capellen, solche seine inventionen schwerlich ihren gebührenden effect anderswo erreichen würden“ , musste jeder, der sich auch für die Intermedien von Schütz interessierte, den Dresdner Kreuzorganisten Andreas Hering oder den Leipziger Thomaskantor Sebastian Knüpfer ansprechen; ihnen war es vorbehalten, die Noten zum Abschreiben zu verleihen.
Tatsächlich ist in zwei Manuskripten aus der Universitätsbibliothek von Uppsala und dem Archiv der Sing-Akademie zu Berlin das (nahezu) komplette Werk überliefert. Roland Wilson greift auf die Berliner Fassung zurück, die aus dem Repertoire der dortigen Nikolaikirche stammt: „Die üblicherweise musizierte Fassung kombiniert Intermedien aus der älteren Handschrift in Uppsala mit der von Schütz für die Druckveröffentlichung revidierten Evangelistenpartie. In der Berliner Handschrift ist die Evangelistenpartie identisch mit der Druckfassung, und daher ist anzunehmen, dass sie auch für die Intermedien die spätere, mithin verbesserte Fassung bietet. Die drei letzten Intermedien sind hier ganz neu konzipiert; bei den anderen Intermedien beschränken sich die Unterschiede hauptsächlich auf die instrumentalen Vorspiele. Allerdings sind die Instrumentalstimmen in der Berliner Handschrift nicht vollständig ausgeschrieben und müssen ergänzt werden. Außerdem fehlt der Eingangschor völlig, von dem in Uppsala immerhin eine Basso-continuo-Stimme vorhanden ist. Da musizieren wir aus einer von mir eigens erstellten Fassung.“
In dieser Berliner Fassung können wir die Dresdner Weihnachts-Historie heute erstmals hören.