2021/2022: Konzert 8

Sonntag, 29. Mai 2022 WDR-Funkhaus 17 Uhr

Mahlers Vierte

Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 4 G-Dur in der Kammerfassung von Erwin Stein (1921) Alexandra von der Weth – Sopran Das Neue Orchester Christoph Spering Alexandra von der Weth Christoph Spering Sendung auf WDR 3 am 17. Juni 2022 ab 20.04 Uhr

Bei der Uraufführung 1901 erkannten nur Wenige die Fortschrittlichkeit von Gustav Mahlers 4. Sinfonie, die mit dem eindringlichen Orchester- lied Das himmlische Leben endet. Dem Urteil des Mahler-Freundes Ernst Otto Nodnagel, der vom ersten wirklichen musikalischen Ereignis im 20. Jahrhundert sprach, schloss sich aber der Wiener Schönberg-Schüler Erwin Stein an. 1921 legte er seine kongeniale Kammerfassung der Sinfonie vor. Mit ihr blicken jetzt Christoph Spering und sein Neues Orchester auf historischen Instrumenten ins frühe 20. Jahrhundert.

Programmfolge

Gustav Mahler (1860–1911)

Sinfonie Nr. 4 G-Dur (1901)
in der Kammerfassung von Erwin Stein (1921)
für Sopran, Flöte, Oboe, Klarinette, Schlagwerk, Klavier, Harmonium und Streicher

1. Bedächtig. Nicht eilen
2. In gemächlicher Bewegung ohne Hast
3. Ruhevoll
4. Sehr behaglich
Wir genießen die himmlischen Freuden, drum tun wir das Irdische meiden, kein weltlich Getümmel hört man nicht im Himmel, lebt alles in sanftester Ruh. Wir führen ein englisches Leben, sind dennoch ganz lustig daneben, wir tanzen und springen, wir hüpfen und singen, Sankt Peter im Himmel sieht zu.
Johannes das Lämmlein auslasset, der Metzger Herodes drauf passet, wir führen ein geduldigs, unschuldigs, geduldigs, ein liebliches Lämmlein zu Tod. Sankt Lukas den Ochsen tät schlachten ohn einigs Bedenken und Achten, der Wein kost’t kein Heller im himmlischen Keller, die Englein, die backen das Brot.
Gut Kräuter von allerhand Arten, die wachsen im himmlischen Garten, gut Spargel, Fisolen und was wir nur wollen, ganze Schüsseln voll sind uns bereit. Gut Äpfel, gut Birn und gut Trauben, die Gärtner, die alles erlauben! Willst Rehbock, willst Hasen? Auf offener Straßen sie laufen herbei.
Sollt’ ein Fasttag etwa kommen, alle Fische gleich mit Freuden angeschwommen! Dort läuft schon Sankt Peter mit Netz und mit Köder zum himmlischen Weiher hinein. Sankt Martha die Köchin muss sein.
Kein’ Musik ist ja nicht auf Erden, die unsrer verglichen kann werden. Elftausend Jungfrauen zu tanzen sich trauen, Sankt Ursula selbst dazu lacht, Cäcilie mit ihren Verwandten sind treffliche Hofmusikanten, die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen, dass alles für Freuden erwacht!

Vom Ende her gedacht

Als Dirigent zählte Gustav Mahler, das böhmische Wunderkind, das schon als Fünfzehnjähriger sein Musikstudium am Wiener Konservatorium begonnen hatte, im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts bereits zu den Größten seiner Zeit. Nach annähernd sechs Jahren am Stadttheater Hamburg wurde er im Frühjahr 1897 als Kapellmeister an die Hofoper in Wien berufen und nur wenige Monate später durch Kaiser Franz Joseph I. auch zu deren künstlerischem Direktor ernannt, im Alter von 37 Jahren. In der Hamburger Zeit hatte aber auch jene künstlerische Entwicklung an Dynamik gewonnen, die Mahler vom komponierenden Dirigenten zum dirigierenden Komponisten werden ließ. Während er sich als Orchesterleiter schon von Amts wegen vor allem mit Opern beschäftigte, konzentrierte er sich beim Komponieren, für das er fast nur während der Urlaube in der Sommerfrische Zeit fand, auf die Gattungen Lied und Sinfonie, die er auch immer wieder miteinander verwob.

Eine Zeitspanne von 15 Jahren nimmt Mahlers Beschäftigung mit seinen ersten vier Sinfonien ein, die sich untrennbar mit seinen Liedvertonungen nach Texten aus der Sammlung Des Knaben Wunderhorn verbinden. Von 1805 bis 1808 hatten die Heidelberger Romantiker Achim von Arnim und Clemens Brentano diese Sammlung von Volksliedtexten älterer Zeiten veröffentlicht, nicht ohne sie nach den eigenen poetischen Vorstellungen stilistisch zu überarbeiten. Mahler reizte an dieser Textgattung, wie er 1905 in einem Brief formulierte, dass sie sich von jeder anderen Art ,Literaturpoesie‘ wesentlich unterscheidet und beinahe mehr Natur und Leben – also die Quellen aller Poesie – als Kunst genannt werden könnte. Zu vielen seiner Vertonungen konzipierte er sowohl Klavierfassungen als auch orchestrale Begleitungen. Einige dieser Sätze tauchen in den ersten vier seiner insgesamt neun vollendeten Sinfonien wieder auf – bald mit, bald ohne Text. Daher sind diese Werke heute auch als Wunderhorn-Sinfonien ein Begriff.

Als sich Mahler in den Sommermonaten des Jahres 1899 an die Komposition seiner 4. Sinfonie setzte, stand für ihn schon die Gestalt des Finalsatzes fest: Es sollte die Orchesterfassung des Wunderhorn-Liedes Der Himmel hängt voller Geigen sein, das er bereits im Februar 1892 vollendet und am 27. Oktober 1893 in Hamburg unter dem Titel Das himmlische Leben zur Uraufführung gebracht hatte. Dieses – laut Arnim und Brentano – bairische Volkslied entwirft das naiv anmutende Bild eines von wohlwollenden und heiter gestimmten Engeln und Heiligen bevölkerten Paradieses der Seligen. Mahler vertont es als sehr behaglich zu musizierende Humoreske, als eine glückliche Vision dessen, was den Menschen nach dem Tod erwartet. Doch wie ernst ist es dem Komponisten damit?

In den Sätzen, die er dieser Vision nun sieben Jahre später voranstellt, konfrontiert Mahler sein Publikum mit ganz unterschiedlichen Eindrücken zur irdischen Welt als ewiger Jetztzeit – so umreißt er selbst explizit den Inhalt des ersten Satzes. Später wird er allerdings auf Abstand gehen zu diesen konkreten programmatischen Deutungen und den absoluten Charakter seiner Sinfonik betonen. Das einprägsame Eröffnungsmotiv der Schellenkappe bildet den Anfang einer ganzen Reihe von tänzerischen oder liedhaften Themenkomplexen. Zunehmend überlagern sie sich collagehaft zu einer Polyphonie, die sich zeitweise vollkommen von den traditionellen Harmonieregeln löst; und doch findet der Satz noch zu einem lyrisch-idyllischen Ton, bevor er schließlich zum Eröffnungsmotiv zurückfindet.

Das anschließende Scherzo folgt der grotesken Szenerie eines Totentanzes. Freund Hein spielt auf der skordierten, in diesem Fall nach oben umgestimmten Solovioline auf, begleitet von den oft dissonanten, rhythmisch scharf akzentuierten Einwürfen der übrigen Instrumente. Ein Satz, der in seiner bizarren Expressivität auch nach 120 Jahren noch unmittelbar fasziniert.

In stärkstem Kontrast dazu strahlt der kantable Beginn des anschließenden Adagios eine abgeklärte Ruhe aus; dann entwickeln sich neue, unbeschwert dahinfließende melodische Episoden, doch immer wieder stockt die Bewegung, kommt die Musik beinahe zum Stillstand. Dann scheint sich kurz vor dem Ende schon einmal der Blick in jenen paradiesischen Himmel zu öffnen, den im Finalsatz die hinzutretende Vokalstimme besingt. Am liebsten hätte Mahler diese Partie einem Knabensopran anvertraut. Doch stellt der Satz nicht nur hohe gesangstechnische Ansprüche, er verlangt auch nach einer interpretatorischen Position zur vermeintlichen Naivität des gesungenen Textes.

Bei der Uraufführung am 25. November 1901 in München dirigierte Mahler das Orchester des Konzertveranstalters Fritz Kaim, es sang Margarete Michalik. Die Mehrheit der Zuhörenden zeigte sich befremdet. Die Einschätzung von Mahlers frühem Bewunderer Ernst Otto Nodnagel aus Königsberg, der die Aufführung in der Ostpreußischen Zeitung als erstes wirkliches musikalisches Ereignis im 20. Jahrhundert bezeichnete, dürften damals nur Wenige geteilt haben. Einer von ihnen war wohl Mahlers Freund und Kollege Richard Strauss, der zum dritten Satz bemerkte, ein solches Adagio selbst nicht schreiben zu können.

Keine zehn Jahre nach der Uraufführung war Gustav Mahler tot. Nach einer kräftezehrenden Karriere, die ihn als Dirigenten ab 1907 alljährlich zur Wintersaison vor das New York Philharmonic Orchestra geführt und der Musikwelt unter anderem noch fünf weitere Sinfonien und das nicht weniger vermächtnishafte Lied von der Erde geschenkt hatte, war der schon länger an einer Herzerkrankung leidende Künstler im Mai 1911 in Wien verstorben. Ebendort sollte sich Freunde und Bewunderer Mahlers wiederum zehn Jahre später um die Wiederbelebung und breitere Resonanz seiner Musik und speziell der 4. Sinfonie bemühen. Der Kreis nannte sich Verein für musikalische Privataufführungen. Mahlers einstiger Schüler Arnold Schönberg hatte ihn 1918 initiiert und weitere Mitglieder jener Komponistengruppe dafür gewonnen, die als Neue Wiener Schule in die Musikgeschichte eingehen sollte, darunter Alban Berg und Anton Webern. In nichtöffentlichen Konzerten führte man moderne Musik, von Mahler und Strauss bis zu den jüngsten auf und diskutierte darüber. Zu diesen Privatzirkeln für Vereinsmitglieder kamen bald aber auch der Allgemeinheit zugängliche Veranstaltungen, die als Propagandakonzerte bezeichnet wurden.

Drei dieser Konzerte boten nun im Januar 1921 Mahlers 4. Sinfonie im Kleinen Saal des Konzerthauses. Dem Verein stand dafür schon aus finanziellen Mitteln kein Orchester zur Verfügung, um diese Musik in ihrer ursprünglichen umfangreichen Instrumentation aufzuführen – der Komponist verlangt neben einem großen Streicherapparat je vier Flöten und Hörner, je drei Oboen, Klarinetten, Fagotte, Trompeten sowie Harfe und umfangreiches Schlagwerk. Schönbergs Kompositionsschüler Erwin Stein (1885–1958), der Mahler noch persönlich kennengelernt hatte, fertigte daher eine Kammerfassung für ein Ensemble mit je einer Flöte, Oboe, Klarinette sowie Streichquartett, Klavier, Harmonium und Schlagwerk an. Ihm gelang es dabei, das Werk in seinen Strukturen geradezu analytisch offenzulegen, ohne es seiner visionären Expressivität zu berauben. Stein dirigierte die Aufführungen auch.

In der reduzierten Klanglichkeit dieser Bearbeitung, die doch keine Note unterschlägt, rückt Mahler unwillkürlich näher an die kompositorischen Ideen der musikalischen Avantgarde im frühen 20. Jahrhundert heran, die sich in den Dimensionen ihres Aufführungsapparates oft bewusst von der symphonischen Monumentalität der Spätromantik distanzierte. Doch darf man unterstellen, dass die Zuhörenden Mahlers Werk 1921 auch in der Originalbesetzung anders aufgenommen hätten als zehn oder zwanzig Jahre zuvor – es lag die Katastrophe des Ersten Weltkriegs dazwischen. Und auch ein Jahrhundert später kann Mahlers vielschichtige Musik mit ihren gebrochenen Perspektiven noch betroffen machen.

behe

Mitwirkende

Alexandra von der Weth – Sopran
Das Neue Orchester
Ltg. Christoph Spering

Das Neue Orchester spielte heute in folgender Besetzung:
Marten Root – Flöte, Piccolo | Michael Niesemann – Oboe, Englischhorn
Ernst Schlader – Klarinette, Bassklarinette
Christoph Lahme – Harmonium | Arash Rokni – Klavier
Jürgen Karle, Tibor Herczeg – Schlagwerk
Ariadne Daskalakis – Violine 1 | Seowon Kim – Violine 2
Valentin Holub – Viola | Hannah Freienstein – Violoncello
Timo Hoppe – Kontrabass