2023/2024: Konzert 2

Sonntag, 22. Oktober 2023 St. Ursula 17 Uhr

Vier Jahreszeiten

Sirius Viols Ltg. Hille Perl Sirius Viols Sendung auf WDR 3 am 23.11.2023 ab 20.04 Uhr

Mit seinen Four Seasons war der englische Gambist Christopher Simpson den berühmten venezianischen Quattro stagioni von Antonio Vivaldi fast hundert Jahre voraus. Hille Perl und ihre Sirius Viols stellen den farbenreichen Zyklus voller Dynamik, Virtuosität und Experimentierfreude im betörenden Gamben-Klang vor, vom frostig klirrenden Winter über den blühenden Frühling und den heißen Sommer bis zum farbigen Herbst.

Programmfolge

Christopher Simpson (1605‒1669) Autumne für 3 Violen da gamba und Basso continuo Fancy ‒ Ayre ‒ Gallard John Coperario (1575‒1626) Gray’s Inn für Viola da gamba und Basso continuo Christopher Simpson Winter für 3 Violen da gamba und Basso continuo Fancy ‒ Ayre ‒ Gallard William Corbett (1680‒1748) Sonata Nr. 1 G-Dur für 3 Violen da gamba aus: Six Sonatas, op. 2 (London 1705) Preludio. Adagio ‒ Corrente ‒ Adagio ‒ Gigue Christopher Simpson Summer für 3 Violen da gamba und Basso continuo Fancy ‒ Ayre ‒ Gallard Thomas Morley (1557‒1602) About the May-Pole Madrigal zu 5 Stimmen aus dem First Book of Ballets (London 1595) Christopher Simpson Spring für 3 Violen da gamba und Basso continuo Fancy ‒ Ayre ‒ Gallard John Eccles (um 1668‒1735) Ground für 3 Violen da gamba und Basso continuo aus der Schauspielemusik The Mad Lover (London um 1700)

Wechselhaft wie das Leben

Es ist eine Tatsache, dass sich alles im Leben kontinuierlich verändert, selbst wenn es gerade zu ruhen scheint. Auf jeder Ebene entsteht unablässig Neues, neue Ideen, neue Pflanzen, die aus dem fruchtbaren Boden alter Gedanken und verwitterter Gewächse hervorsprießen, um sich wiederum stetig zu verwandeln, weiterzuentwickeln oder in Vergessenheit zu geraten. In der Natur lässt sich dieses große Verändern wunderbar im Jahreskreislauf beobachten. Die Jahreszeiten kommen und gehen, an ihnen haben wir uns seit Jahrtausenden orientiert, im Einklang mit ihnen und abhängig von ihnen gelebt oder gelitten.

Doch auch die Jahreszeiten verändern sich in jüngster Zeit spürbar, jahrhundertealte Regeln und Gesetze passen nicht mehr, eine spürbare Verschiebung ist eingetreten. In unseren Breiten werden die Winter wärmer, aber nicht unbedingt kürzer; sie treten verspätet ein, der Frühling beginnt plötzlicher, so scheint es, der Sommer ist nasser und wärmer, die Stürme des Herbstes treten nun das ganze Jahr über auf. Trotzdem, uns zur Beruhigung, bleiben die Hauptattribute erhalten: Im Winter sitzen wir gerne am Ofen und verspeisen Bratäpfel, erzählen den Kindern vom Schnee, verspüren die steigenden Säfte in unseren Körpern, wenn die Bäume im Frühling aufbrechen, die Blumenpracht aus der dunklen Erde kriecht und alles Grau mit geliebtem Grün bedeckt, riechen den Holunder im Frühsommer und freuen uns kurz danach an den Rosen und dem frischen Gemüse, von gerade gepflückten Erdbeeren ganz zu schweigen. Im Herbst sehen wir den ziehenden Kranichen zu, freuen uns an den bunten und fallenden Blättern und betrachten zufrieden das eingelagerte Feuerholz.

Die Seasons von Christopher Simpson sind eine für ihre Entstehungszeit durchaus ungewöhnliche formale Umsetzung von Fantasien für drei Gamben (eine Diskant- und zwei Bassviolen) mit Basso continuo. Von den allesamt nur handschriftlich überlieferten Werken Simpsons sind sie neben den Months der wichtigste Zyklus. Wir vermuten, dass der Meister selbst mit seinen Eleven diese Werke zu Gehör brachte, zur eigenen Erbauung und der seines Umfelds.

Simpson orientiert sich sowohl am Fantasien-Stil als auch am von ihm maßgeblich mitentwickelten Stil der variativen Divisions. Das formale Gerüst für jede Jahreszeit bilden drei Sätze: eine einleitende Fantasie, gefolgt von elaborierten und ausgezierten Tanzsätzen - jeweils einer Allemande und einer Galliarde. Die Freude an virtuoser, auch im Ensemble höchst anspruchsvoller Kommunikation und warmem Klangreichtum, an wilden Diminutionen und experimenteller Harmonie steht dabei im Vordergrund.

Wir nehmen uns die Freiheit, die Charaktere der Jahreszeiten assoziativ herzuleiten und unter uns die Diskantstimme wie die Sonne im Jahr wandern zu lassen. Als Continuo- Instrumente bieten wir auf, was uns an Lauteninstrumenten im England des 17. Jahrhunderts begegnet: Cister und Bandora klirren mit ihren Metallsaiten dem Froste gleich im Winter, der Frühling wärmt sich an den Klängen der Laute und wird im Verlaufe immer voller. Im Sommer kommt langsam ein warmer Orgelwind dazu, und das Herbstlaub fällt im Wind, erst vereinzelt, dann immer stärker, während die Laute mit der Bandora wetteifert und der erste Nachtfrost zu hören ist. Wir beginnen den Zyklus heute, der Jahreszeit angemessen, mit dem Herbst.

Simpsons Seasons sind in sich wechselhaft und nie konstant, so wie das Leben und auch das Wetter, das uns launisch an jedem Tag neu begegnet. Bei jedem Wetter finden wir verschiedene Stimmungen, Atmosphären, die sich ändern, von Licht oder Schatten durchzogen werden. Uns bleibt nicht viel, als es zu nehmen, wie es ist: Das Leben und das Wetter, die Jahreszeiten, die Veränderung. Wir können darüber philosophieren, wir können Lieder schreiben, Stücke spielen, wir können uns freuen oder ärgern, wir können es halten wie Karl Valentin, der sagt: „Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch!“

Hille und Marthe Perl, Frauke Hess

Die Viola da gamba mit ihrem silbrig-hellen, zugleich klar zeichnenden und vornehm- zurückhaltenden Klang zählte im 17. Jahrhundert in ganz Europa zu den wichtigsten Stimmen in der Kammermusik, dem intimen Musizieren im privaten Raum. Besonders beliebt war der „aristokratische“ Gambenton in England, wo man neben dem solistischen Spiel ein besonderes Faible für das Consort entwickelt hatte, einen Chor gleicher oder auch unterschiedlicher Instrumente von der hohen bis zur tiefen Lage. Die Seasons von Christopher Simpson, der viele Jahre als Gambist und Musiklehrer der Adelsfamilie Bolles in Lincolnshire lebte, stehen mit der Besetzung für eine hohe und zwei tiefere Gamben mit Basso continuo in dieser Tradition. Sie spiegelt sich ebenso in den Stücken seiner englischen Kollegen, die heute zwischen den einzelnen Jahreszeiten weitere musikalische Farben aufleuchten lassen. John Coperario, eine Generation älter als Simpson und im Dienst von König Charles I., hat sein liedhaftes Gray’s Inn wohl 1613 für das gleichnamige Maskenspiel zur Hochzeit der Prinzessin Elisabeth mit Kurfürst Friedrich II. von der Pfalz ersonnen. About the May-Pole verweist als Instrumentalfassung eines tänzerischen Madrigals auf die Wurzeln der Consort-Tradition in der Vokalmusik; sein Komponist Thomas Morley stand im höfischen Dienst Elisabeths I. William Corbett, Londoner Konzertmeister mit reichlich Italien-Erfahrung, hat den dortigen Triosonaten-Ton im frühen 18. Jahrhundert auch für die heimischen Consort-Besetzungen erschlossen. Corbetts Kollege John Eccles, vom Hof mit dem Ehrentitel Master of the King’s Music bedacht, greift in seiner Schauspielmusik The Mad Lover in einem Ground noch einmal die altenglische Kunst der Divisions auf, hier als Variation über einem vielfach wiederholten lapidaren Bass-Schema - ein bis heute ergreifendes melancholisches Sinnbild für den steten Wandel im ewig Wiederkehrenden.

behe

Mitwirkende

Die Sirius Viols spielen heute in folgender Besetzung: Hille Perl, Marthe Perl, Júlia Vető ‒ Viola da gamba Michael Freimuth – Laute, Bandora Lee Santana ‒ Laute, Cister Torsten Johann ‒ Truhenorgel