2023/2024: Konzert 4
Barocke Weihnacht beiderseits der Alpen
Konzertante Vokal- und Instrumentalmusik von Heinrich Ignaz Franz Biber, Biagio Marini, Heinrich Schütz, Giacomo Carissimi, Christoph Bernhard, Alessandro Scarlatti, Georg Friedrich Händel u.a. La Venexiana Sendung auf WDR 3 am 25. Dezember 2023 ab 20.04 UhrOb in London, in Sachsen oder im süddeutsch-österreichischen Raum: ambitionierte Komponisten des 17. und 18. Jahrhunderts orientierten sich am Vorbild Italien. So fand auch die stimmungsvolle italienische Weihnachtsmusik ihren Widerhall nördlich der Alpen – erst recht bei Persönlichkeiten wie Heinrich Schütz, Christoph Bernhard und Georg Friedrich Händel, die prägende Jahre in Venedig oder Rom verbracht hatten. Das renommierte italienische Ensemble La Venexiana präsentiert kompositorische Highlights dieser Nord-Süd-Beziehungen.
Programmfolge
Engelsgesänge und Hirtenweisen
In zwei eindrucksvollen Szenen der Verkündigung aus den ersten Kapiteln des Lukas- Evangeliums scheinen sich nach christlichem Verständnis die Besinnungszeit des Advents und die weihnachtliche Festzeit zu berühren: Da offenbart zunächst der Erzengel Gabriel der Jungfrau Maria, dass sie den Sohn Gottes zur Welt bringen wird. Und da tritt später ein Engel zu den Hirten auf den Feldern vor Bethlehem, um ihnen die Geburt Christi zu verkündigen. Die Hirten folgen der Aufforderung und finden Maria und Josef mit dem Kind in der Krippe.
Den Erzengel Gabriel lässt Heinrich Ignaz Franz Biber in geradezu aberwitzigen Tongirlanden der Jungfrau Maria entgegenschweben. Andächtiges Staunen mag der böhmische Violinvirtuose damit bei seinem Dienstherrn ausgelöst haben, dem Salzburger Fürsterzbischof Max Gandolph von Kuenburg, dem Biber diese und 14 weitere Sonaten für Violine und Basso continuo als Meditationen zum Rosenkranz-Gebet gewidmet hat. Biber galt seinen Zeitgenossen als der beste Violinspieler schlechthin. Sinnbildlich steht er mit seinem Anspruch, bis an die Grenzen des spieltechnisch Möglichen zu gehen, für die experimentierfreudige Musikästhetik des 17. Jahrhunderts.
Als Biber seine Rosenkranz-Sonaten Ende der 1670er-Jahre schrieb, war es gerade gut fünf Jahrzehnte her, dass die ersten Instrumentalvirtuosen ihre neue expressive Ausdruckskunst aus deren Mutterland Italien über die Alpen getragen hatten. Biagio Marini aus der Geigenstadt Brescia zählte zu jenen frühen Violinstars, die mit ihrem Spiel an den Fürstenhöfen Mitteleuropas reüssierten. Im September 1623 wurde er bei Pfalzgraf Wolfgang Wilhelm in Neuburg an der Donau zum maestro di concerti ernannt. Die Widmungsschriften in zweien seiner späteren Druckveröffentlichungen legen nahe, dass er von Neuburg aus auch in Eichstädt und München zu Gast war; von Wolfgang Wilhelms Zweitresidenz Düsseldorf aus kam er bis Brüssel. Und doch zog es Marini immer wieder in seine oberitalienische Heimat zurück. Hier hatte er 1622 noch vor seiner ersten Alpen- Überquerung einen Band mit Scherzi e Canzonette vorgelegt. Da ist der Avantgardist auf der Violine auch als habiler Vokalkomponist weltlicher Arien zu erleben. Unter der Überschrift Natività di Christo stellt eine der liedhaften Canzonetten das Jesuskind in der Krippe als „Amor ohne Flügel, Bogen und Pfeile“ vor. Den Text der einzelnen Strophen lässt Marini jeweils in instrumentalen Ritornellen auf seine Weise nachklingen.
Den eingängigen Canzonetten-Stil greift auch Bonifazio Graziani einige Jahrzehnte später in vielen seiner Motetti a voce sola auf. Der Kapellmeister am Jesuitenseminar in Rom beschränkt sich dabei in der instrumentalen Ausgestaltung auf die Generalbassstimme. Sein Fokus liegt auf dem Gesang, der in „Venite pastores“ mit den Hirten von Bethlehem die ganze Welt zur Anbetung an die Krippe ruft und zum weihnachtlichen Jubel auffordert.
Ebenfalls für Rom hat der gebürtige Sizilianer Alessandro Scarlatti seine Weihnachtskantate „O di etlemme altera“ komponiert. Dabei überträgt er den damals in der Oper hochaktuellen Wechsel von Rezitativen und Arien auf eine Singstimme und die kammermusikalische Begleitung in Triosonatenbesetzung. Die Kantate singt in wechselnden Bildern von der lichtumflossenen Geburt des Heilands, den Unbilden der Natur, denen das Kind in der Krippe ausgesetzt ist, und der Anbetung der Hirten. Scarlatti gestaltet die drei Arien entsprechend kontrastreich - und die letzte selbstverständlich im pastoralen Wiegerhythmus. Das Werk erklang erstmals 1695 beim traditionellen Empfang des Papstes für zahlreiche Kardinäle und weitere Standespersonen am Weihnachtsabend.
Rom oder Venedig? Die deutschen Musiker, denen es vergönnt war, in Italien die neuesten künstlerischen Entwicklungen zu studieren, entschieden sich meist für eine dieser beiden Metropolen: die Ewige Stadt, in der das Musikleben ebenso durch den Kunstsinn der Kurie geprägt war wie durch zahlreiche kirchenmusikalische Institutionen - oder die selbstbewusste Serenissima, die als patrizisch regierte Republik und globale Handelsmacht außergewöhnliche künstlerische Freiheiten zuließ und auch in kirchenmusikalischen Dingen ihre Eigenständigkeit betonte.
Heinrich Schütz kam zweimal nach Venedig: 1609 als 24-jähriger Stipendiat des Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel, um beim Markusdom-Organisten Giovanni Gabrieli die Kompositionskunst von Grund auf zu studieren, und 1628 als schon erfahrener Dresdner Hofkapellmeister, um die neue sinnlich-affektbetonte Musik von Claudio Monteverdi, inzwischen der Kapellmeister an San Marco, näher kennenzulernen. Ein grandioser musikalischer Wort- Interpret war Schütz damals schon, ein deutscher Monteverdi wollte er wohl nie werden. In seinen Kleinen Geistlichen Concerten, die er 1639 nach einem längeren Aufenthalt am Kopenhagener Hof veröffentlichte und Prinz Friedrich von Dänemark widmete, beschränkt er sich auf eine Besetzung mit Singstimmen und Basso continuo - den Folgen des Dreißigjährigen Krieges geschuldet, wie er im Vorwort schreibt. Stilistisch orientiert er sich hier eher an Monteverdis oberitalienischem Zeitgenossen Lodovico Grossi da Viadana. Der hatte schon 1602 in seinen Cento Concerti ecclesiastici den konzertanten Motettenstil der Spätrenaissance auf wenige Singstimmen und eine entsprechend dichte Generalbassbegleitung reduziert. Dem ersten Kapitel des Johannes-Evangeliums hat Schütz den Text für sein Vokalkonzert „Verbum caro factum est“ entnommen. Effektvoll wechselt die Komposition zwischen eher rezitierenden Passagen und einem konzertant jubilierenden Halleluja-Ritornell.
Ein vielfach wiederkehrendes Grundmotiv bestimmt die Passacaglia von Maurizio Cazzati. Der langjährige Kapellmeister an der Basilika San Petronio in Bologna entwickelt darüber phantasievolle Tongirlanden in den beiden Oberstimmen. Im weihnachtlichen Kontext lässt sich das als himmlisches Jubilieren über der Krippe von Bethlehem hören, unter deren Dach das Jesuskind sanft in den Schlaf gewiegt wird.
Einen Meisterschüler von Schütz schickte der Dresdner Hof um 1650 zum Studium nach Rom: Christoph Bernhard. Sein Ziel war offensichtlich Giacomo Carissimi, der musikalische Leiter am jesuitischen Collegium Germanicum. Er hatte sich mit seinen dramatischen konzertanten Vertonungen von biblischen Erzählungen als internationale Autorität für expressive Kirchenmusik etabliert. Entsprechend wirkungsvoll vertont Bernhard dann später auch die Weihnachtsbotschaft in seinem geistlichen Konzert „Fürchtet euch nicht“. Die Ankunft des Verkündigungs-Engels führt er in der einleitenden Sinfonia geradezu bildlich vor Augen. Die hymnische Monodie der Singstimme umgibt er dann von der Gloriole zweier Violinen; die einzelnen Gedanken des Textes sind durch instrumentale Ritornelle in Triobesetzung gegliedert. Von Hamburg aus, wo Bernhard ab 1664 zehn Jahre lang als Kantor am Johanneum das Musikleben prägte, mag das Werk in die Sammlung des Stockholmer Hofkapellmeisters Gustav Düben gelangt sein. In einem anderen Tabulaturenband hat Düben noch Bernhards lateinisches Vokalkonzert „Currite pastores“ für die Nachwelt erhalten. Es schließt sich dramaturgisch nahtlos an die Engelsszene an, bietet anstelle lutherischer Bibeltext-Übersetzung aber eine jesuitische Auslegung der Aufforderung, zur Krippe zu eilen. Ob Bernhard dieses Werk noch in Rom komponiert hat? - Carissimis Arie „Salve puellule“, mit der das heutige Programm schließt, ist ein eher lyrischer Beitrag des römischen Meisters zum weihnachtlichen Repertoire.
Zuvor aber noch zwei Blicke auf die Fortführung der pastoralen Weihnachtstraditionen aus Rom im 18. Jahrhundert: Weiterhin ließen die Komponisten die Hirtenszene gerne im pastoralen 6/8-Takt erklingen und ahmten dazu mit Hingabe die volkstümliche Dudelsack- Musik mit ihren charakteristischen Liegetönen der Bordunpfeifen nach. Zu einem Klassiker solch weihnachtlicher Streichermusik ist heute das Concerto grosso op. 6,8 („fatto per la Notte di Natale“) des römischen Violinmeisters Arcangelo Corelli geworden.
Der eine Generation jüngere Giuseppe Valentini, der in so mancher Position der vielfältigen Musikszene Roms zu Corellis Nachfolger wurde, bietet dazu in seinem ersten Sonatendruck 1701 eine schöne Alternative in Triobesetzung: die Sinfonia per il Santissimo Natale, die gleich mit zwei Pastoralsätzen aufwartet und im Übrigen der geschmeidigen Kontrapunktkunst der Corelli-Schule folgt.
Noch 1741 lässt Georg Friedrich Händel dieses Genre im ersten Teil seines Oratoriums Messiah aufleben - nicht nur in der bekannten Pifa, die als instrumentale Einleitung der Weihnachtsgeschichte dient, sondern ebenso in der Arie „He shall feed his flock“. Da schwingen unzweifelhaft Erinnerungen an jene Weihnachstfeste mit, die Händel selbst als junger Komponist in Rom erlebt hatte.