2023/2024: Konzert 7

Sonntag, 28. April 2024 WDR-Funkhaus 17 Uhr

Ungleiche Rivalen

Arien und Instrumentalwerke von Johann Sebastian Bach und Johann Adolph Scheibe Laila Salome Fischer Clara Blessing Concerto Köln Ltg. Max Volbers Laila Salome FischerMax Volbers Sendung auf WDR 3 am 20. Mai 2024 ab 20.04 Uhr
Vorverkauf bei kölnticket

Als harscher Kritiker aus der Söhne-Generation am schwülstigen Kompositionsstil des Thomaskantors Bach ist Johann Adolph Scheibe in die Musikgeschichte eingegangen. Aber konnte es der spätere dänische Hofkapellmeister selbst besser, oder komponierte er einfach anders? Concerto Köln sucht gemeinsam mit den jungen Shooting-Stars Laila Salome Fischer und Max Volbers nach Antworten in ausgewählten Werken der beiden Rivalen.

Programmfolge

Johann Sebastian Bach (1685–1750)

Concerto C-Dur nach BWV 1053/1‒2 und 1042/3
für Blockflöte, Streicher und Basso continuo
Allegro – Siciliano. Adagio – Allegro

Rezitativ Mein Herze schwimmt im Blut Arie Stumme Seufzer, stille Klagen
für Sopran, Oboe, Streicher und Basso continuo
aus der Kantate Mein Herze schwimmt im Blut, BWV 199

Johann Adolph Scheibe (1708–1776)

Sinfonia A-Dur, SchW A2:005
für Streicher und Basso continuo
Allegro – Adagio – Presto

Arie Willkommen, Heiland
für Alt, Streicher und Basso continuo
aus dem Oratorium Die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu, SchW B2:301

Pause

Johann Adolph Scheibe

Concerto G-Dur, SchW A1:009
für Oboe d’amore, 2 Violinen und Basso continuo
Allegro ‒ Adagio ‒ Presto ‒ Adagio ‒ Vivace

Arie O! Tötet mich nur auch, vermessne Scharen!
für Alt, Streicher und Basso continuo
aus dem Oratorium Der wundervolle Tod des Welterlösers, SchW B2:313

Johann Sebastian Bach

Sinfonia
für Blockflöte, Violine, Streicher und Basso continuo
aus der Kantate Himmelskönig, sei willkommen, BWV 182
Grave. Adagio

Kantate Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust, BWV 170
für Alt, Oboe d’amore, Orgel (Blockflöte), Streicher und Basso continuo

Ein Generationenkonflikt?

Johann Adolph Scheibe gehört zu den bedeutenden deutschen Musikerpersönlichkeiten des 18. Jahrhunderts. Seine Werke kamen in Leipzig wie in Kopenhagen zur Aufführung, in Hamburg profilierte er sich im musikästhetischen Diskurs, und er brachte es zum Kapellmeister am dänischen Königshof. Dennoch ist er heute fast nur noch für seine öffentliche Kritik am Kompositionsstil von Johann Sebastian Bach bekannt. Wie aber komponierte Scheibe selbst, und kann seine Musik neben der Bachs bestehen? Fragen, zu denen das heutige Programm Antworten anbietet in der Gegenüberstellung von Werken, die Bach und Scheibe als Instrumental- und Vokalkomponisten zeigen.

Neun Jahre war Johann Adolph Scheibe alt, als der 32-jährige Köthener Hofkapellmeister Johann Sebastian Bach im Dezember 1717 als Sachverständiger nach Leipzig kam, um in der Universitätskirche die neuerbaute Orgel zu examinieren. Das Instrument stammte vom Vater Johann Scheibe. Möglich, dass der zu diesem Termin den Sohn mitnahm, der drei Jahre zuvor bei einem Unfall in der Orgelbauwerkstatt auf dem rechten Auge erblindet war, sich inzwischen aber auf den Tasten als vielversprechendes musikalisches Talent erwies. Das neue Orgelwerk sei von Bach dergestalt befunden worden, daß er solches nicht gnugsam rühmen und loben können, fasste der ebenfalls anwesende Organist der Nikolaikirche, Daniel Vetter, das Urteil des Examinators anschließend zusammen. Einige Mängel hatte Bach durchaus angemerkt, doch stand das einem weiterhin guten Verhältnis zum Orgelbaumeister Scheibe nicht im Weg.

Mitte 1723 zog Bach dann mit seiner Familie als Thomaskantor und städtischer Musikdirektor nach Leipzig. Der Gymnasiast Johann Adolph Scheibe besuchte da die Nikolaischule und dürfte die regelmäßigen Kantaten-Aufführungen Bachs in den Gottesdiensten der Nikolai- und Thomaskirche mit Interesse verfolgt haben; bald versuchte er sich auch selbst mit Hilfe von Lehrbüchern am Komponieren. Auf Wunsch des Vaters nahm er 1725 ein Jurastudium an der Leipziger Universität auf, musste sich aber im Folgejahr wegen einer finanziellen Krise der väterlichen Orgelbauwerkstatt auf das Erteilen privater Musikstunden konzentrieren.

Ob sich Johann Adolph Scheibe damals schon jenes Urteil über Bach gebildet hatte, das er dann zum 14. Mai 1737 anonym von Hamburg aus in seiner Wochenschrift Der Critische Musikus publizieren sollte? Im Kontext einer fingierten Reisebeschreibung attestierte er darin zunächst – unter Auslassung von Orts- und Personennamen – den Leipziger Organisten der Neu- und der Nikolaikirche, Carl Gotthilf Gerlach und Johann Schneider, sowie dem Universitätsmusikdirektor Johann Gottlieb Görner musikalische Unfähigkeit. Dann wurde der Thomaskantor Zielscheibe der Kritik, so unangreifbar er auch als Tastenvirtuose blieb: Dieser grosse Mann würde die Bewunderung gantzer Nationen seyn, wenn er mehr Annehmlichkeit hätte, und wenn er nicht seinen Stücken durch ein schwülstiges und verworrenes Wesen das Natürliche entzöge, und ihre Schönheit durch allzugrosse Kunst verdunkelte. Weil er nach seinen Fingern urtheilt, so sind seine Stücke überaus schwer zu spielen; denn er verlangt, die Sänger und Instrumentalisten sollen durch ihre Kehle und Instrumente eben das machen, was er auf dem Claviere spielen kan. Dieses aber ist unmöglich. Alle Manieren, alle kleine Auszierungen, und alles, was man unter der Methode zu spielen verstehet, drücket er mit eigentlichen Noten aus; und das entziehet seinen Stücken nicht nur die Schönheit der Harmonie, sondern macht auch den Gesang durchaus unvernehmlich. Alle Stimmen sollen mit einander, und mit gleicher Schwierigkeit arbeiten, und man erkennet darunter keine Hauptstimme …

Bis heute stößt die Komplexität und Tiefe der Bach’schen Musik mit ihren großen gesangs- und spieltechnischen Anforderungen auf viel Bewunderung, teils aber auch auf Verwunderung bis Unverständnis – je nach Geschmack. Seinerzeit wurde Scheibes Veröffentlichung zum Ausgangspunkt einer über Jahre geführten publizistischen Kontroverse, in der sich der Leipziger Rhetorikdozent Johann Abraham Birnbaum auf Veranlassung des sichtlich getroffenen Johann Sebastian Bach als dessen Verteidiger profilierte.

Was aber hatte Scheibe, der 1736 nach mehreren vergeblichen Bewerbungen um musikalische Ämter von Leipzig in die zweite deutsche Musikmetropole Hamburg gezogen war, zur öffentlichen Herabwürdigung des Thomaskantors veranlasst? Möglicherweise der Umstand, dass er 1729 als Kandidat für die Organistenstelle an der Nikolaikirche am Improvisieren einer Fuge gescheitert war – da saß Bach in der Jury. Oder aber es brach sich hier schlicht das kopfschüttelnde Unverständnis eines Komponisten

der jüngeren Generation Bahn im Wunsch nach einer neuen Sanglichkeit, Durchhörbarkeit, kurz: Natürlichkeit in der Musik. Scheibe stand mit seiner Kritik jedenfalls nicht alleine; seine Parteigänger darf man in Leipzig vor allem im studentisch geprägten Musikensemble der Neukirche vermuten. Bezeichnend ist, dass dort am Karfreitag 1739 eine Passionsmusik von Scheibe unter der Leitung des Organisten Gerlach erklang (den er zwei Jahre zuvor noch kritisiert hatte), während der Rat der Stadt dem Thomaskantor im Vorfeld mit einem Aufführungsverbot seiner Johannes-Passion gedroht hatte.

Das Jahr 1739 stellte auch die Weichen für Scheibes weitere Karriere: Markgraf Friedrich Ernst von Brandenburg-Kulmbach, Statthalter in Schleswig-Holstein für den Schwager Christian VI. von Dänemark, ernannte ihn zu seinem Kapellmeister, vermittelte ihn aber (aus Geldmangel?) schon im Folgejahr in gleicher Funktion nach Kopenhagen. Dort und zeitweise von Sønderburg aus war Scheibe bis 1769 für den dänischen Hof kompositorisch tätig. Weithin angesehen, ist er 1776 gestorben – zu einer Zeit, als die Musikwelt beim Namen Bach eher an den zweitältesten Sohn des einstigen Thomaskantors dachte, Carl Philipp Emanuel.

Das heutige Programm bietet die seltene Gelegenheit, Kompositionen vergleichbarer Genres von Johann Adolph Scheibe und Johann Sebastian Bach zu hören. Der Thomaskantor hatte 1729, also noch zu Scheibes Leipziger Zeit, die Leitung eines studentischen Collegium musicum übernommen, das jede Woche öffentlich auftrat. Hierfür hat er Streicher- und Bläser-Konzerte seiner Hofmusiker-Jahre zu Versionen mit konzertierendem Cembalo umgearbeitet. Drei Sätze aus solchen Werken hat Max Volbers jetzt neu zu einem Concerto C-Dur mit Blockflöte kombiniert. Es dient gleichzeitig als instrumentaler Auftakt zu den ersten beiden Sätzen der geistlichen Sopran-Solokantate Mein Herze schwimmt im Blut. Sie stammt aus Bachs Zeit als Weimarer Hoforganist, er hat sie aber in Köthen und Leipzig wiederaufgeführt. Ob auch Scheibe einmal ihren kantablen Arien-Dialog zwischen Singstimme und Oboe hören konnte? Eine besondere Schönheit der Harmonie leuchtet allenthalben auch in der galanten Sinfonia zur Weimarer Kantate Himmelskönig, sei willkommen auf. Möglicherweise hatte Scheibe beim Formulieren seiner Kritik aber eher Kompositionen wie die Alt-Solokantate Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust im Sinn. Deren Uraufführung mag er am 28. Juli 1726 in der Thomaskirche miterlebt haben. Wie da – am deutlichsten in der mittleren Arie – alle Stimmen mit einander, und mit gleicher Schwierigkeit arbeiten, davon zeigen sich viele Zuhörende heutzutage tief beeindruckt.

Die Sinfonia A-Dur für Streicher und Basso continuo komponierte Scheibe möglicherweise noch in den 1730er-Jahren in Leipzig. In allen drei Sätzen folgt sie seinem Ideal einer melodiebetonten Natürlichkeit, in der die Violinen über dem gemessen dahinfließenden Unterstimmensatz auch die rhythmischen Akzente setzen. Wie so viele Komponisten seiner Generation hat sich Scheibe in der Vokalmusik an Georg Philipp Telemann orientiert. Von dessen Oratorium Die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu, zu dem mit Karl Wilhelm Ramler ein wegweisender Dichter der Aufklärung die Verse geliefert hatte, gelangte eine Partiturkopie kurz nach der Uraufführung 1760 an Scheibe in Kopenhagen. Der begab sich bald an eine eigene Vertonung. Darin exponiert die österliche Arie Willkommen, Heiland in Da-capo-Form den hymnischen Ton der Singstimme schon im einleitenden Instrumentalritornell; in den Vokalabschnitten doppelt die erste Violine zu großen Teilen die Gesangspartie. Nach diesem Prinzip ist auch schon die Arie O! Tötet mich nur auch, vermessne Scharen! angelegt. Sie stammt aus dem Passions-Oratorium Der wundervolle Tod des Welterlösers, zu dem Scheibe selbst 1754 im engen Austausch mit dem Hamburger Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock das Libretto erstellte. Immer wieder unterbrechen hier Takte im Stil eines Accompagnato-Rezitativs deklamatorisch intensiv den rhythmischen Fluss. Noch aus en 1740er-Jahren dürfte Scheibes Concerto G-Dur stammen. Hier gibt er der Oboe d’amore reichlich Gelegenheit, über dem Streicher-Triosatz bald virtuose, bald ariose Qualitäten zu entfalten. Zwischen den drei schnellen Sätzen in der Grundtonart steht jeweils ein lyrisches Moll-Adagio.

behe

Mitwirkende

Laila Salome Fischer – Mezzosopran Clara Blessing ‒ Oboe Concerto Köln Concerto Köln Ltg. Max Volbers – Blockflöte, Cembalo Concerto Köln spielt heute in folgender Besetzung: Evgeny Sviridov, Markus Hoffmann, Frauke Pöhl, Stephan Sänger ‒ Violine 1 Anna Dmitrieva, Antje Engel, Hedwig van der Linde ‒ Violine 2 Aino Hildebrandt, Uta Wise ‒ Viola | Jan Kunkel ‒ Violoncello Franceso Savignano ‒ Violone | Artem Belogurov ‒ Orgel