2023/2024: Konzert 7
Ungleiche Rivalen
Arien und Instrumentalwerke von Johann Sebastian Bach und Johann Adolph Scheibe Laila Salome Fischer Clara Blessing Concerto Köln Ltg. Max Volbers Sendung auf WDR 3 am 20. Mai 2024 ab 20.04 Uhr
Als harscher Kritiker aus der Söhne-Generation am schwülstigen
Kompositionsstil des Thomaskantors Bach ist Johann Adolph Scheibe in die Musikgeschichte eingegangen. Aber konnte es der spätere dänische Hofkapellmeister selbst besser
, oder komponierte er einfach anders? Concerto Köln sucht gemeinsam mit den jungen Shooting-Stars Laila Salome Fischer und Max Volbers nach Antworten in ausgewählten Werken der beiden Rivalen
.
Programmfolge
Johann Sebastian Bach (1685–1750)
Concerto C-Dur nach BWV 1053/1‒2 und 1042/3
für Blockflöte, Streicher und Basso continuo
Allegro – Siciliano. Adagio – Allegro
Rezitativ Mein Herze schwimmt im Blut
Arie Stumme Seufzer, stille Klagen
für Sopran, Oboe, Streicher und Basso continuo
aus der Kantate Mein Herze schwimmt im Blut
, BWV 199
Johann Adolph Scheibe (1708–1776)
Sinfonia A-Dur, SchW A2:005
für Streicher und Basso continuo
Allegro – Adagio – Presto
Arie Willkommen, Heiland
für Alt, Streicher und Basso continuo
aus dem Oratorium Die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu
, SchW B2:301
Pause
Johann Adolph Scheibe
Concerto G-Dur, SchW A1:009
für Oboe d’amore, 2 Violinen und Basso continuo
Allegro ‒ Adagio ‒ Presto ‒ Adagio ‒ Vivace
Arie O! Tötet mich nur auch, vermessne Scharen!
für Alt, Streicher und Basso continuo
aus dem Oratorium Der wundervolle Tod des Welterlösers
, SchW B2:313
Johann Sebastian Bach
Sinfonia
für Blockflöte, Violine, Streicher und Basso continuo
aus der Kantate Himmelskönig, sei willkommen
, BWV 182
Grave. Adagio
Kantate Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust
, BWV 170
für Alt, Oboe d’amore, Orgel (Blockflöte), Streicher und Basso continuo
Ein Generationenkonflikt?
Neun Jahre war Johann Adolph Scheibe alt, als der 32-jährige Köthener Hofkapellmeister
Johann Sebastian Bach im Dezember 1717 als Sachverständiger nach Leipzig kam, um in
der Universitätskirche die neuerbaute Orgel zu examinieren. Das Instrument stammte vom
Vater Johann Scheibe. Möglich, dass der zu diesem Termin den Sohn mitnahm, der drei
Jahre zuvor bei einem Unfall in der Orgelbauwerkstatt auf dem rechten Auge erblindet
war, sich inzwischen aber auf den Tasten als vielversprechendes musikalisches Talent
erwies. Das neue Orgelwerk sei von Bach dergestalt befunden worden, daß er solches
nicht gnugsam rühmen und loben können
, fasste der ebenfalls anwesende Organist der
Nikolaikirche, Daniel Vetter, das Urteil des Examinators anschließend zusammen. Einige
Mängel hatte Bach durchaus angemerkt, doch stand das einem weiterhin guten Verhältnis
zum Orgelbaumeister Scheibe nicht im Weg.
Mitte 1723 zog Bach dann mit seiner Familie als Thomaskantor und städtischer Musikdirektor nach Leipzig. Der Gymnasiast Johann Adolph Scheibe besuchte da die Nikolaischule und dürfte die regelmäßigen Kantaten-Aufführungen Bachs in den Gottesdiensten der Nikolai- und Thomaskirche mit Interesse verfolgt haben; bald versuchte er sich auch selbst mit Hilfe von Lehrbüchern am Komponieren. Auf Wunsch des Vaters nahm er 1725 ein Jurastudium an der Leipziger Universität auf, musste sich aber im Folgejahr wegen einer finanziellen Krise der väterlichen Orgelbauwerkstatt auf das Erteilen privater Musikstunden konzentrieren.
Ob sich Johann Adolph Scheibe damals schon jenes Urteil über Bach gebildet hatte, das
er dann zum 14. Mai 1737 anonym von Hamburg aus in seiner Wochenschrift Der Critische
Musikus publizieren sollte? Im Kontext einer fingierten Reisebeschreibung attestierte
er darin zunächst – unter Auslassung von Orts- und Personennamen – den Leipziger
Organisten der Neu- und der Nikolaikirche, Carl Gotthilf Gerlach und Johann Schneider,
sowie dem Universitätsmusikdirektor Johann Gottlieb Görner musikalische Unfähigkeit.
Dann wurde der Thomaskantor Zielscheibe der Kritik, so unangreifbar er auch als Tastenvirtuose
blieb: Dieser grosse Mann würde die Bewunderung gantzer Nationen seyn, wenn er
mehr Annehmlichkeit hätte, und wenn er nicht seinen Stücken durch ein schwülstiges
und verworrenes Wesen das Natürliche entzöge, und ihre Schönheit durch allzugrosse
Kunst verdunkelte. Weil er nach seinen Fingern urtheilt, so sind seine Stücke überaus
schwer zu spielen; denn er verlangt, die Sänger und Instrumentalisten sollen durch ihre
Kehle und Instrumente eben das machen, was er auf dem Claviere spielen kan. Dieses aber
ist unmöglich. Alle Manieren, alle kleine Auszierungen, und alles, was man unter der
Methode zu spielen verstehet, drücket er mit eigentlichen Noten aus; und das entziehet
seinen Stücken nicht nur die Schönheit der Harmonie, sondern macht auch den Gesang
durchaus unvernehmlich. Alle Stimmen sollen mit einander, und mit gleicher Schwierigkeit
arbeiten, und man erkennet darunter keine Hauptstimme …
Bis heute stößt die Komplexität und Tiefe der Bach’schen Musik mit ihren großen gesangs- und spieltechnischen Anforderungen auf viel Bewunderung, teils aber auch auf Verwunderung bis Unverständnis – je nach Geschmack. Seinerzeit wurde Scheibes Veröffentlichung zum Ausgangspunkt einer über Jahre geführten publizistischen Kontroverse, in der sich der Leipziger Rhetorikdozent Johann Abraham Birnbaum auf Veranlassung des sichtlich getroffenen Johann Sebastian Bach als dessen Verteidiger profilierte.
Was aber hatte Scheibe, der 1736 nach mehreren vergeblichen Bewerbungen um musikalische Ämter von Leipzig in die zweite deutsche Musikmetropole Hamburg gezogen war, zur öffentlichen Herabwürdigung des Thomaskantors veranlasst? Möglicherweise der Umstand, dass er 1729 als Kandidat für die Organistenstelle an der Nikolaikirche am Improvisieren einer Fuge gescheitert war – da saß Bach in der Jury. Oder aber es brach sich hier schlicht das kopfschüttelnde Unverständnis eines Komponisten
der jüngeren Generation Bahn im Wunsch nach einer neuen Sanglichkeit, Durchhörbarkeit,
kurz: Natürlichkeit
in der Musik. Scheibe stand mit seiner Kritik jedenfalls nicht
alleine; seine Parteigänger darf man in Leipzig vor allem im studentisch geprägten
Musikensemble der Neukirche vermuten. Bezeichnend ist, dass dort am Karfreitag 1739 eine
Passionsmusik von Scheibe unter der Leitung des Organisten Gerlach erklang (den er zwei
Jahre zuvor noch kritisiert hatte), während der Rat der Stadt dem Thomaskantor im Vorfeld
mit einem Aufführungsverbot seiner Johannes-Passion gedroht hatte.
Das Jahr 1739 stellte auch die Weichen für Scheibes weitere Karriere: Markgraf Friedrich
Ernst von Brandenburg-Kulmbach, Statthalter in Schleswig-Holstein für den Schwager Christian
VI. von Dänemark, ernannte ihn zu seinem Kapellmeister, vermittelte ihn aber (aus Geldmangel?)
schon im Folgejahr in gleicher Funktion nach Kopenhagen. Dort und zeitweise von Sønderburg
aus war Scheibe bis 1769 für den dänischen Hof kompositorisch tätig. Weithin angesehen,
ist er 1776 gestorben – zu einer Zeit, als die Musikwelt beim Namen Bach
eher
an den zweitältesten Sohn des einstigen Thomaskantors dachte, Carl Philipp Emanuel.
Das heutige Programm bietet die seltene Gelegenheit, Kompositionen vergleichbarer Genres
von Johann Adolph Scheibe und Johann Sebastian Bach zu hören. Der Thomaskantor hatte
1729, also noch zu Scheibes Leipziger Zeit, die Leitung eines studentischen Collegium
musicum übernommen, das jede Woche öffentlich auftrat. Hierfür hat er Streicher- und
Bläser-Konzerte seiner Hofmusiker-Jahre zu Versionen mit konzertierendem Cembalo umgearbeitet.
Drei Sätze aus solchen Werken hat Max Volbers jetzt neu zu einem Concerto C-Dur
mit Blockflöte kombiniert. Es dient gleichzeitig als instrumentaler Auftakt zu den ersten
beiden Sätzen der geistlichen Sopran-Solokantate Mein Herze schwimmt im Blut
.
Sie stammt aus Bachs Zeit als Weimarer Hoforganist, er hat sie aber in Köthen und Leipzig
wiederaufgeführt. Ob auch Scheibe einmal ihren kantablen Arien-Dialog zwischen Singstimme
und Oboe hören konnte? Eine besondere Schönheit der Harmonie
leuchtet allenthalben
auch in der galanten Sinfonia zur Weimarer Kantate Himmelskönig, sei willkommen
auf. Möglicherweise hatte Scheibe beim Formulieren seiner Kritik aber eher Kompositionen
wie die Alt-Solokantate Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust
im Sinn. Deren
Uraufführung mag er am 28. Juli 1726 in der Thomaskirche miterlebt haben. Wie da –
am deutlichsten in der mittleren Arie – alle Stimmen mit einander, und mit gleicher
Schwierigkeit arbeiten
, davon zeigen sich viele Zuhörende heutzutage tief beeindruckt.
Die Sinfonia A-Dur für Streicher und Basso continuo komponierte Scheibe möglicherweise
noch in den 1730er-Jahren in Leipzig. In allen drei Sätzen folgt sie seinem Ideal einer
melodiebetonten Natürlichkeit
, in der die Violinen über dem gemessen dahinfließenden
Unterstimmensatz auch die rhythmischen Akzente setzen. Wie so viele Komponisten seiner
Generation hat sich Scheibe in der Vokalmusik an Georg Philipp Telemann orientiert. Von
dessen Oratorium Die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu, zu dem mit Karl Wilhelm
Ramler ein wegweisender Dichter der Aufklärung die Verse geliefert hatte, gelangte eine
Partiturkopie kurz nach der Uraufführung 1760 an Scheibe in Kopenhagen. Der begab sich
bald an eine eigene Vertonung. Darin exponiert die österliche Arie Willkommen,
Heiland
in Da-capo-Form den hymnischen Ton der Singstimme schon im einleitenden
Instrumentalritornell; in den Vokalabschnitten doppelt die erste Violine zu großen Teilen
die Gesangspartie. Nach diesem Prinzip ist auch schon die Arie O! Tötet mich nur
auch, vermessne Scharen!
angelegt. Sie stammt aus dem Passions-Oratorium Der
wundervolle Tod des Welterlösers, zu dem Scheibe selbst 1754 im engen Austausch
mit dem Hamburger Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock das Libretto erstellte. Immer
wieder unterbrechen hier Takte im Stil eines Accompagnato-Rezitativs deklamatorisch intensiv
den rhythmischen Fluss. Noch aus en 1740er-Jahren dürfte Scheibes Concerto G-Dur
stammen. Hier gibt er der Oboe d’amore reichlich Gelegenheit, über dem Streicher-Triosatz
bald virtuose, bald ariose Qualitäten zu entfalten. Zwischen den drei schnellen Sätzen
in der Grundtonart steht jeweils ein lyrisches Moll-Adagio.