2023/2024: Konzert 8
Zeit und Ewigkeit
Geistliche A-cappella-Werke aus Mittelalter, Renaissance und Barock von Walter Lambe, Thomas Tallis, Francisco Guerrero, Giovanni Pierluigi da Palestrina, Johann Schop, Johann Sebastian Bach u.a. New York Polyphony Sendung auf WDR 3 am 5. Juli 2024 ab 20:04 UhrIm Spiegel alter geistlicher Texte bewegt sich New York Polyphony durch das Kirchenjahr und gleichzeitig von frühen Formen der Mehrstimmigkeit im 12. Jahrhundert über die Motettenkunst der englischen und südeuropäischen Renaissance bis zur protestantischen Choraltradition im barocken Deutschland. Da eröffnen sich Einblicke in faszinierende Musikwelten, die den modulationsfähigen Vokalklang der vier Männerstimmen in immer wieder anderen Farben leuchten lassen.
Programmfolge
Zeit und Ewigkeit
In Amerika verwendet man den Begriff Ewigkeit
oft, um eine Zeitperiode zu beschreiben,
die zu lang ist. Die große Lehre der Musik und des Darstellens besteht darin, die Zeit
sowohl als einen einzigen Moment wie auch als Teil des gesamten menschlichen Daseins
in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft zu erfassen.
Unser Programm nähert sich dem Thema Ewigkeit
auf vielfältige Weise. Es erforscht
eine breite Palette von Vokalmusik des 12. bis 18. Jahrhunderts, beginnend mit frühesten
Harmonien, die sich bei der Erweiterung des Gesangs von einer einzelnen Stimme zu zweien
entwickelt haben. Mit polyphonen Werken der musikalischen Renaissance im 16. Jahrhundert
loten wir dann die Grenzen aus, die vier Stimmen erreichen können. Die Texte der Kompositionen
behandeln das ewige himmlische Leben, sie sind Fürbitten und Gebete um Führung und
Trost im Diesseits und im Jenseits.
Gerahmt ist das Programm von Vertonungen der Magnificat-Antiphon Gaudent in coelis
durch die in Rom wirkenden Sängerkomponisten Tomás Luis de Victoria und Giovanni
Pierluigi da Palestrina. Der Text erzählt von der unendlichen Freude der Märtyrer
im Himmel, was sich am Ende von Victorias Vertonung wunderbar darin widerspiegelt, dass
das Motiv zu den Worten exsultant sine fine
in den Cantus- und Tenorpartien über
gehaltenen Akkorden wiederholt wird. Palestrinas Musik an dieser Stelle ist weniger komprimiert,
ihre Textur kontrapunktischer, doch weist sie ebenso suggestiv ins Ewige. Musik der Ewigkeit,
sozusagen, aus der Ewigen Stadt.
Palestrinas Psalmvertonung Sicut cervus / Sitivit anima mea wurde erstmals 1587 veröffentlicht und ist zweifellos das beliebteste seiner Werke: ein ausgewogen fließendes vierstimmiges Stück, dessen bogenförmige Linien ein Widerschein der im Psalm geschilderten Sehnsucht der Seele nach Gott sind.
Auch die Mass for Four Voices von William Byrd besingt eine Sehnsucht: die nach der Rückkehr in den Schoß der einigen Kirche und im Agnus Dei den Wunsch nach ewigem Frieden im Glauben. Zur Entstehungszeit dieser Messvertonung war das Verhältnis zwischen Religion und Politik in England vergiftet: Nur ein spezieller Dispens Königin Elisabeths I. machte es Byrd möglich, für die katholische Liturgie zu komponieren. Seine vierstimmige Messe, für heimliche Gottesdienste gedacht, ist bei aller Intimität des Ausdrucks leidenschaftlich, sinnlich und mitunter aufbegehrend.
Im Choral O Ewigkeit, du Donnerwort thematisieren wir am Ende des Konzerts
die göttliche Ewigkeit, sowohl als donnernde Stimme Gottes wie auch als Zeit ohne
Zeit
. Die Harmonie wird in einem vertikalen Stil vereinfacht und der Kontrapunkt beseitigt,
um allein den Text sprechen zu lassen. Er stammt von Johann Rist (1607 ‒ 1667), dem
norddeutschen Theologen und Dichter, die Melodie ersann 1642 Johann Schop, der
Direktor der Hamburger Ratsmusik. Sie wurde erstmals 1653 von Johann Crüger harmonisiert,
dem Kantor an St. Nikolai in Berlin. Johann Sebastian Bach verwendete sie als
Leipziger Thomaskantor in seiner gleichnamigen Kantate BWV 20, die von ihm vor 300 Jahren,
am 11. Juni 1724, uraufgeführt wurde.