2024/2025: Konzert 1

Sonntag, 15. September 2024 WDR-Funkhaus 17 Uhr

Erste Sinfonien

Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 1 c-Moll, WAB 101 Johannes Brahms: Sinfonie Nr. 1 c-Moll, op. 68 Das Neue Orchester Ltg. Christoph Spering Christoph Spering Sendung auf WDR 3 am 11. Oktober 2024 ab 20:03 Uhr

Weit fortgeschritten im Repertoire, das sich die Alte-Musik-Bewegung auf dem Instrumentarium aus der Entstehungszeit der jeweiligen Werke erschließt, bewegt sich Christoph Spering mit seinem Neuen Orchester auch in der spätromantischen Sinfonik. Zum 200. Geburtstag von Anton Bruckner stellt er dessen 1. Sinfonie und die des neun Jahre jüngeren Johannes Brahms nebeneinander – beides Werke in c-Moll.

Programmfolge

Ludwig van Beethoven (1770–1827)
Ouvertüre c-Moll zum Trauerspiel Coriolan
von Heinrich Joseph von Collin, op. 62
für Streicher, 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte 2 Hörner, 2 Trompeten und Pauken (Wien 1807)

Allegro con brio

Johannes Brahms (1833–1897)
Sinfonie Nr. 1 c-Moll, op. 68
für Streicher, 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, Kontrafagott 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen und Pauken (Karlsruhe 1876)

1. Un poco sostenuto – Allegro – Meno allegro
2. Andante sostenuto
3. Un poco Allegretto e grazioso
4. Adagio – Più Andante – Allegro non troppo, ma con brio – Più Allegro

Pause

Anton Bruckner (1824–1896)
Sinfonie Nr. 1 c-Moll, WAB 101
für Streicher, 3 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen und Pauken (Linz 1868)

1. Allegro
2. Adagio
3. Scherzo. Schnell
4. Finale. Bewegt, feurig

Neue sinfonische Bahnen

Meine Herren! Sie haben mein Werk abgelehnt, und ich kann Ihnen nur sagen, wenn Sie Vergleiche mit Beethoven ziehen wollen: eine solche Höhe wird nicht mehr erreicht werden. Aber mein Werk ist hervorgegangen aus meiner besten Überzeugung! Mit diesen Worten wendet sich Johannes Brahms 1869 als Dirigent an die Wiener Philharmoniker, von denen sich einige zuvor geweigert haben, eines seiner Werke unter der Leitung des Orchesterchefs Otto Dessoff mitzuproben. Der Komponist ist 36 Jahre alt und hat sich im vorangegangenen Jahr, 1868, in der Musikwelt einen Namen gemacht mit der Bremer Uraufführung seines Deutschen Requiems. Jetzt geht es um seine Serenade für Orchester D- Dur op.11, ein Werk, das seit 1860 bereits in seiner Geburtsstadt, in Leipzig und New York erklungen ist, 1863 auch schon einmal Wien. Stimmt die Verbeugung des jungen Komponisten vor Ludwig van Beethoven nun letztlich die revoltierenden Orchestermitglieder gnädig? Brahms meint sie zweifellos ernst. Beethovens Œuvre, gipfelnd in seinem sinfonischen Werk, gilt den Musikschaffenden das 19. Jahrhundert hindurch als künstlerisches Nonplusultra. Was könnte in dieser orchestralen Großform noch Neues an Ideen auszudrücken sein nach den harmonischen Wagnissen der Eroica, der Dramatik der Schicksals-Sinfonie und dem visionären Pathos der Neunten mit ihrem grandiosen Finalchor?

Und doch: Brahms arbeitet längst an seiner ersten Sinfonie. Schon 1862 berichtet Clara Schumann von einem Eröffnungssatz voll wunderbarer Schönheiten, den Brahms ihr vorgelegt hat. Dieser Satz wird 1876 die erste Sinfonie eröffnen – nun erweitert um jene aufwühlende Einleitung, die in den schmerzvollen Vorhaltsakkorden über pochenden Bässen an den Beginn der Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach gemahnt. Wer Beethoven-Bezüge sucht, findet sie ansonsten aber reichlich, so in der Grundtonart c-Moll, dem bedrohlich abreißenden Motiv dreier über die Mollterz absteigender Achtel im ersten Satz, schließlich im Hauptthema des Finales, das unüberhörbar einen Melodieausschnitt aus dem Chor von Beethovens Neunter zitiert.

Überhaupt stellt sich Brahmsin der Ausgestaltung dieser Sinfonie in die klassische Tradition: Die Rahmensätze folgen der etablierten Sonatensatzform mit jeweils zwei dominierenden Themen, die zunächst einzeln vorgestellt und dann miteinander kombiniert durchgeführt werden. Der lyrische zweite Satz mit den melodiösen Bläsersoli ist ins hellere E-Dur entrückt, löst sich aber kaum einmal von einer melancholischen Grundstimmung. Mehr an die Menuett-Form eines Joseph Haydn als an ein Beethoven’sches Scherzo erinnert un poco Allegretto e grazioso der dritte Satz mit einem serenadenhaft-tänzerischen As-Dur. Im Finale gehen aus den tastenden Akkordfolgen und Einzelmotiven der langsamen c-Moll-Einleitung ein episodenhaftes Hornsolo und erhabene Choralakkorde der Posaunen hervor. Dann wendet sich der Satz zum hymnischen C-Dur-Allegro.

Otto Dessoff leitete am 4. November 1876 die Uraufführung in Karlsruhe, Brahms selbst dirigierte das Werk drei Tage später in Mannheim; binnen dreier Monate folgten weitere Aufführungen in München und Wien, Leipzig und Breslau. Clara Schumann notierte indes in ihrem Tagebuch Vorbehalte gegenüber einem Mangel an Melodien-Schwung, nachdem ihre Brahms die komplette Sinfonie vorab auf dem Klavier vorgestellt hatte. Ich muss sie doch erst mal vollständig vom Orchester hören, relativiert die erfahrene Musikerin solche Vorbehalte aber gleich in den nächsten Zeilen.

Die Frage nach dem Orchesterklang im späten 19. Jahrhundert spielt auch in der heutigen Aufführung eine wesentliche Rolle. Ein gravierender Unterschied der damaligen Orchesterpraxis zur modernen besteht in der Besaitung der Streichinstrumente: Mindestens bis in die 1930er Jahre spielten die Orchester in der Regel auf Darmsaiten und mit sparsamerem Einsatz des Vibratos. Bei den Blechbläsern hatten zwar zur Mitte des 19. Jahrhunderts entsprechende Ventilinstrumente die Naturtrompete, das Naturhorn und später vereinzelt auch die Zugposaune abgelöst; die Instrumente wiesen aber weiterhin engere Mensuren auf und damit einen gedeckteren Klang. Das ist sogar bis heute noch beim Wiener Horn der Fall, das in F gestimmt ist – im Gegensatz zum etwas jüngeren Doppelhorn, das zusätzlich noch die B-Stimmung anbietet und damit eine variableren Tonvorrat. Und bis heute bilden die Wiener Oboen eine Sonderform, die auf den Mensuren historischer Instrumententypen basiert. In einem solchermaßen aufgebauten Ensemble, wie es Christoph Spering präsentiert, stellen sich die groß besetzten sinfonischen Werke des späten 19. Jahrhunderts in heute ungewohnten, weiter ausdifferenzierten Klangrelationen dar.

Davon profitiert auch der Sinfonie-Erstling von Anton Bruckner. Geboren vor 200 Jahren, am 4. September 1824, und als Sängerknabe des Stiftes St. Florian schon früh in die Kirchenmusik hineingewachsen, war der versierte Orgelimprovisator und Chorleiter Bruckner im November zum Dom- und Stadtorganisten in Linz an der Donau berufen worden. Unzufrieden mit seinen musiktheoretischen Kenntnissen, nahm er Fernunterricht bei der Wiener Kontrapunkt-Koryphäe Simon Sechter, dann ab 1861 Kompositionsstunden beim Linzer Theaterkapellmeister Otto Kitzler, in denen das Werk Beethovens im Zentrum stand. Eine Frucht dieses Unterrichts wer 1863 eine Sinfonie in f-Moll, die der inzwischen 39-Jährige aber nur als Studienwerk empfand und nicht aufgeführt wissen wollte. Im Februar desselben Jahres hatte er durch Kitzlers Linzer Aufführung der Oper Tannhäuser die Musik Richard Wagners kennengelernt, dessen Orchestersprache er sich fortan zum kompositorischen Maßstab nahm. Im Herbst 1864 profilierte er sich zunächst mit einer großbesetzten Messe in d-Moll in Linz öffentlich als Komponist, dann wurde ein erstes gültiges sinfonisches Instrumentalwerk zu seinem nächsten großen Projekt: jene Sinfonie in c- Moll, an der er von Januar 1865 bis zum April des folgenden Jahres arbeitete. Nach zunächst stockenden

Proben erlebte sie am 9. Mai 1868 im Linzer Redoutensaal unter Bruckners Leitung ihre Uraufführung mit dem städtischen Theaterorchester. Bruckner legt hier ein kompositorisches Konzept vor, das er auch in den folgenden acht Sinfonien beibehalten wird. Gleich drei kontrastierende Themen bestimmen den Eröffnungssatz. Dessen durchbrochene Melodik entwickelt sich zunächst in wechselnden Klangfarben über pochenden Streicher-Vierteln und steigert sich allmählich bis zum Fortissimo. Das Bild des nun mit dem großen Orchester improvisierenden Organisten Bruckner drängt sich auf. Das zweite, dynamisch zurückgenommene Thema ist kontrapunktisch auf wechselnde Stimmgruppen verteilt; in den wuchtigen Blechbläsereinwürfen zum dritten Thema und avancierten chromatischen Modulationen scheint sich das Erlebnis der schillernden Orchesterdramatik Wagners zu spiegeln. Tastende Klangfolgen im Gestus eines Orchesterrezitativs prägen den Beginn des langsamen zweiten Satzes in der Grundtonart As-Dur; melodisch prägnanter schließt sich mit einem neuen Thema ein zweiter Abschnitt an. Im Zentrum steht ein eigener Teil im Dreier-Metrum, dessen Streicherfiguren am Ende in die variierte Reprise der vorangehenden Abschnitte überleiten.

Mit profilierter Motivik trumpft Bruckner im g-Moll-Scherzo furios auf; die gedämpften Töne im Idyll des pastoralen Trio-Abschnitts bleiben Episode. Mit rhythmischem Impetus und in dramatischem Ton drängt auch der Finalsatz in c-Moll nach vorne, bis sich in ruhigerer Bewegung Räume öffnen für die Exposition zweier weiterer Themen. In immer neuen Ausformungen und überraschenden Abbrüchen variiert Bruckner seine Gedanken weiter im überreichen Wechselspiel der Stimmgruppen und -farben bis hin zur machtvoll aufgebauten Coda im glänzenden C-Dur – das sich dann mit einem bemerkenswert kurzen und bündig akzentuierten Orchester-Schlussakkord verabschiedet.

Dass die zeitgenössische Musikkritik Brahms und Bruckner bald zu künstlerischen Antipoden hochstilisierte und als Vertreter einer absoluten respektive einer programmatischen Musik gegeneinander ausspielte, hat der ausgewogenen Rezeption ihres Schaffens leider lange im Weg gestanden. Beide bieten sie in ihren Werken großartige und grundlegende Ansätze, die Geschichte der Sinfonie am Ende des 19. Jahrhunderts in die Moderne fortzuschreiben – bei Brahms vornehmlich in der tiefgründigen orchestralen Ausformung kammermusikalischen Denkens, bei Bruckner in der überbordenden Entwicklung und originellen Verschränkung genuin orchestraler Ideen. Das soll nun im direkten Kontrast zur sinfonischen Orchestersprache von Ludwig van Beethoven umso deutlicher werden. Und deshalb stellt Christoph Spering den beiden Sinfonien heute Abend geradezu mottohaft Beethovens Ouvertüre zum Trauerspiel Coriolan von 1807 voran.

behe

Mitwirkende

Das Neue Orchester
Ltg. Christoph Spering

Das Neue Orchester spielt heute in folgender Besetzung:

Violine 1: Andrea Keller (Konzertmeisterin Bruckner), Emilio Percan (Konzertmeister Beethoven, Brahms), Christof Boerner, Zsuzsana Czentnar, Natalia Demina, Almut Frenzel, Petar Mancev, Sara Ristanović, Silke Sabinski, Salma Sadek,Tokio Takeuchi, Lilit Tonoyan, Christine Wasgindt
Violine 2: Sebastian Gässlein, Erika Apro, Marika Apro-Klos, Martin Ehrhardt, Frauke Heiwolt, Mirja Rapp, Mark Schimmelmann, Katarina Todorovic, Bettina Luise Weber
Viola: Antje Sabinski, Polina Babinkova, Johanna Brückner, Bettina Ecken, Marina Eichberg, Martin Hauser, Juliana Krampults
Violoncello: Clemens Weigel, Cornelius Boensch, Hannah Freienstein, Anne Habermann, Elisabeth Wand, Marie-Louise Wundling, Felix Zimmermann
Kontrabass: Jörg Lühring, Yuval Atlas, Timo Hoppe, Benjamin Wand
Flöte: David Westcombe, Ingo Nelken, Gudula Hufschmidt
Oboe: Ludovic Achour, Lorenz Eglhuber
Klarinette: Ernst Schlader, Christine Foidl
Fagott: Alexander Golde, Feyzi Çokgez
Kontrafagott: Sebastian Lauckner
Horn: Christian Binde, Achim Schmid-Egger, Laurids Wetter, Francesco Meucci
Posaune: Raphael Vang, Michael Scheuermann, Uwe Haase
Trompete: Thomas Oberleitner, Degenhart Reichberger
Pauken: Martin Piechotta