2024/2025: Konzert 4

Sonntag, 15. Dezember 2024 Trinitatiskirche 17 Uhr

Mirabile mysterium

Die Weihnachtsgeschichte im Spiegel der A-cappella-Kunst des 14. bis 17. Jahrhunderts. Motetten von Josquin Desprez, Pierre de Manchicourt, Orlando di Lasso, Jacobus Gallus, Jan Pieterszoon Sweelinck,Michael Praetorius u.a. Huelgas Ensemble Ltg. Paul Van Nevel Huelgas Ensemble Sendung auf WDR 3 am 24. Dezember 2024

Die biblische Weihnachtsgeschichte hat über die Jahrhunderte hinweg unzählige Komponisten inspiriert. Paul Van Nevel und sein Huelgas Ensemble werfen den Blick auf das unermesslich reiche Repertoire polyphoner Renaissance-Motetten, aber auch auf eingängige frühbarocke Choralsätze und volkstümliche spanische Villancicos, die in ihrer Thematik von den Prophezeiungen der Ankunft des Heilands über die Geburt im Stall von Bethlehem bis zur Huldigung der Weisen aus dem Morgenland führen.

Programmfolge

Anonymus Christe redemptor omnium · Gregorianischer Hymnus zur Weihnachtsvesper Charles de Courbes (um 1600) Du premier point de l’Orient · Geistlicher Gesang zu 4 Stimmen Balduin Hoyoul (um 1548–1594) Ab Oriente venerunt Magi · Motette zu 6 Stimmen Pedro de Pastrana (um 1490 · nach 1558) Señores el qu’es nascido – Villancico zu 3 Stimmen Hieronymus Lambardo (um 1580–1623) Levate capita vestra · Antiphon zum Weihnachtsfest zu 4 Stimmen Giaches de Wert (1535–1596) Vox in Rama · Motette zu 5 Stimmen Anonymus (um 1320) Vincti Presepio · Conductus zu 3 Stimmen Peter Cornelius (1824–1874) Drei Könige · Weihnachtslied zu 5 Stimmen Jan Pieterszoon Sweelinck (1562–1621) Ab Oriente venerunt Magi · Motette zu 5 Stimmen Anonymus (um 1280) Balaam de quo vaticinans · Isorhythmische Motette zu 3 Stimmen Jerónimo Luca (um 1630) Este niño que es sol · Villancico zu 2 und 8 Stimmen Anonymus (um 1300) Herodes in pretorio / Hey hure lure · Motette zu 3 Stimmen

Volkstümliche Episoden der kirchlichen Tradition

Die Episode, in der die Geschichte der Geburt Jesu erzählt wird, ist unbestreitbar die populärste Textstelle im Neuen Testament. Und sie regt auch die Phantasie am meisten an. Die malerische Beschreibung des Stalls, in dem Jesus zur Welt kam, der bukolische Besuch der Hirten, die exotische Erscheinung der Weisen aus dem Morgenland und – last but not least – der fürchterliche Kindermord des Königs Herodes: Diese bildstarken Ereignisse haben im Laufe der Jahrhunderte die menschliche Vorstellungskraft zu Mythen, Volksmärchen, apokryphen Evangelien und verkehrten Textinterpretationen befeuert, so dass Wahrheit und Fiktion kaum noch voneinander zu unterscheiden sind.

Ein Beispiel dafür ist die Beschreibung der Weisen aus dem Morgenland. Nur das Matthäus- Evangelium berichtet von dieser geheimnisvollen Erscheinung; die Evangelisten Markus, Johannes und Lukas erwähnen dieses Tableau mit keiner Silbe. Auch die römischen und jüdischen Geschichtsschreiber berichten nirgendwo von diesem Ereignis – nicht einmal Flavius Josephus, der im Jahr 37 oder 38 n. Chr. in Jerusalem geboren wurde, nahezu also ein Zeuge der ersten Stunde war. Dass die Weisen zu dritt waren, wird erst in Schriften aus dem 3. Jahrhundert beschrieben. In der Tradition der Ostkirche waren die Könige übrigens zu zwölft! Und erst in einer Chronik aus dem 8. Jahrhundert mit dem Titel Excerpta latina barbari werden die Namen der drei Könige genannt: Gathaspa, Melichior und Bithisarea – Kaspar, Melchior und Balthasar. Von da an wird die legendäre Reise der drei Könige weiter ergänzt und mit allerlei exquisiten Details über ihre persönlichen Merkmale, ihre Herkunft und Hautfarbe sowie ihre angebliche Begegnung mit dem König Herodes ausgeschmückt. Was diesen letzten Punkt betrifft: Nahezu alle Historiker sind sich einig, dass der Evangelist Matthäus die Realität nolens volens verzerrt hat, wenn er von Herodes’ Befehl zur Tötung aller Kinder unter zwei Jahren spricht. Herodes war in der Tat ein skrupelloser Diktator im Stile Stalins, der aus Angst vor dem Verlust des Throns auch nicht davor zurückschreckte, seine eigenen Kinder zu ermorden. Aber es ist doch zu weit hergeholt, wenn Matthäus diese Untat mit der Geburt Jesu in Zusammenhang bringt und ihr Ausmaß ins Irreale steigert. Was davon nun wahr sein mag – se non è vero, è ben trovato: wenn’s nicht stimmt, so ist‘s doch gut erfunden.

Wichtig ist, dass die Geschichten um die Geburt Jesu im Laufe der Jahrhunderte so bunt und bildhaft ergänzt wurden, dass die Kreativität von Miniaturisten, Kunstmalern, Schriftstellern, Dichtern und Komponisten üppige Nahrung fand. So wurde die Weihnachtsgeschichte zur volkstümlichen Episode aus der Tradition der Kirche.

Es ist also sehr aufschlussreich, dass die liturgische Musik für die Weihnachtszeit einen wichtigen Teil des geistlichen Repertoires im Kirchenjahr ausmacht, und dies durch alle Stilepochen. Die Basis vieler Weihnachtsgesänge bildet dabei der gregorianische Choral, die alte, unbegleitete und metrische freie liturgische Singweise der Kirche. In der mehrstrophigen Form des Hymnus mit seinem metrischen Reimtext nähert sich der gregorianische Gesang der Gattung des Liedes. So hat auch Martin Luther beispielsweise bei seinen weihnachtlichen Liedern Nun komm, der Heiden Heiland und Christum wir sollen loben schon auf Hymnen der römischen Kirche zurückgegriffen.

Mit seiner weit ausschwingenden bewegten Melodik spiegelt sich im Hymnus Christe redemptor omnium aus der Vesperliturgie für die Weihnachtstage die Freude der Schöpfung über die Menschwerdung Gottes wider.

Die drei anonymen mittelalterlichen Kompositionen im heutigen Programm sind im frühen dreistimmigen Ars-antiqua-Stil des 13. Jahrhunderts komponiert. Balaam de quo vaticinans ist über einem isorhythmischen, als in einem wiederkehrenden Grundmuster rhythmisierten gregorianischen Cantus firmus aufgebaut. Der Text der lebhaft gestalteten Oberstimme im effektvoll stockenden Hoquetus-Stil handelt von den Weissagungen des biblischen Propheten Balaam, der unter anderem die Ankunft der Könige in Bethlehem ankündigte. Im Gegensatz dazu ist Vincti presepio als Conductus vollständig homophon komponiert. Herodes in pretorio / Hey hure lure wiederum vereint als Motette drei unterschiedliche textliche und musikalische Ebenen: Während der Tenor als unterste Stimme sein Wiegenlied in französischer Sprache anstimmt, singen Duplum und Triplum in je eigenen lateinischen Versen vom vergeblichen Wüten des Herodes.

Auch zur Blütezeit der franko-flämischen Polyphonie hat die Weihnachtsliturgie im Motetten- Repertoire viel Beachtung gefunden. Die imitative Mehrstimmigkeit repräsentieren im heutigen Programm aber auch Komponisten aus dem Herbst der Renaissance. Zu ihnen zählt zum Ende des 16. Jahrhunderts Girolamo Lambardo in Venedig, der in seiner Weihnachtsmotette Levate capita vestra den Einzug des Gottessohnes als König der Welt in einer vierstimmigen Motette vertont; die Singweise der gregorianischen Antiphon liegt dabei als Cantus firmus in der Bassstimme. Die berühmte Motette Vox in rama von Giaches de Wert beleuchtet die traurige Seite der Weihnachtsgeschichte: den Klagegesang der untröstlichen Mutter, die ihre Kinder im Blutbad des Herodes verloren hat.

Zum gleichen Text haben der Stuttgarter Hofmusiker Balduin Hoyoul, der aus Lüttich stammte, und der Organist an der Amsterdamer Oude Kerk, Jan Pieterszoon Sweelinck, Motetten vorgelegt. Im bewegten fünf- bis sechsstimmigen Satz erzählen sie von der Ankunft der Weisen aus dem Morgenland in Bethlehem: Ab Oriente venerunt Magi. Diese Dreikönigsmotetten verdeutlichen die Faszination, die diese Geschichte auf die Komponisten ausübte, auch wenn sie damals noch in der Sprache der Liturgie verfasst war, dem Latein.

Das umfangreichste volkssprachige Weihnachtsrepertoire bietet vielleicht die englische Tradition der Christmas Carols an. Aber nicht weniger bezaubernd ist der Schatz an französischen Noëls und deutschen Weihnachtstliedern. Im kompakten akkordischen Satz zu vier Stimmen hat Charles de Courbes in Paris kurz nach 1600 das weihnachtliche Air Du premier point de l’Orient vertont und dabei vermutlich auf eine eigene Textdichtung zurückgegriffen. Eigene Verse verwendet auch Peter Cornelius zweieinhalb Jahrhunderte später in seinen Weihnachtsliedern op. 8. Für Drei Könige entwickelte er eine Arienmelodie, die sich mit einem Choralsatz zum LiedWie schön leuchtet der Morgenstern im Stil Johann Sebastian Bachs begleiten lässt.

Weniger bekannt ist das sehr umfangreiche Repertoire des spanischen Villancico, ein ebenfalls sehr beliebtes volkssprachiges Genre. Vor allem im 16. und 17. Jahrhundert genoss es auf der iberischen Halbinsel große Popularität, was dem einen ein Dorn im Auge war, für den anderen jedoch ein Segen. Die Differenzen kamen aus einer Ecke, aus der man es nicht vermutet hätte: In den Augen des spanischen Königs Philipp II. waren die Villancicos, die auch und vor allem in der Liturgie der Stundengebete gesungen wurden, ein zu volkstümliches Phänomen, und somit verbot er im Jahr 1596, diese spanischen Kompositionen während der Gottesdienste in seiner Hofkapelle aufzuführen. Für die spanische Kirche hingegen war diese Tradition eine wertvolle Unterstützung in der Gegenreformation, und sie regte die Komponisten an, das Villancico-Repertoire fortwährend zu erneuern. Zwei Werke aus diesem populären Schatz kommen heute zur Aufführung: das vielstimmige, recht sentimentale Esto niño que es sol und das tänzerich-fröhliche Señores el qu’es nascido für nur drei Stimmen. Dessen Komponist Pedro de Pastrana war übrigens zur Regierungszeit Karls V. der Kapellmeister des Infanten und späteren Königs Philipp.

Paul Van Nevel / behe
Übersetzung der niederländischen Textteile: Martina Fischer

Mitwirkende

Huelgas Ensemble Ltg. Paul Van Nevel Das Huelgas Ensemble singt heute in folgender Besetzung: Malwine Nicolaus, Hannah Ely – Sopran | Witte Maria Weber – Alt Achim Schulz, Loïc Paulin, Daniel Thomson – Tenor Hidde Kleikamp – Bariton | Andrés Soler Castaño – Bass