Saison 2002/2003: Konzert 5

Sonntag, 12. Januar 2003 17 Uhr Sendesaal des Deutschlandfunks

Ars nova und Ars antiqua

Weltliche Musik um 1300 Gothic Voices Sendung im Deutschlandfunk am 21.1.2003

Aus den zahlreichen weltlichen und geistlichen Programmen der vier Vokalisten von Gothic Voices, die sich wesentlich mit der Musik zwischen dem 11. bis 15. Jahrhundert beschäftigen, akzentuiert das 1980 gegründete Ensemble in seinem Programm die Situation zwischen altem und neuem musikalischen Stil, so wie sie sich um 1300 in der weltlichen Musik offenbart. Der Komponist Philippe de Vitry hatte sein Traktat programmatisch mit "Ars nova" (neue Kunst) überschrieben - alle bisherige Musik wurde damit automatisch zur "alten Kunst", zur Ars antiqua. Wie die Komponisten die Grenzen des Alten verschoben, erklingt neben vielen Trouvères-Liedern u.a. in Kompositionen von Solage, Guillaume de Machau, Gilles Binchois und Guillaume Dufay.

Programmfolge

Gace Brulé (ca. 1160-nach 1213)
A la douçor de la bele seson

anonym
Pange melos lacrimosum

Blondel de Nesle (spätes 12. Jh.)
Ma joie me semont

***

anonym
Flos in monte cernitur
Jerusalem! grant damage me fais
Mundus vergens in defectum

***

Ernous li Viele (2. Hälfte 13. Jh.)
Por conforter mon corage

anonym
Hypocrite / Velut stelle / ET GAUDEBIT
Je m'en vois / Tels a mout / OMNES

***

Wibers Kaukesel (1. Hälfte 13. Jh.)
Fins cuers enamourés

anonym
L'autre jour / Au tens pascour / IN SECULUM
Plus bele que flors / Quant revient / L'autrier jour / FLOS FILIUS EIUS

Pause

Solage (2. Hälfte 14. Jh.)
Le basile
Tres gentil cuer

***

Guillaume de Machaut (ca. 1300-1377)
Dame je vueil endurer
Fins cuers doulz / Dame je sui cilz
Rose, liz, printemps, verdure
Se mesdisans en acort

***

Gilles Binchois (ca. 1400-1460)
Se la belle
Dueil angoisseux

***

Guillaume Dufay (ca. 1400-1474)
J'atendray tant
Adieu m'amour
Hé, compaignons, resvelons nous

Einführung

Etwa um das Jahr 1320 erschienen in Frankreich zwei Traktate: "Ars Nova" von Philippe de Vitry und "Ars Novae Musicae" von Johannes de Muris. Den Begriff "Ars nova" übernahmen die Gelehrten, um das Aufkommen einer fortschrittlichen Polyphonie im 14. Jahrhundert zu benennen, insbesondere in Frankreich. Das führte unausweichlich dazu, dass die Musik vor 1300 nun als "Ars antiqua" bezeichnet wurde. Unser heutiges Programm besteht aus weltlicher Musik des Mittelalters, die die verschiedenen Stile und Satzweisen vor und nach 1300 vorstellt. Die erste Hälfte (Ars antiqua) enthält Lieder der Trouvères, Conductus- und Motetten-Kompositionen aus Frankreich und England, überwiegend von anonymen Meistern. Die zweite Hälfte (Ars nova) setzt sich aus Werken von vier Meistern aus dem französischen und franko-flämischen Raum zusammen: Solage, Guillaume de Machaut, Gilles Binchois und Guillaume Dufay; sie zeigt, wie ihre harmonischen Experimente die Schranken aufgebrochen hatten, in denen sich ihre Vorgänger noch bewegten. Neben der Stimmenzahl einer Komposition (die in diesem Konzert zwischen einer und vieren schwankt) charakterisieren sowohl die Satztechnik als auch die zugrundeliegende Textform den Stil und die Struktur der Musik.

In der polyphonen Musik der Ars antiqua legte man in der Regel über eine ausgewählte musikalische Linie eine zweite, dann eine dritte und - in Ausnahmefällen - eine vierte Stimme, wobei jede etwa den gleichen Tonrahmen aufwies. Dadurch unterscheiden sich höchste und tiefste Stimme in ihrem Umfang nur minimal, und oft kann man keine bestimmte Partie als "Melodiestimme" bezeichnen. Ganz anders in der Musik der Ars nova, die im zweiten Teil unseres Programms zu hören ist: Bei Solage und Machaut scheint die Melodie in der zweit-untersten Stimme zu liegen; jede Stimme hat einen charakteristischen Umfang, entweder in der Höhe oder in der Tiefe. Ein Jahrhundert später, bei Binchois und Dufay, hat die Melodie dann die Oberstimme erreicht, sodass ein für den heutigen Hörer wesentlich vertrauteres Klangbild entsteht.

Textlich besteht ein deutlicher Kontrast zwischen den beiden beliebtesten Ars-antiqua-Formen, dem Conductus und der Motette. Im polyphonen Conductus besteht der Text aus einem Vers oder einer Folge von Versen in gereimtem Latein, von allen Stimmen zugleich vorgetragen, und zwar in der Form, dass die Zeilen sich niemals überlappen (ein Conductus atmet deshalb wie ein Sololied, egal, wie viele Stimmen beteiligt sind). Das bedeutet aber auch, dass alle Stimmen die Vokale im selben Moment singen, sodass die Harmonieänderungen im Stücks zugleich durch die plötzlich wechselnde Farbe des Vokalklangs unterstrichen werden. Die Form des Conductus war zwischen etwa 1160 und 1230 geläufig und wurde dann von derjenigen der Motette abgelöst.

Im Unterschied zur gleichzeitigen Deklamation desselben lateinischen Textes in allen Stimmen des Conductus begegnen in der Motette bis zu drei verschiedene Texte – nicht einmal unbedingt in derselben Sprache –, die gleichzeitig gesungen werden und für den Hörer ein Moment der Verwirrung darstellen. Hinzu kommt, dass die einzelnen Texte für gewöhnlich in verschiedenen Metren gehalten sind. Das hat unterschiedliche Zeilenlängen zur Folge und eine kaleidoskopartige, ineinander verzahnte Satzstruktur. Die unterste Stimme der Motette, der "Tenor", bietet in der Regel den (gelegentlich wiederholten) Ausschnitt aus einem gregorianischen Cantus firmus oder sogar aus einem populären Lied, über dem die anderen Stimmen ihre Melodien entwickeln. Das auffälligste Merkmal der Motette ist das Vorhandensein mehrerer Titel, wie z.B. Hypocrite / Velut stelle / ET GAUDEBIT, von denen der letzte die Herkunft des Tenors angibt.

Das Repertoire der Trouvère-Lieder ist in relativ großem Umfang überliefert. Wir kennen die Lyrik zu nahezu 2.000 Sololiedern aus dem Frankreich zwischen 1170 und 1300, die sich mit so unterschiedlichen Dingen wie der höfischen Liebe, dem Spinnen, dem Aufruf zum Kreuzzug, Gebeten an die Jungfrau Maria und erotischen Begebenheiten auf dem Lande beschäftigen. Die Trouvères wirkten im nördlichen Frankreich, sie schrieben in der "Langue d'oïl", dem mittelalterlichen Französisch (im Gegensatz zu den Troubadours im Süden, die sich der "Langue d'oc" bedienten, die dem Provenzalischen näher steht). Gace Brulé, mit dessen Chanson A la douçor de la bele seson wir beginnen, kam aus der Champagne und stand offensichtlich mit Geoffrey, dem Grafen der Bretagne und Bruder des englischen Königs Richard Löwenherz, in Verbindung; Geoffreys Name jedenfalls wird im Nachsatz-artigen "Envoi" des Liedes genannt. Wie Blondel de Nesles Chanson Ma joie me semont besingt sie die höfische Liebe.

Der unbekannte Autor von Jerusalem! grant damage me fais hat uns ein Kreuzzugslied verfasst, aber vielleicht nicht in der Art, die wir erwarten: Der Text bringt die tiefe Verachtung einer Frau gegenüber der Stadt Jerusalem zum Ausdruck, zu der ihr Geliebter als Kreuzritter aufgebrochen ist. Nur die Worte dieser bemerkenswerten Dichtung sind erhalten, doch hat Christopher Page, der Gründer der "Gothic Voices", dazu eine Musik im Stil des zeitgenössichen "Grand Chant" geschrieben.

Wibers Kaukesel, Komponist des Grand Chant Fins cuers enamourés, stammt wahrscheinlich aus Arras; auf jeden Fall weiß man etwas mehr über ihn als über Ernous li Viele, dessen Beiname sowohl "der Ältere" als auch "der Fidel-Spieler" bedeuten kann. Ernous' Pastourelle Por conforter mon corage mit ihrer bodenständigen Erzählung von der Verführung einer Schäferin durch einen Ritter steht in stilistischem Kontrast zu den hohen Idealen des Grand Chant.

Unter der polyphonen Musik der ersten Programmhälfte findet sich mit dem zweistimmigen Conductus Pange melos lacrimosum eine Elegie auf Friedrich Barbarossa, der im Juni 1190 ertrank, als er in Kleinasien unterwegs war, um mit Richard Löwenherz und dem französischen König Philipp II. August den dritten Kreuzzug anzuführen. Die Komposition zeigt eine Besonderheit des Conductus in seiner "Cauda": eine melismatische, ausgefeilte Vertonung der vorletzten oder letzten Silbe des Verses, nachdem die vorausgegangenen Worte mit nur jeweils einem Schlag pro Silbe bedacht wurden. Zwei weitere Conductus-Vertonungen begegnen in diesem Teil des Konzertes: das dreistimmige Flos in monte cernitur - ungewöhnlich in der Wahl der lateinischen Sprache für ein Liebesgedicht - und das turbulente vierstimmige Mundus vergens in defectum, das möglicherweise die Kriege zwischen England und Frankreich in den 1190er Jahren zum Gegenstand hat. Seltenheitswert kommt ihm insofern zu, als es zur kleinen Gruppe vierstimmiger Conductus gehört.

Die übrigen Stücke des ersten Konzertteils sind Motetten, wie schon ihre mehrtextigen Titel andeuten. Ein gerüttelt Maß Ironie kann man in dem Kontrast der beiden Haupttexte in Hypocrite / Velut stelle / ET GAUDEBIT erkennen, von denen der erste offen die Korruption in der Kirche anprangert, während der zweite vorgeblich die priesterlichen Tugenden aufzählt. Von höfischer Liebe mit ihrem klassischen Topos der "fernen Geliebten" handelt noch einmal Je m'en vois / Tels a mout / OMNES. Der Schäferin, die im Mittelpunkt von L'autre jour / Au tens pascour / IN SECULUM (einer Pastourelle aus dem Roman "Robin und Marion") steht, gelingt es diesmal, die unerwünschten Avancen des Kavaliers zurückzuweisen, dem Robin im Grünen eine Vorstellung vom Bauerntanz gibt. Der Text der wunderschönen Motette Plus bele que flors / Quant revient / Lautrier jour / FLOS FILIUS EIUS kombiniert weltliche und geistliche Verehrung im Lob auf des Dichters Geliebte und die Jungfrau Maria.

Die zweite Hälfte des Programms führt uns ins 14. und 15. Jahrhundert. Allmählich ändern sich die poetischen Formen: Obschon, wie Machauts hinreißende Komposition Fins cuers doulz / Dame je sui cilz beweist, die Motette noch existiert, stoßen wir nun auf Ballade, Virelai und Rondeau. Über Solage wissen wir sehr wenig (nicht einmal seinen Vornamen), was um so bedauerlicher ist angesichts der Qualität seines Schaffens. Wir können ihm zehn oder elf Kompositionen zuschreiben, jede auf ihre Art experimentell und bemerkenswerterweise zu einem Großteil vierstimmig. Solages Ballade Le basile sprudelt geradezu über vor Energie und Spannung, in direktem Kontrast zu dem viel gelöster anmutenden Virelai Tres gentil cuer.

In Guillaume de Machaut treffen wir auf den großartigsten französischen Dichter und Komponisten des 14. Jahrhunderts und den Hauptvertreter der Ars nova. Nacheinander in Diensten Johanns von Luxemburg, König von Böhmen, dessen Tochter, der Herzogin der Normandie, Karls von Navarra, Karls V. von Frankreich und dessen Bruder Jean, dem Herzog von Berry, wurde er 1333 Kanonikus in Reims. Als Lyriker bewunderte (und imitierte) ihn der englische Dichter Geoffrey Chaucer. Ein Großteil des Machaut'schen Œuvres ist in 32 Manuskripten erhalten; sie bilden gleichzeitig ein Gutteil dessen, was uns überhaupt an Musik aus dieser Epoche überliefert ist. Im heutigen Programm ist Machaut mit vier Stücken vertreten, die von der höfischen Liebe handeln. Bei den einstimmigen Gesängen Dame je vueil endurer und Se mesdisans en acort handelt es sich um Virelais. Der Motette Fins cuers doulz / Dame je sui cilz liegt als Tenor wiederum Fins cuers doulz in seiner Gesamtheit zugrunde, aber zu einem Drittel seines ursprünglichen Tempos verlangsamt. Rose, liz, printemps, verdure ist als vierstimmiges Rondeau angelegt. Es besteht aus acht Textabschnitten, die auf zwei musikalische Abschnitte verteilt sind, in der Form A-B-a-A-a-b-A-B, wobei die Textteile 1 und 2 den Abschnitten 7 und 8 entsprechen, außerdem der vierte Abschnitt noch einmal dem ersten.

Mit Binchois und Dufay sind wir mitten im 15. Jahrhundert. Beide wurden um das Jahr 1400 geboren, 100 Jahre später als Machaut, und beide wurden wie er als führende Komponisten ihrer Zeit angesehen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen der Kompositionsweise des 14. und des 15. Jahrhunderts besteht darin, dass sich nun die Melodie in der Regel aus der Mittelstimme in die Oberstimme bewegt hat. Darum musizieren wir Stücke wie Se la belle, das im Original nur in der Oberstimme textiert ist, indem wir die beiden Unterstimmen auf einem neutralen Vokal wie dem französischen "ü" singen (das ermöglicht eine klare Stimmgebung, ohne die Details des darüber gesungenen Textes zu verunklaren). Das Rondeau Se la belle steht in deutlichem Kontrast zu einem der bekanntesten Binchois-Stücke, Dueil angoisseux. Diese Ballade bietet eine Reihung von Versen in A-A-B-Form, die durch ein Envoi ("Princes, priez..."), ebenfalls auf die Musik des B-Teils, ergänzt wird. Zusätzliche Ausdrucksstärke erhält das Stück durch die Wiederholung der Worte "Et se ne puis ne garir ne morir" am Ende jedes Verses und des Envoi.

Am Ende unseres Programms stehen drei Rondeaus von Dufay. Wurde Binchois' Musik für ihre Ausgewogenheit und Subtilität gelobt, begegnet uns der mitunter draufgängerische Dufay eher als früher Renaissance-Künstler denn als Komponist des Spätmittelalters. Das offenbart ein Vergleich zwischen der Hochstilisierung höfischer Liebe in Adieu m'amour und dem fröhlichen Ungestüm des Hé, compaignons, resvelons nous. Die Musik tritt in ein neues Zeitalter...

Leigh Nixon

Mitwirkende

Gothic Voices
Catherine King - Mezzosopran Steven Harrold - Tenor Julian Podger - Tenor Leigh Nixon - Tenor