Saison 1999/2000: Konzert 6

Sonntag, 27. Februar 2000 17 Uhr Sendesaal des Deutschlandfunks

Motetten

von Bach, Doles, Hiller, Fasch und Brahms Rheinische Kantorei Hermann Max Sendung im Deutschlandfunk am 21.3.2000

Nicht allein in Köln, sondern auch im Umfeld Kölns finden sich namhafte Ensembles historischer Aufführungspraxis. Die Rheinische Kantorei (in Dormagen beheimatet) unter ihrem Leiter Hermann Max wird in einem Chorkonzert reizvolle Beispiele der Gattung Motette aus dem 18. und 19. Jahrhundert interpretieren. Die Thomaskantoren Johann Friedrich Doles und Johann Adam Hiller werden ebenso wie Johann Sebastian Bach und Johannes Brahms mit repräsentativen Kompositionen dieser Gattung vertreten sein.

Programmfolge

Johann Sebastian Bach (1685-1750) Lobet den Herrn, alle Heiden Motette zu vier Stimmen (BWV 230) Johann Friedrich Doles (1715-1797) Wer bin ich, Herr Motette zu vier Stimmen mit Tenor-Solo (gedruckt Leipzig 1777) Johann Adam Hiller (1728-1804) Alles Fleisch ist wie Gras Motette zu vier Stimmen (Leipzig 1780) Carl Friedrich Fasch (1736-1800) Der 119. Psalm Motette für vier- bis achtstimmigen Solo- und Tuttichor Johannes Brahms (1833-1897) Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen Motette zu vier bis acht Stimmen (op. 74/1, Wien 1877) Johann Sebastian Bach Fürchte dich nicht, ich bin bei dir Motette zu acht Stimmen in zwei Chören (BWV 228)

Im Banne Bachs

Das heutige Programm stellt reizvolle Beispiele der Gattung "Motette" vor. Die jeweiligen Komponisten beziehen sich in ihren Werken mehr oder weniger auf die entsprechenden Vorbilder von Johann Sebastian Bach. Darum rahmen zwei Motetten des Thomaskantors das Programm ein.

Bachs Motette Lobet den Herrn, alle Heiden (Psalm 117,1-2) ist möglicherweise der Einleitungschor einer Kantate aus dem verlorenen 5. Leipziger Kantatenjahrgang gewesen, wobei dann vermutlich duplierende Instrumente die Vokalstimmen mitgespielt haben. Das Werk ist nur in Abschriften aus dem frühen 19. Jahrhundert überliefert. Die Text- und Liedvorlagen der Motette Fürchte dich nicht, ich bin bei dir sind Jesaja 41,10, Jesaja 43,1 und die Strophen 11 und 12 des Liedes "Warum sollt ich mich denn grämen". Die Entstehungszeit der Motette ist weiterhin unbekannt. Denkbar ist die Entstehung vor 1723. Ein Zusammenhang der Motette mit der Gedächtnispredigt Salomon Deylings über Jesaja 43,1 für Sophia Winckler am 4.Februar 1726 ist nicht erwiesen. Die Motette strotzt von musikalisch-rhetorischen Figuren, die das Werk exemplarisch zu einer Rede in Tönen machen.

Johann Friedrich Doles war durch sein Amt als zweiter Nachfolger Bachs im Leipziger Thomaskantorat verpflichtet, für den gottesdienstlichen Gebrauch Motetten zu schreiben. Die von ihm bevorzugte Form wird an der Motette Wer bin ich, Herr in diesem Programm exemplarisch belegt: Einem ersten Teil in freiem Stil und über einen Spruch (biblisch oder freie Dichtung) folgt ein vom Chor in langen Notenwerten gesungener Choral, in den hinein der Solo-Tenor einen meditativen Text singt. Die melismatischen Führungen dieser Solo-Partie weisen Doles als Kenner französischer Stilistik aus. Seine Motetten dieser Art waren bei den Thomanern so beliebt, dass ehemalige Thomaner bei Gottesdienstbesuchen auf die Orgelempore eilten, um eine solche Motette "herunterzuorgeln", wenn sie ihnen von früher noch bekannt war.

Johann Adam Hiller folgte Doles im Amt des Thomaskantors. Seine Motetten weisen ihn als guten Kontrapunktiker, geistreichen Harmoniker und Beherrscher des modernen "gusto" aus. Die Motette Alles Fleisch ist wie Gras hatte er 1780 auf den Tod der sächsischen Landesfürstin Maria Antonia komponiert. Schließlich wurde das Stück seine eigene Begräbnismusik, die an seinem Grabe von den ihn verehrenden Thomanern gesungen wurde.

Carl Friedrich Fasch war ab 1756 als zweiter Cembalist am Hofe Friedrichs des Großen der Kollege von Carl Philipp Emanuel Bach. Fasch war als fortschrittlicher Komponist unter den Berliner Musikern bekannt. Entscheidende Anregung zur für seine Zeit außergewöhnlich schwierigen und umfangreichen Motette über den 119. Psalm (mit einer Aufführungsdauer von mehr als einer halben Stunde) erhielt er von Johann Friedrich Reichardt, der ihm aus Italien eine 16-stimmige Messe Orazio Benevolis mitbrachte. Als Gründer und Leiter der Berliner Singakademie hat er als einer der Ersten Bachs Motetten aufgeführt. Die Entstehung seiner Vertonung des 119. Psalms fällt in die Zeit, in der in Berlin Mozarts Opern und deren Stil gefeiert wurden. So schimmern in den Solo-Partien der Motette immer wieder gleichsam Mozart-Arien durch. Diese anspruchsvollen Aufgaben hat Fasch von den Berliner "Operisten" singen lassen, die allerdings zunächst - wohl aus mangelnder Ensemble-Erfahrung - nicht in der Lage waren, zu befriedigenden Lösungen zu gelangen. Erst nach umfangreichen Studien wurden die Opernsänger brauchbare Mitglieder der Singakademie, und zwar als Vorsänger, Stimmführer und Träger eines Solo-Ensembles und konzertanter Solo-Partien. Faschs Motette über den längsten Psalm der Bibel - auch von Heinrich Schütz in seinem "Schwanengesang" vertont - erhält ihre Lebendigkeit aus dem steten Wechsel zwischen Soli und Tutti, aus ebenso starken und harmonisch kraftvollen wie anmutigen Wort-Ton-Affekten, aus dem Wechsel zwischen Vier- und Achtstimmigkeit sowie der Verwendung eigenwilliger Formen bei den jeweiligen Sätzen.

Johannes Brahms als einen "Vater der historischen Aufführungspraxis" zu bezeichnen ist insofern korrekt, als er tatsächlich als einer der Allerersten Fragen stellte, mit denen sich die Aufführungspraxis heute intensiv beschäftigt. Er hat exzessiv Quellenstudien betrieben und lehnte Wiedergaben älterer Musik in Form von Bearbeitungen strikt ab. Die Auseinandersetzung mit dem Werk Bachs stand während seines gesamten Musikerlebens an zentraler Stelle. Wie umfangreich seine Kenntnis Bachscher Werke war, zeigt allein schon eine Liste mit Satzfehlern, die er dort entdeckte. Er besaß eine Reihe Bachscher Autographe, und war nicht nur Subskribent der ersten Bach-Gesamtausgabe, sondern betätigte sich hier auch als Editor. Die Motette "Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen" hat er immer wieder umgearbeitet. Heute gilt sie als eine der großartigsten Vertreterinnen der Gattung im 19. Jahrhundert.

Hermann Max

Die Mitwirkenden

Die Rheinische Kantorei musiziert heute in folgender Besetzung:
Sopran: Veronika Winter (Solo im 119. Psalm und in BWV 228), Annette Müller (Solo im 119. Psalm), Tanja Obalski, Susanne Pfauth, Ayala Sicron, Andrea Stenzel

Alt: Beate Westerkamp (Solo im 119. Psalm und in BWV 228), Edzard Burchards, Uwe Czyborra-Schröder, Dorothee Merkel, Grit Schlesiger

Tenor: Michael Schaffrath (Solo im 119. Psalm), Bernhard Scheffel (Solo im 119. Psalm), Dieter Wagner (Solo in BWV 228), Lothar Blum, Markus Jäckle

Bass: Stephan Schreckenberger (Solo im 119. Psalm), Gregor Finke, Thomas Herberich, Yoshitaka Ogasawara, Koen van Stade
Ltg. Hermann Max