Saison 2001/2002: Konzert 2

Sonntag, 28. Oktober 2001 17 Uhr Sendesaal des Deutschlandfunks

Produzioni Armoniche - Eine Italienerin in Paris

Musik der Komponistin Antonia Bembo u.a. convoce.coeln Sendung im Deutschlandfunk am 6.11.2001

Jean-Baptiste Lully war nicht der einzige italienische Komponist des Sonnenkönigs Louis XIV. Auch die Sängerin Antonia Bembo (ca. 1640-1707) - als Komponistin immerhin eine Schülerin des berühmten venezianischen Opernkomponisten Francesco Cavalli - wirkte in der Nähe des Hofes von Versailles. Sie ließ Familie, Hab und Gut in Italien zurück, um ihr Talent als Komponistin in Frankreich auszuleben. Unter dem Titel "Produzioni armoniche" widmete sie eine Zusammenstellung von 41 Vokalkompositionen aus ihrer Feder dem französischen Herrscher. Ihre Vokalwerke verbinden französische Noblesse mit italienischer Emotionalität. Virtuose Effekthascherei ist ihrer Musik fremd. Das Programm von Maria Jonas und convoce.coeln erweckt eine besondere Auswahl der farbigen und emotional dichten Werke der lange ungehört gebliebenen Komponistin zu neuem Leben.

Programmfolge

Antonia Bembo (um 1640 - nach 1710)
Clizia amante del sole: "Lungi dal patrio tetto"
Aria "Beata sirena"
Air "Ha, que l'absence"

Elisabeth-Claude Jacquet de la Guerre (1665/66-1729)
Chaconne pour clavecin

Antonia Bembo
Aria "Volgete altrove il guardo"
Aria adagio "Habbi pietà di me"
Aria "Mi basta così"

Pause

Antonia Bembo
Aria "Anima perfida"
Aria allegra "Mi consolo, non son solo"
Aria affettuosa "S'è legge d'Amore"

Giuseppe Maria Jacchini (1667-1727)
Sonata per violoncello

Antonia Bembo
Aria "Passan veloci l'hore"

Robert de Visée (um 1655-1732/33)
Pièces de theorbe

Antonia Bembo
Lamento della Vergine "D'omnipotente Padre"

Einführung

Die Sammlung Produzioni armoniche ("Harmonische Erzeugnisse") von Antonia Bembo enthält Kantaten und Arien, die zusammen ein faszinierendes musikalisches Porträt dieser Sängerin und Komponistin entstehen lassen. Antonia wurde um das Jahr 1640 als einziges Kind eines Arztes und seiner Frau im Veneto geboren und erhielt während der 1650er Jahre eine gründliche Ausbildung in Musik und Literatur. Dokumente aus diesem Jahrzehnt belegen, dass Francesco Cavalli, der bedeutendste zeitgenössische Opernkomponist in Venedig, als einer ihrer privaten Lehrer fungierte und dass der Gitarrist und Komponist Francesco Corbetta sie beim Singen begleitete. Nur zeitweilig stellte sie eine vielversprechende musikalische Karriere hinter ihre privaten Gefühle zurück und erwarb durch ihre Heirat mit Lorenzo Bembo im Jahre 1659 zugleich den Titel einer venezianischen Edeldame. Als ihr Ehemann 1667-69 zum Krieg um Candia einberufen wurde, ließ er sie in Venedig zurück, um für die drei gemeinsamen Kinder zu sorgen. Doch kam er als gebrochener Mann aus Kreta wieder und widmete seiner Frau fortan nur wenig Aufmerksamkeit. Ihr Versuch, die Scheidung einzureichen, blieb ohne Erfolg, und das Ehepaar lebte bis zu Antonias Flucht nach Paris im Jahre 1677 getrennt. Im Vorwort zu den Produzioni armoniche spielte sie auf eine Person an, "die sie aus Venedig hierher brachte", und die engen Verbindungen von Corbetta zum französischen Hof und seiner musikalischen Kultur lassen den Gitarristen als einen durchaus wahrscheinlichen Kandidaten für den ungenannten Helfer bei ihrer Flucht erscheinen. Er mag Antonia auch auf der Gitarre begleitet haben, als sie vor Ludwig XIV. sang und sich dadurch eine lebenslange Pension sicherte, von der sie fortan in einer Frauengemeinschaft in Paris lebte. Die Produzioni armoniche bilden den ersten von insgesamt sechs Bänden mit musikalischen Manuskripten, die Bembo zum Dank für diese königliche Unterstützung zusammenstellte.

Für ihre Kantate Lungi dal patria tetto wählte die Komponistin die Geschichte der Clytia aus Ovids Metamorphosen, hinter der autobiographische Anspielungen vermutet werden können. Clizia (oder Antonia) lebt darin für Helios (oder den Sonnenkönig Louis XIV) und wird, um ihm während des Tagesverlaufs folgen zu können, als Sonnenblume wiedergeboren ("rinascerà"). Während die Figur der Clizia in bildlichen Darstellungen eine gängige Ikonographie für Gefolgsleute des Sonnenkönigs bildete, findet sich in Bembos italienischer Kantate eine der weit selteneren musikalischen Behandlungen des Sujets. Obwohl unbekannt ist, in welchem Maße Bembos Talente sich in ähnlicher Weise wie auf die Musik auch auf die Dichtkunst erstreckten (für viele der von ihr vertonten Dichtungen sind die Verfasser unbekannt), so legt doch ihre Ausbildung nahe, dass sie auch dafür die erforderlichen Fähigkeiten erworben haben mag. Immerhin verfolgte ihr Vater mit dem Verfassen von Oratorientexten und Gedichten zu Ehren seiner Studienkollegen oder Dienstherren eine Art nebengeordneter zweiter Karriere.

In Übereinstimmung mit den dichterischen Traditionen des 17. Jahrhunderts handeln viele der Arien in den Produzioni armoniche von den Gefahren sowie der Faszination der Liebe. In Beata sirena bringen die unentrinnbaren Verlockungen der Stimme den unerhörten Liebhaber um den Verstand, und dennoch verlangt ironischerweise der Erzähler nur nach noch mehr Gesang. Die "Sirene" hebt an mit einem ansteigenden und wieder abfallenden Melisma, um die Bedeutung des Wortes "libertà" (Freiheit) zu illustrieren - ein Madrigalismus, der als charakteristisches Merkmal für eine tief in der musikalischen Praxis des 17. Jahrhunderts verwurzelte Kompositionsart zu verstehen ist. Die Arie ist in zwei Teilen gebaut, wobei die zweite Strophe die Musik der ersten nur geringfügig abwandelt.

Im späten 17. Jahrhunderts veröffentlichten in Frankreich Frauen - unter ihnen die vor allem als Cembalo-Virtuosin gefeierte Elisabeth Jacquet de La Guerre - ähnlich wie ihre männlichen Kollegen populäre Unterhaltungsmusik in Form sogenannter "Airs", die monatlich bei der Firma Ballard in Druck gingen. Obwohl Bembo ihre Musik nicht bei Ballard herausbrachte - keines ihrer Werke wurde zu Lebzeiten gedruckt -, entspricht doch Ha, que l'absence est un cruel martire, das letzte Air in den Produzioni armoniche, in Charakter und Stil dem Typus des Pariser Air der Jahrhundertwende. Die gedehnte erste Note in der Singstimme auf der Exklamation "Ha" steht für die Sehnsucht nach dem abwesenden Gegenstand der Liebe, und auf geschickte Weise schreibt der Schluss der zweiten Strophe gleichsam ein Dacapo vor, wenn es im Text heißt, "die Liebe gibt uns ein, vielmals zu wiederholen: Ah, ...."

Bembos kompositorisches Interesse an rhythmischer Komplexität wird besonders in der Arie Volgete altrove il guardo sichtbar, wo die Einsätze der Singstimme häufig unbetonte Zählzeiten gegenüber dem in der Continuo-Stimme etablierten 6/8-Takt hervorheben. Eine ostinatoartige Bassfigur verleiht dem Stück eine obsessive Qualität, die den todbringenden und unerschütterlichen Blick des sagenhaften Basilisken symbolisiert. Wie im Gesang der Sirene verlangt der Liebhaber immer noch mehr davon und schließlich nach süßem Tod durch dieses "Gift" der Geliebten. Der mittlere Abschnitt macht von unterschiedlichen alternierenden Metren Gebrauch, die dem Stück zusätzliche Komplexität zu geben vermögen. Die Da-capo-Arie Habbi pietà di me folgt im Manuskript unmittelbar auf "Clizia" und mag als dessen Gegenstück angesehen werden. Sie unterstreicht zugleich Bembos ganz praktisches Bedürfnis nach königlichem Schutz in Form eine direkten Bitte, die hier ohne all das im Falle der Clizia verwendete metaphorische Beiwerk auskommt; vielleicht wäre sie ohne die Unterstützung des Königs in der Tat Gefahr gelaufen, zugrunde zu gehen ("non mi lasciar morir"). Mi basta così beendet den ersten Teil des Programms mit einem kapriziösen Kunstgriff: Bembo benutzt hier in humorvoller Weise eine immer aufs Neue wiederholte ostinate Bassfigur, um den Sänger ausrufen zu lassen: "Genug davon" - doch will der Basso will nicht enden.

Die drei folgende Arien greifen erneut das Thema unerwiderter Liebe auf. Jedem der drei Verse der Arie in Rondoform Anima perfida ist ein melancholischer Refrain vorangestellt. Im Laufe der Handlung erfährt man, dass der Liebhaber auf Rache sinnt, da er durch einen anderen abgelöst worden ist. Der abschließende Vers enthält die Moral der Geschichte, zum Ausdruck gebracht durch wütende Melismen, die das Zurückschlagen eines Feuerballs illustrieren ("rintuzzatata"). In der Aria Mi consolo bietet der Erzähler einzig den Trost an, nicht allein mit seinem Leiden zu sein, denn es gebe so viele untröstliche Liebhaber, dass "sie mit ihren Klagen den Pol ersticken". Repetierende, gehende Achtelnoten in beiden Stimmen scheinen die bizarre Normalität der Situation zu beleuchten. Bereits die Überschrift "aria affettuosa" verweist auf den Gegenstand von S'è legge d'Amore, worin ein Liebender schmerzliches Verlangen hegt, sich jedoch damit abfindet, leidend zu sterben, wenn "das Gesetz es verlangt". Diese dichterische Vorlage wird nicht nur durch die Wahl einer Molltonart und durch ein Wiederholungsmotiv von Anfang an unterstrichen, sondern zudem durch dessen Wiederauftreten im da capo emphatisch verstärkt.

Die Cellosonate von Giuseppe Maria Jacchini, einem italienischen Zeitgenossen Bembos, führt zu der Liebesarie Passan veloci l'hore, die viele bemerkenswerte Züge aufweist: Im ersten Teil wird die Bedeutung der "rasch enteilenden Stunden" musikalisch in madrigalistischer Weise vertieft, indem zunächst die Singstimme und dann der Instrumentalbass synkopierend und dann mit raschen Passagenwerk einsetzen. Im zweiten Abschnitt findet sich im Bass ein umspieltes Passacaglia-Modell, über dem der Sopran auf einem Ton ausharrend im Wortsinn die harte Qual des Wartens ("aspettar") erfährt. Hervorhebenswert ist gleichfalls die melismatische Behandlung des Wortes für Träumen ("vaneggiar"), wo sich die Stimme allein in ihrem Wohlklang zu sonnen vermag. Ähnlich wie Anima perfida bietet auch diese Arie eine abschließende Moral, die in diesem Fall in Rezitativform vorgetragen wird; allerdings fand Bembo dann durch das Wiederaufgreifen des Anfangsmaterials erneut zu einer musikalisch geschlossenen Form.

Die Musik für Theorbe von Robert de Visée ergänzt Antonia Bembos Kompositionen auf sinnvolle Weise, da dieser französische Lautenist während jener Jahre bei ihrem Kollegen Corbetta studierte, als dieser sich als umherziehender Musiker am Hofe Ludwigs XIV. aufhielt. Neben der Vertonung von Liebesgedichten enthält das Manuskript der Produzioni armoniche auch einen gewichtigen Anteil an Werken, die religiösen Themen gewidmet sind. Bembo war sich der bedeutenden Rolle des Katholizismus in der Politik des Königs wohl bewusst und fand zugleich in ihrer Musik ein Ventil für ihren eigenen spirituellen Eifer. Die geistliche Kantate Lamento della Vergine ist eines von zwei Werken innerhalb des Manuskripts, in denen die Jungfrau Maria in der ersten Person spricht, ein paraliturgisches Gegenstück zu dem in "Clizia" verwendeten narrativen Stil. Der zentrale Abschnitt der Kantate enthält ein ausgedehntes Selbstgespräch der Jungfrau, voller Wut gegen den Tod, das eine "Aria seconda" umfasst und damit an die in "Beata sirena" angewandte Technik mit ihrer strophischen Variation gemahnt. Das Gedicht zeichnet in höchst ungewöhnlicher Weise das Bild einer recht ungezähmten Maria in dem Versuch, Jesus vor seinem schrecklichen Tod zu bewahren. Auch nach den Produzioni armoniche sollte Bembo weitere religiöse Werke komponieren, darunter Psalmvertonungen in französischer und lateinischer Sprache sowie zwei Fassungen des "Te Deum".

Das Porträt der Antonia Bembo, das aus den in diesem Programm zusammengestellten Stücken entsteht, demonstriert die Bandbreite ihrer kompositorischen Fähigkeiten sowohl in der Behandlung der Singstimme wie auch des Basso continuo, vor allem in ihrer rhythmischen Erfindungskunst und den phantasievollen und geistreichen Madrigalismen. Insbesondere die Virtuosität des Gesangsparts mag zudem noch einmal Zeugnis von jenem Talent ablegen, das ihr einen Platz unter den zum Ruhme des Sonnenkönigs tätigen Künstlern eintrug.

Claire Fontijn-Harris,
deutsche Einrichtung von Joachim Steinheuer

Mitwirkende

convoce.coeln
Maria Jonas - Mezzosopran
Bernhard Hentrich - Violoncello
Stephan Rath - Chitarrone
Markus Märkl - Cembalo

Musikwissenschaftliche Mitarbeit:
Claire Fontijn-Harris,
Joachim Steinheuer