Saison 2003/2004: Konzert 3

Sonntag, 30. November 2003 17 Uhr Sendesaal des Deutschlandfunks

Barocke Kammermusik

Epoca Barocca Sendung im Deutschlandfunk am 9.12.2003

Eher selten kommen sie zusammen. Aber wenn die Musikprofessoren, die allesamt in namhaften in- und ausländischen Ensembles und Orchestern spielen, gemeinsam als Ensemble Epoca barocca konzertieren, dann sorgen sie jedesmal für Furore. Das hängt nicht zuletzt daran, dass sie in ihren Konzerten das übliche Repertoire meiden. In ihrem Konzert entdecken sie für uns die Kammermusik des Bach-Zeitgenossen Christoph Schaffrath (1709-1763), der der Cembalist an der Seite Carl Philipp Emanuel Bachs in der Hofkapelle des Preußenkönigs Friedrichs des Großen war. Schaffraths Spezialisierung liegt auf der Instrumentalmusik, so dass Entdeckungen garantiert sind!

Programmfolge

Christoph Schaffrath (1709-1763)
Triosonate g-moll
für Violine, Oboe und Basso continuo
Allegro, Largo, Presto

Johann David Heinichen (1683-1729)
Concerto a quattro D-Dur
für Violine, Fagott, Violoncello und Cembalo
Andante, Vivace, Adagio, Allegro

Sonate a 2 c-Moll
für Oboe und Fagott
Allegro, Larghetto e cantabile, Allegro

Pause

Johann David Heinichen
Trio B-Dur
für Violine, Oboe und Fagott
Andante, Allegro, Larghetto, Vivace

Christoph Schaffrath
Triosonate B-Dur
für Violine, Fagott und Basso continuo
Poco andante, Allegro assai, Allegro

Johann David Heinichen
Triosonate c-moll
für Oboe, Violine und Basso continuo
Vivace, Largo, Presto

Sonatenkunst mit Kontrapunkten

"Als ich noch ein Contrapuncts-Schüler war, speculirte ich der Sache so lange nach (denn ich kunte damahls vor lauter Contrapuncts-Begierde kaum essen, trincken, noch schlaffen) biß ich den Haupt-Schlüssel aller Canonum fand, vermöge dessen ich zur ersten Probe eine ziemlich lange Sonata à 6. Violini componirte, welche nur aus 2. Haupt-Stimmen gespielet wurde, ... doch habe ich kein Wunderwerk daraus gemacht, weil ich gesehen, dass ein jedweder schlechter Componist ... hundert dergleichen canonische Künste ... gar leicht nachmachen kan, wenn man ihm einmahl den Kunstgriff entdecket." (Johann David Heinichen, Der General-Bass in der Composition, Dresden 1728)

"Schafrath (Christoph) Kammermusikus der letzt verstorbenen Prinzessin und Aebtissin Amalia zu Berlin, ... ist einer unserer wirdigsten Contrapunktisten gewesen." (Ernst Ludwig Gerber, Historisch-Biographisches Lexikon der Tonkünstler, Leipzig 1792)

Über den Kontrapunkt, die Kunst, musikalische Themen derart zu gestalten, dass sie in Form eines Kanons oder einer Fuge von mehreren Stimmen nacheinander angespielt und dann miteinander kombiniert werden konnten, wurde in der deutschen Musikpublizistik des 18. Jahrhunderts viel diskutiert. Progressiv eingestellte Komponisten und Theoretiker warnten vor der Formelhaftigkeit der althergebrachten Kontrapunktkünste. Sie plädierten vielmehr dafür, die formal freiere Folge der Harmonien zur strukturellen Grundlage einer Komposition zu machen. Dabei galt ihnen die Wirkung beim Hörer als letzte Instanz zur Beurteilung der künstlerischen Qualität eines Werkes. Konservativere Künstler und Kritiker weigerten sich, dem zuzustimmen: Gewiss käme es in erster Linie auf die Wirkung der Musik an - doch die basiere unverändert auf einer Berücksichtigung der althergebrachten Regeln der Stimmführung, argumentierten sie. Natürlich war die ästhetische Wahrheit (so es die überhaupt gibt) irgendwo in der Mitte zwischen den Extrempositionen zu finden, am deutlichsten vielleicht im Falle der Triosonate, jener paradigmatischen Kammermusikform des 18. Jahrhunderts, die zwei in der Regel nacheinander und meistens kanonisch einsetzende Oberstimmen mit einem die Harmonie ergänzenden Bass kombiniert. Diesem Grundprinzip des kontrapunktischen Dialogisierens über einem harmonischen Fundament folgen die Werke des heutigen Abends mit großer Konsequenz, nicht nur in den schnellen Rahmenteilen, sondern auch in den ruhigeren Binnensätzen, dem traditionellen Ort für formal freiere, auch rhapsodische Momente. Durch ihre ebenso kompositorisch hochstehende wie melodisch einfallsreiche Kunst wollen sie Kenner und Liebhaber gleichermaßen ansprechen.

Johann David Heinichen, das belegt das eingangs angeführte Zitat, war kein Konservativer. Der Pfarrerssohn aus Krössuln, einem kleinen Ort im Herzogtum Sachsen-Weißenfels, einige Kilometer südlich der Residenzstadt, trat in die Fußstapfen seines Vaters, als er sich von 1696 an als Stipendiat in Leipzig an der Thomasschule weiterbildete. An seinen Internatsplatz dort war die musikalische Mitwirkung in den Gottesdiensten der Hauptkirchen unter dem Thomaskantor gebunden. Hier stand Heinichen an der Seite des gleichaltrigen Christoph Graupner - und erteilte dem, wie Graupner in seiner Autobiographie rückblickend berichtet, schon damals, noch als mittlerer Teenager, ersten Kompositionsunterricht. Nachdem der renommierte Johann Kuhnau im Jahr 1700 vom Thomasorganisten zum Kantor befördert worden war, genossen die beiden begabten Musikschüler, so Graupner, dessen "Anweisung, so wohl auf dem Clavier, als in der Setzkunst". Kuhnau dürfte die Weitergabe seines musikalischen Wissens schon bald bereut haben: Graupner und Heinichen machten ihm Konkurrenz, indem sie als Jura-Studenten nicht mehr ehrenhalber den Chor der Thomasschule verstärkten, sondern sich lieber neben Kommilitonen wie Georg Philipp Telemann und Melchior Hoffmann für die modernere Gottesdienstmusik an der Leipziger Neuen Kirche und sogar für die Oper engagierten, als Komponisten ebenso wie als Interpreten.

Eine Zeitlang wandte sich Heinichen nach seinem Studium wohl als Advokat nach Weißenfels, ohne deswegen seine musikalischen Aktivitäten einzustellen. Jedenfalls sind Aufführungen von zweien seiner Opern 1709 und 1710 im benachbarten Naumburg am Theater des Herzogs von Sachsen-Zeitz nachweisbar. Im Gefolge eines herzoglichen Rates ging Heinichen dann Ende 1710 auf eine mehrjährige Bildungsreise nach Italien, wo er sich überwiegend im Umkreis der Kaufmanns- und Bankiersfamilie Bianchi in Venedig aufhielt. Die Geschäftsverbindungen der Bianchi zum Dresdner Hof sollten für sein weiteres Leben entscheidend werden. Denn durch sie lernte Heinichen im Karneval 1716 den sächsischen Thronfolger Friedrich August II. kennen. Der befand sich auf Kavalierstour, wie sie der aristokratische Nachwuchs damals üblicherweise als europaweite Bildungsreise absolvierte, und war von den Fähigkeiten seines Landsmannes so angetan, dass er ihn zum 1. August im Namen seines Vaters, Augusts des Starken, als kurfürstlich-sächsischen und königlich-polnischen Kapellmeister an den Dresdner Hof verpflichtete. Dort kam Heinichen Anfang 1717 zusammen mit dem venezianischen Sänger und Komponisten Antonio Lotti an, der sich nun bis zur Hochzeit des Thronfolgers im September 1719 um die Hofoper kümmerte.

Allerdings hatte August der Starke damals bereits einen Hofkapellmeister, Johann Christoph Schmidt; doch fand sich offenbar schnell eine zufriedenstellende Aufgabenteilung zwischen diesem und Heinichen. Denn zur Erlangung der polnischen Königswürde war der Kurfürst 1697 (im Gegensatz zu seiner Gattin) von der lutherischen zur katholischen Konfession konvertiert; daraus ergaben sich für die Hofkapelle vielfältige Verpflichtungen an den Residenzen in Dresden, Krakau und Warschau, nicht zuletzt in den protestantischen und katholischen Hofgottesdiensten. Der Protestant und ehemalige Thomaner Heinichen wurde nun neben dem böhmischen Jesuiten-Zögling Jan Dismas Zelenka für die katholische Kirchenmusik bei Hofe verantwortlich. Er komponierte in der Folge eine Reihe liturgischer Werke, aber ebenso Oratorien, weltliche italienische Kantaten und an Instrumentalem eine große Zahl von Ensemblekonzerten und Kammersonaten. Die Entstehungsanlässe der kammermusikalischen Werke sind heute nicht mehr zu ermitteln. Vermutlich komponierte Heinichen seine Instrumentalmusik de facto als Kapellmeister des Thronfolgers Friedrich August II., der seit seiner Heirat 1719 wieder in Dresden residierte. Exponierter noch als in Heinichens großbesetzten "Concerts avec plusieurs instruments" konnten in den Sonaten für eines oder wenige Solo-Instrumente die vielen Virtuosen der Dresdner "Capell- und Cammer-Musique" ihre Kunst vor der Hofgesellschaft präsentieren - und manchmal gleichzeitig vor auswärtigen Musikern, die durch Vermittlung des Dresdner Konzertmeisters Johann Georg Pisendel in einem Nebenraum zuhören durften. Heinichen wird seine heute Abend erklingenden Werke also Geigern wie Pisendel und seinen Pultnachbarn Jean-Baptiste Volumier und Francesco Maria Veracini auf den Leib geschrieben haben, Oboisten wie François le Riche und Johann Christian Richter, einem Fagottisten wie Johann Gottfried Böhme, einem Lautenisten wie Sylvius Leopold Weiss und einem Cembalisten wie Christian Pezoldt - mithin den Besten ihres Faches.

Die prachtvollen Bauten des augusteischen Zeitalters und die Sammlungen an bildender Kunst, die August der Starke und sein Sohn zusammentrugen, haben den Ruf Dresdens als "Elb-Florenz" begründet und bis heute bewahrt (dem ist zur Zeit trefflich in der Ausstellung "Kunst für Könige" im Kölner Wallraf-Richartz-Museum nachzuspüren). Ebenso wurde das Repertoire der Dresdner Hofkapelle bald zum (nie erreichten) Vorbild für die anderen deutschen Fürstenhöfe. Heinichens Kunst schätzte man ganz besonders am Hof der hessischen Landgrafen in Darmstadt. Das kam nicht von ungefähr, schließlich hatte die Musikerlaufbahn den Jugendfreund Christoph Graupner ins Darmstädter Kapellmeisteramt geführt. So haben sich in der Hessischen Landesbibliothek gerade instrumentale, kammermusikalische Kompositionen Heinichens in Abschriften erhalten, teilweise als Unikate.

Heinichen starb am 16. Juli 1729 im Alter von nur 46 Jahren und damit vier Jahre, bevor sein besonderer Gönner Friedrich August II. nach dem Tod seines Vaters die sächsische Kurfürstenwürde und die polnische Königkrone übernahm. 1728 hatte Heinichen nach jahrelangen Vorarbeiten noch seine umfangreiche Schrift "Der General-Bass in der Composition" im Selbstverlag publizieren können, die u.a. den bis heute gebräuchlichen Quintenzirkel zur Darstellung der Tonarten-Verwandtschaften in die Musiktheorie einführte. Der Traktat bildete eine stark ausgeweitete Fassung seiner bereits 1711 erschienenen Generalbassschule. Er begründete Heinichens Nachruhm; seine ebenso fundierten, gleichzeitig in ihrem Erfindungsreichtum bedeutsamen und unterhaltsamen Kompositionen werden dagegen in unseren Tagen erst wieder entdeckt.

1733, im Jahr des Thronwechsels, war auch das Organistenamt an der evangelischen Sophienkirche in Dresden nach dem Tod des Hoforganisten Pezoldt neu zu besetzen. Dem kirchlichen Konsitorium stellte sich neben anderen der aus dem sächsischen Hohenstein stammende Christoph Schaffrath als Kandidat vor und gab bei der Gelegenheit an, dass er bereits seit drei Jahren "beim sel. Könige" und beim polnischen Fürsten Sangusko als Cembalist und Komponist gewirkt habe. Schaffrath dürfte demnach kurz nach Heinichens Tod in den großen Kreis der sächsischen Hofmusiker aufgenommen worden sein. Das Amt an der Sophienkirche erhielt jedoch Wilhelm Friedemann Bach, der älteste Sohn Johann Sebastians. Schaffrath scheint aber bald darauf in die Hofkapelle des preußischen Thronfolgers und passionierten Traversflötisten Friedrich ("des Großen") aufgenommen worden zu sein, mit dem er 1736 von Ruppin nach Rheinsberg und 1740 beim Regierungsantritt nach Berlin wechselte. Doch auch hier stand er wohl im Schatten eines Bach-Sohns - des zweitältesten Carl Philipp Emanuel, den Friedrich bald offiziell als persönlichen Cembalisten engagierte. So trat Schaffrath zu Beginn der 1740er Jahre in die Dienste der unverheirateten Königsschwester Prinzessin Anna Amalia. Deren beide Palais in der Wilhelmstraße und Unter den Linden bildeten einen der Kristallisationspunkte im Berliner Musikleben, das sich immer mehr auf die Salons der adeligen und bürgerlichen Kunstmäzene ausbreitete. Hier konnte sich auch Schaffrath profilieren, und so bezeichnete ihn der Musikpublizist Friedrich Wilhelm Marpurg 1754 - sicher aus eigenem Erleben - in seinen "Historisch-Kritischen Beyträgen zur Aufnahme der Musik" auch als "vortrefflichen Clavicembalisten und Kammermusikus bey der Prinzessin"; er sei "der Welt durch seine schöne und überall beliebte Compositionen, wovon verschiedene für den Flügel durch den Druck gemein gemacht worden, bekannt genung". Auch die im heutigen Konzert zu hörenden Triosonaten rechtfertigen Marpurgs ausgesprochen positives Urteil; sie zeichnen sich durch die elegante Verbindung von empfindsamer Erfindung und kompositorischer Souveränität aus, wie sie in der Jahrhundertmitte nicht mehr unbedingt selbstverständlich war.

Dass die anspruchsvolle Anna Amalia 1758 den Bach-Schüler Johann Philipp Kirnberger zu ihrem Hofmusikus ernannte, der sie in ihrem betont konservativen Musikgeschmack noch bestärkte, könnte aber darauf hindeuten, dass Schaffrath schon mehrere Jahre vor seinem Tod 1763 seinen künstlerischen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen konnte. Jedenfalls erschien seine letzte eigene Notenpublikation bereits 1754. Schaffraths umfangreiche Musikaliensammlung ging nach seinem Tod in den Besitz Kirnbergers über und später an Anna Amalia. Sie bildet heute noch einen wertvollen Bestandteil der historischen Musikbestände in der Berliner Staatsbibliothek.

behe

Mitwirkende

Epoca Barocca
Alessandro Piqué, Oboe
Margarete Adorf, Violine
Sergio Azzolini, Fagott
Ilze Grudule, Violoncello
Matthias Spaeter, Laute
Christoph Lehmann, Cembalo