Saison 2003/2004: Konzert 2

Sonntag, 9. November 2003 17 Uhr Sendesaal des Deutschlandfunks

Shakespeare und die Musik

David Cordier, Altus Ulrich Wedemeier, Laute, romantische Gitarre Sendung im Deutschlandfunk am 18.11.2003

Mittsommernacht ist Oberons Stunde. Aber die meisten, die sich der phantastischen Irrungen und Wirrungen des Mitsommernachtsspiels erinnern, werden bei der Frage nach der Musik in Shakespeares Dramen passen müssen. Dabei sind fast alle seine Bühnenwerke von namhaften Komponisten vertont worden. Den Interpreten David Cordier und Ulrich Wedemeier geht es aber um die Rekonstruktion der Musik in Shakespeares Dramen zur Zeit ihrer Erstaufführungen. In ihrem Programm mögen Werke John Dowlands stellvertretend für den melancholischen Geist, Kompositionen von Thomas Morley für Witz und Esprit stehen. Auf jeden Fall gibt das Programm einen Einblick in die vielfache Verwendung der Musik bei Shakespeare, angefangen von Liebesliedern und Zaubermusiken über Lamentationen und Serenaden bis hin zu Festmusiken und Saufliedern.

Programmfolge

John Dowland (1563-1626)
Prelude für Laute solo
Fortune my Foe
Walsingham für Laute solo
My thoughts are wingd with hopes
A Fancy für Laute solo
Farewell unkind Farewell
Mellancoly Galliard für Laute solo
Me, me and none but me

Anthony Holborne (gest. 1602)
Hartes Ease für Laute solo
The Fairy Round für Laute solo

Robert Johnson (1583-1633)
Hark, hark the Lark
Where the Bee sucks
Full fathom five

Anonym
The Cobbler für Laute solo
Packingtons Pound für Laute solo

Thomas Morley (1557-1602)
O Mistresse mine

Anonym / Francis Cutting (um 1600)
Greensleeves für Laute solo

Thomas Morley
It was a lover and his lass

Anonym
The Scottish Huntsuppe für Laute solo

John Whitfield (um 1600)
The English Huntsuppe für Laute solo

Anonym
The Willow Song

PAUSE

Cesare Morelli (gest. 1686)
To be or not to be

Napoléon Coste (1805-1883)
Rondo op. 40 für Gitarre solo

Franz Schubert (1797-1828) / Napoléon Coste
Trinklied
Ständchen
An Silvia

Musik als zauberhafte Kunst im Drama

Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist,
Spielt weiter! gebt mir volles Maß! dass so
Die übersatte Lust erkrank' und sterbe. -
Die Weise noch einmal!

Wäre uns auch sonst nichts von den Aufführungsgepflogenheiten des elisabethanischen Theaters bekannt: der versonnene Monolog des Orsino, mit dem William Shakespeare (1564-1616) seine Komödie "Was ihr wollt" ("Twelfth Night or What You Will") eröffnet, bewiese bereits die wichtige, ja substanzielle Rolle der Musik in den englischen Dramen-Darbietungen an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert. Der Theatergenius Shakespeare wusste wie vielleicht kein zweiter Autor um die geradezu zauberhafte Macht der musikalischen Kunst, das nicht Darstellbare vorzuführen, das Unaussprechliche anklingen zu lassen. So bildet die Musik einen unverzichtbaren Bestandteil seiner Dramen, recht gut vergleichbar mit der Filmmusik im Kino unserer Tage: sei es als Ausdrucksmittel einzelner Schauspieler, die auf der Bühne ein Lied darbieten; sei es als eine auch optisch präsente akustische Begleitung zu Bankett-, Prozessions- oder Kampfszenen, sei es als sublimer Hintergrund magischer Handlungen und Wandlungen.

Nur wenig originale Musik ist von den Aufführungen im Londoner Globe Theatre, später auch im Blackfriars Theatre, unter Shakespeares Ägide Ende der 1580er Jahre bis ca. 1610 überliefert. Doch gibt es genug Anhaltspunkte, um anhand der Versform der Songs und Airs entweder eine passende zeitgenössische Melodie zu finden oder sogar diejenigen Weisen aufzuspüren, die Shakespeare aus dem damals populären Liedgut ausgesucht und mit geändertem Text seinen Dramen anverwandelt hat. Das instrumentale Repertoire lässt sich freilich weniger deutlich greifen, auch wenn der Meister hier und da Hinweise auf die verwendeten Instrumente gibt - auf Trompetenfanfaren, die zur Schlacht rufen; auf "Hoboys", die bedrohliche Schalmeienklänge des Untergangs ausstoßen; ebenso auf die edlen Saitenklänge der Gambe und Lauten, die die Gedanken der Charaktere wie der Zuschauer in weltabgewandte Sphären lenken sollen oder zu tiefen Einblicken in die menschliche Seele.

Kaum einer der führenden englischen Komponisten lässt sich also mit der Musik zu Shakespeares Dramen in direkte Beziehung setzen, ebensowenig aber ist der wechselseitige Einfluss zwischen den Kompositionen und den Bühnenwerken zu verkennen. Leicht findet man etwa unter den Liedern und Instrumentalkompositionen des Lautenisten John Dowland Stücke, die vollkommen der Stimmungslage des oben zitierten Orsino entsprechen, der sich angesichts seiner schwärmerischen, aber von der angebeteten Olivia unerhörten Liebe der Melancholie hingibt. Mit dem inhaltsreichen Sprachspiel "Semper Dowland semper dolens" ("Immer Dowland, immer betrübt") überschrieb der englische Katholik, der am Hofe Elisabeths I. und ihres Nachfolgers Jakob I., aber auch bei mehreren Aufenthalten auf dem europäischen Kontinent diesseits und jenseits der Alpen vergeblich sein berufliches Glück suchte, eine seiner bekanntesten elegischen Pavanen. Sie erschien 1604 in seiner auf eigene Kosten gedruckten Sammlung "Lachrimae, or Seven Teares" als Fassung fürs instrumentale Consort, zirkulierte aber auch als Lautenversion. Ebenso bewegen Lautenstücke wie das im heutigen Konzert zu hörende "Prelude" und die "Mellancoly Galliard" den Zuhörer dazu, sich in jenen Zustand bitter-süßen Nachsinnens zu versenken, der die englische Kunst in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts so nachhaltig prägte. In kunstvollen Gesängen wie "My thoughts are wingd with hopes" aus dem "First Booke of Songs or Ayres" von 1597 oder "Farewell unkind Farewell" und "Me, me, and none but me" aus dem sechs Jahre später erschienen dritten Buch hat Dowland seine Melancholie auch in Worte gekleidet. In "Fortune my Foe" und "Wallsingham" bediente er sich einer weniger artifiziellen, volkstümlicheren Sprache.

Spärliche biographische Zeugnisse haben sich von Shakespeares und Dowlands Zeitgenossen Anthony Holborne, Francis Cutting und John Whitfield erhalten, immerhin aber mehrere Kompositionen für Laute und - im Falle Holbornes - fürs Consort. Holborne veröffentlichte 1599 in London seine Auswahlsammlung von "Pavans, Galliards, Almaines and Other Short Aeirs", war mit einzelnen Werken aber auch in einer Vielzahl von Sammeldrucken präsent, die zwischen 1596 und 1612 diesseits und jenseits des Ärmelkanals auf den Markt kamen. Dowland schätzte den Künstlerkollegen offenbar sehr, denn er widmete ihm das Eröffnungsstück in seinem zweiten Liederbuch. Die Namen Cuttings und Whitfields sind der Nachwelt mehr oder weniger zufällig in jenen Notensammlungen überliefert, deren Schreiber ihr Augenmerk allzu oft ausschließlich auf die Qualität der Kompositionen und nicht auf deren Autor wendeten und so die Musikforscher bis heute vor manches Rätsel stellen. Anonym überliefert ist denn auch die Musik des "Willow Song", ein Lamento des verlassenen Geliebten, das Shakespeare 1604 für "Othello" als Klagelied Desdemonas adaptierte.

Im Gegensatz zu den letztgenannten Komponisten tritt uns Thomas Morley schon durch seinen Musiktraktat "A Plaine and Easie Introduction to Practicall Musicke" von 1597 in der ganzen Größe seiner Künstlerpersönlichkeit entgegen. Aus Norwich gebürtig und als Mitglied des dortigen Kathedralchors musikalisch ausgebildet, wurde er 1583 Kathedralorganist in seiner Heimatstadt, befand sich aber sechs Jahre später in gleicher Funktion an der Londoner St. Paul's Cathedral. Zuvor noch scheint er sich seine besonderen Kenntnisse der moderneren italienischen Madrigalkunst angeeignet zu haben. 1592 wurde er Mitglied der königlichen Kapelle, eine Position, die er bis zu seinem Tod 1602 innehatte. In diesem Jahrzehnt könnte er auch Shakespeare persönlich kennen gelernt haben, der im selben Londoner Kirchensprengel wohnte. Morleys Shakespeare-Rezeption ist allerdings nur an den zwei im heutigen Konzert vorgestellten Vertonungen abzulesen: "It was a lover and his lass", veröffentlicht im "First Book of Ayres" von 1600, bedient sich eines Textes aus dem 5. Akt von "As You Like It" ("Wie es Euch gefällt"), ist aber nicht definitiv mit einer Aufführung des 1599 entstandenen Werks in Zusammenhang zu bringen. "O Mistress mine, where are you roaming", das Morley 1599 in den Arrangements seines "First Booke of Consort Lessons" veröffentlichte, findet sich in jenem Lied wieder, das der Narr Feste in "Twelfth Night" vor den lebensbejahenden Junkern Toby und Andrew singt.

Robert Johnson, einem Londoner Lautenvirtuosen und -Komponisten der jüngeren Generation, war schnell jener Erfolg vergönnt, um den sich Dowland zeitlebens vergeblich bemüht hat - und auch die unmittelbare Zusammenarbeit mit Shakespeare. Als Schützling Sir George Careys, des königlichen Oberhofmeisters, wurde er 1604 unter Jakob I. zum Hoflautenisten ernannt, eine Position, die er auch unter Karl I. hielt, bis zu seinem Tod 1633. Der Oberhofmeister übte als Patron der "King's Men Players" großen Einfluss auf Globe Theatre und Blackfriars Theatre aus. So kam es, dass Johnson Lieder für die späten Romanzen und Komödien "Cymbeline" (1609), "A Winter's Tale" ("Ein Wintermärchen") und "The Tempest" ("Der Sturm", beide von 1611) komponierte. Dabei bediente er sich mehr und mehr des neuen deklamatorischen Arienstils der italienischen Monodie. Die beiden Gesänge "Where the Bee sucks" und "Full fathom five" aus "The Tempest" zählen zu den bekanntesten Kompositionen Johnsons. Sie sind dem Luftgeist Ariel zugedacht, den sich Prospero als Herrscher der Insel zu Diensten gemacht hat und der auf diese Weise den Gang der Handlung entscheidend mitbestimmt - und dabei auffallend häufig singend agiert. Der Dramatiker und der Hoflautenist scheinen in Shakespeares mutmaßlich spätestem Drama intensiv zusammengearbeitet zu haben.

Die Rezeption Shakespeares im weiteren Verlauf des 17. Jahrhunderts wurde durch den 1642 aufflammenden Bürgerkrieg und das puritanische Regiment Oliver Cromwells nahezu vollständig unterbrochen: die Theater blieben für fast zwanzig Jahre geschlossen. Erst mit der 1660 einsetzenden Restauration konnte auch wieder die Pflege der Shakespeare'schen Dramen aufleben, für die - neben der bekannten Adaption von "A Midsummer Night's Dream" ("Ein Sommernachtstraum") in Henry Purcells Semi-Opera "The Fairy Queen" 1692 - der im heutigen Konzert zu hörende Hamlet-Dialog einen Markstein darstellt. Der Chronist Samuel Pepys, ein englischer Bewunderer der italienischen Rezitativkunst, hatte das monodische Stück bei seinem musikalischen Bedienten Cesare Morelli in Auftrag gegeben, einem in Rom ausgebildeten Sänger, Lautenisten und Komponisten.
Noch einmal einhundert Jahre vergingen, bis die frühe Romantik Shakespeares Werk für sich entdeckte und auch außerhalb Englands in literarisch anspruchsvollen Übertragungen mehr und mehr zum kulturellen Allgemeingut werden ließ. Im deutschsprachigen Raum kommt das Verdienst der Vermittlung in erster Linie August Wilhelm Schlegel zu; sein idealistisches Vorhaben wurde im folgenden unter der Leitung Ludwig Tiecks fortgesetzt. In Schlegels Übersetzung lernte auch Franz Schubert das Shakespeare'sche "Hark, hark, the Lark" aus "Cymbeline" kennen. Schubert vertonte die Verse des Ständchens an die Königstochter Imogen in einer um zwei Strophen Friedrich Reils erweiterten Textfassung, während er sich im Juli 1826 im Hause seines Freundes Franz von Schober im Wiener Vorort Währing aufhielt. Zusammen mit dem Trinklied "Bacchus, feister Fürst" aus "Antony and Cleopatra" und dem Gesang "An Sylvia" aus "Two Gentlemen of Verona" ("Die beiden Veroneser") bildet es eine Trias, die offenbar einer kurzfristigen, aber intensiven Shakespeare-Beschäftigung des an der Poetik der Schlegel-Brüder orientierten Kreises um Schober entsprang. So stammen die deutschen Textfassungen der beiden letztgenannten Lieder von Schobers Freunden Ferdinand von Mayerhofer und Eduard Bauernfeld, dürften demnach in unmittelbarem Zusammenhang mit den Vertonungen entstanden sein.

Im heutigen Konzert erklingen Schuberts Shakespeare-Lieder in der Fassung des französischen Gitarrenvirtuosen Napoléon Coste, der für seine sowohl kompositions- als auch instrumentaltechnisch außerordentlich anspruchsvollen Werke und Bearbeitungen in den Salons und Konzertsälen weit über Paris hinaus berühmt war. Coste ist es demnach zu danken, dass Shakespeare-Texte auch zweieinhalb Jahrhunderte nach ihrer Entstehung in der delikaten althergebrachten Weise als Gesänge zur Begleitung eines Zupfinstruments erklangen

behe

Mitwirkende

David Cordier, Altus
Ulrich Wedemeier, Laute, romantische Gitarre