Saison 2003/2004: Konzert 7
Johann Sebastian Bach (1685-1750)
Die Kunst der Fuge BWV 1080 Christian Rieger, Cembalo Sendung im Deutschlandfunk am 4.5.2004Wie kein anderes Werk ist sie von Legenden umrankt. Sie gilt vielen als Opus ultimum Bachs, wird als Non plus Ultra des kontrapunktischen Satzes überhöht und sie galt lange als unaufführbar. Dennoch (oder vielleicht deshalb) hat sie wie kaum ein anderes Werk zu Bearbeitungen gereizt: Die Rede ist von Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge. Der Titel ist fraglich, die Reihenfolge der Kompositionen nach wie vor umstritten, eine Instrumentalbesetzung ist nicht überliefert. Der Cembalist Christoph Rieger wird die Kunst der Fuge zu dem Ausgangspunkt zurückführen, der unumstritten und der Urgrund der Komposition ist. Er wird sie in seiner Interpretation als ein kunstvolles musikalisches Werk erklingen lassen.
Programmfolge
Contrapunctus II
Contrapunctus III
Contrapunctus IV
Canon alla Ottava
Contrapunctus V
Contrapunctus VI in Stylo Francese
Contrapunctus VII per Augmentationem et Diminutionem
Canon alla Decima. Contrapunto alla Terza
Contrapunctus VIII
Contrapunctus IX alla Duodecima
PAUSE
Contrapunctus X alla Decima
Contrapunctus XI
Canon alla Duodecima in Contrapunto alla Quinta
Contrapunctus XII
inversus - rectus
Contrapunctus XIII
rectus - inversus
Canon per Augmentationem in Contrario Motu
Contrapunctus XIV. Fuga a 3 soggetti
Ein Vermächtnis
Am 7. Mai 1751, ein dreiviertel Jahr nach dem Tod Johann Sebastian Bachs, veröffentlichte sein zweitältester Sohn Carl Philipp Emanuel in den Berliner "Critischen Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit" eine Einladung zur Subskription der "Kunst der Fuge". Er hatte die noch unter der Aufsicht seines Vaters im Kupferstich angefertigten Druckplatten geerbt und versuchte nun, die geplante Publikation dadurch finanziell abzusichern, dass er von einer Anzahl Bach-Kennern schon zuvor eine verbindliche Kaufzusage erhielt. Eine erste Auflage erschien dann im Herbst 1751 und ging an vermutlich nicht mehr als ein gutes Dutzend Abnehmer; ein zweite Auflage, ergänzt um ein Vorwort des Berliner Musikgelehrten Friedrich Wilhelm Marpurg, kam im Frühjahr des darauf folgenden Jahres auf den Markt. Beide Auflagen boten 14 als "Contrapunctus" bezeichnete Ausarbeitungen in Fugenform (wobei Contrapunctus 14 nur eine Variante von Contrapunctus 6 darstellte) und vier verschieden angelegte Kanon-Sätze - alle hervorgegangen aus einem lapidaren viertaktigen d-Moll-Thema und dessen Ableitungen. Dem folgte jene unvollendete "Fuga a 3 sogetti" mit dem signifikanten B-A-C-H-Thema. Und schließlich hatte Carl Philipp Emanuel noch eine Choralbearbeitung für Orgel angefügt und darauf hingewiesen, sein Vater habe diese in seinen letzten Tagen "einem seiner Freunde in die Feder dictiret" - eine fromme, publikumswirksame Legende. So war es kein Wunder, dass Johann Sebastian Bachs vermächtnishaften kompositorischen Diskurs über die Möglichkeiten eines elaborierten Kontrapunkts bald auch der Mythos des letzten Werks umgab, an dem der Meister noch auf seinem Sterbelager gearbeitet hatte.
Das neben dem posthumen Druck überlieferte autographe Kompositionsmanuskript freilich spricht in dieser Hinsicht eine etwas andere Sprache. Es lässt sich auf das Jahr 1742 datieren, in jene Zeit also, in der sich Bach von den kompositorischen Pflichten, die das Amt des Leipziger Thomaskantors mit sich brachte, mehr und mehr zurückgezogen hatte, um sich - so erscheint es aus heutiger Sicht - vermehrt als Privatier den satztechnischen und ästhetischen Fragestellungen der Musik seiner Zeit und der Historie zu widmen - in der Abgeschiedenheit seiner Komponierstube zwar, aber mit ungebrochenem Elan. Bachs Manuskript stellt eine Reinschrift dar, mit Kompositionen, die durchaus schon Jahre früher entstanden sein können. Es enthält bereits die meisten der im späteren Druck begegnenden Sätze inklusive des Fragments mit dem B-A-C-H-Thema. Und es zeigt eine zyklische Anlage, in der sich der kontrapunktische Anspruch von Satz zu Satz steigert.
Eine sinngemäße Anordnung, Quintessenz aus den Divergenzen in der Satzfolge zwischen dem Erstdruck und dem Originalmanuskript, bietet das heutige Konzert:
einfachen Fugen über das Themas oder seine notenmäßige Umkehrung, auch in rhythmischen Varianten
Contrapunctus V-VII:
Gegenfugen, die Thema und Umkehrung kombinieren, auch in geänderten Notenwerten (Rhythmisierungen "im französischen Stil"; Vergrößerungen und Verkleinerungen)
Contrapunctus VIII-XI:
Doppel- und Tripelfugen, die das Ausgangsthema mit einem oder mehreren individuellen weiteren Themen kombinieren
Contrapunctus XII, XIII:
Spiegelfugen, die jeweils eine Grundform ("rectus") und eine Zweitform mit identischer Intervallfortschreitung in gegenläufiger Richtung ("inversus") nebeneinander stellen
Contrapunctus XIV:
unvollendete Quadrupelfuge, deren viertes Thema mit der Tonfolge B-A-C-H beginnt
Die Kanon-Sätze sind einzeln zwischen den Fugen-Gruppen eingefügt, in sich ebenfalls steigernder Komplexität der Einsatzfolge von Thema und Kontrapunkten.
Zur Aufführung/Zitate
Ein Konzertstück für Clavier
Eine auch heute noch viel diskutierte Frage zur Kunst der Fuge betrifft die Besetzung. Bach hat das Werk in Partitur notiert, also in Systemen aus maximal vier je einer Stimme zugeordneten Notenzeilen, die durch ihre Schlüsselung als Partien in Sopran-, Alt-, Tenor- und Basslage definiert sind. Das mag auf den ersten Blick zu einer Ausführung mit Kammerensemble einladen, ist aber eher in der Absicht geschehen, "besondere Einsichten in die Setz-Kunst, so wohl in Ansehung der Harmonie, als Melodie" zu gewähren - so formuliert es ihr erster Herausgeber Carl Philipp Emanuel Bach, um unmittelbar anzufügen: "Es ist dennoch alles zu gleicher Zeit zum Gebrauch des Claviers und der Orgel ausdrücklich eingerichtet." In der Tat lässt sich die Kunst der Fuge auf einem Cembalo darstellen und steht damit in einer Traditionslinie mit jenen für Studium und Praxis zugleich angefertigten kontrapunktischen Werken, wie sie uns große Tastenvirtuosen des 17. Jahrhunderts von Girolamo Frescobaldi über Johann Jacob Froberger bis hin zu Dietrich Buxtehude überliefert haben. In diesem Sinne mag man die Kunst der Fuge auch als Fortsetzung der von Bach seit Beginn der 1730er Jahre in mehreren Teilen veröffentlichten "Clavier-Übung" verstehen.
Auf jeden Fall handelt es sich auch um ein Werk, das - wie die Goldberg-Variationen oder das Musicalische Opfer - für eine zyklische Gesamtaufführung geeignet ist. Nun geben Bachs Autograph und die posthume Druckfassung die einzelnen Sätze in unterschiedlicher Anordnung wieder, und es ist ebenfalls schon viel darüber diskutiert worden, welche Reihenfolge die sinnfälligste, vom Komponisten letztlich intendierte ist.
Diese Diskussion soll mit der heutigen Aufführung nicht fortgesetzt werden. Statt dessen im Folgenden noch eine subjektive Auswahl von Zitaten. Sie mag das Anhören der so unterschiedlichen und doch eng zusammengehörenden kontrapunktischen Sätze assoziativ begleiten.
Christian Rieger
Ein Kosmos
"O Bach! Sebastian Bach, verehrteste Frau!" rief Herr Edmund Pfühl, Organist von Sankt Marien, der in großer Bewegung den Salon durchschritt, während Gerda lächelnd, den Kopf in die Hand gestützt, am Flügel saß, und Hanno, lauschend in einem Sessel, eins seiner Knie mit beiden Händen umspannte... "Gewiß..., wie Sie sagen, ... er ist es, durch den das Harmonische über das Kontrapunktische den Sieg davongetragen hat... er hat die moderne Harmonik erzeugt, gewiß! Aber wodurch? Muß ich Ihnen sagen wodurch? Durch die vorwärtsschreitende Entwicklung des kontrapunktischen Stils? Sie wissen es so gut wie ich! Was also ist das treibende Prinzip dieser Entwicklung gewesen? Die Harmonik? O nein! Keineswegs! Sondern die Kontrapunktik!... Wozu, frage ich Sie, hätten wohl die absoluten Experimente der Harmonik geführt? Ich warne... solange meine Zunge mir gehorcht, warne ich vor den bloßen Experimenten der Harmonik!"
Thomas Mann, Die Buddenbrooks (1901)
Das Thema der letzten Fuge stellt Bachs Namen in Noten dar. Schon zu Weimar hatte Bach seinen Kollegen Walther auf die Eigentümlichkeit der vier Buchstaben seines Familiennamens hingewiesen, als enthielten sie die Erklärung der musikalischen Anlage aller Bache. Walther erwähnt dies zum Beschlusse des mageren Artikelchens, das er dem ehemaligen Freunde in seinem Musiklexikon (1732) widmet, indem er ausdrücklich bemerkt, daß die "Remarque" von dem Herrn Kapellmeister Bach selber stamme. Nur bleibt dann verwunderlich, daß der Meister bis zu seinem letzten Lebensjahre wartete, um dies auch an sich interessante Thema in einer Fuge zu behandeln. Friedemann, von Forkel befragt, erklärte bestimmt, sein Vater habe außer jener letzten nie eine Fuge über den Familiennamen komponiert.
Albert Schweitzer, Johann Sebastian Bach (1908)
Gestern Kunst der Fuge gehört. Herrlich!! Ein Werk, das bisher für Mathematik gehalten wurde. Tiefste Musik!
Brief Alban Bergs an seine Frau Helene (1928)
Wie Bach selbst an der Schwelle von 1750, so steht die "Kunst der Fuge" geistig zwischen Kosmos und Ichheit. Er sieht diesen Übergang selbst gleichsam aus der hohen Perspektive des Mystikers. So ist die Eingliederung des BACH kein Spiel, keine geistreiche Laune. Nur wer demütig war wie Bach, durfte - im Angesicht des Todes - diese Kühnheit wagen, das eigene Ich repräsentativ als Mittelpunkt einer Weltentwicklung zu setzen.
Ernst Schwebsch, Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge (1931)
Nach Diktat verreist.
Bemerkung eines Studenten
Interessant kann man das Thema eigentlich nicht nennen; es ist nicht einer genialen Intuition entsprungen, sondern mehr in Hinsicht auf seine allseitige Verwendbarkeit und in Absicht auf die Umkehrung so geformt worden. Und dennoch fesselt es denjenigen, der es immer wieder hört. Es ist eine stille, ernste Welt, die es erschließt. Öd und starr ohne Farbe, ohne Licht, ohne Bewegung liegt sie da; sie erfreut und zerstreut nicht; und dennoch kommt man nicht von ihr los.
Albert Schweitzer, Johann Sebastian Bach (1908)
Damit es einen Spiegel der Welt geben kann, muß die Welt eine Form haben.
Umberto Eco, Der Name der Rose (1980)
Berlin. Den Herren Verlegern practischer musikalischen Werke wird hiemit bekannt gemacht, wie ich gesonnen, die saubere und accurat gestochne Kupfertafeln zu dem vor einigen Jahren angemeldetem Fugenwerke meines sel. Vaters (...) für einen billigen Preiß aus der Hand zu verkauffen. Es belauft sich die Anzahl derselben auf etliche sechzig, und sie betragen am Gewicht an einen Centner. Von dem innern Werthe dieses Werks wird es unnötig seyn, viel zu sagen, da das Andenken der Kunst meines sel. Vaters, besonders in der Fuge, von was für einer Art und Gattung sie auch seyn mogte, bey den Kennern dieser Arbeit noch nicht erloschen ist. (...) Dieses Werk wurde bisher 4 Rthlr. das Exemplar verkauft. Es sind aber nur ungefähr dreyßig Exemplare davon abgesetzet worden, weil es noch nicht überall bekannt ist; und, da mir meine Verrichtungen im Dienste Sr. Majestät nicht gestatten, mich in viele und weitläufige Correspondenzen einzulassen, um es gehörig überall bekannt zu machen: so ist dieses die Ursache, warum ich mich entschlossen, mich davon gänzlich loß zu sagen.
Carl Philipp Emanuel Bach in Friedrich Wilhelm Marpurgs Historisch-Kritischen Beyträgen zur Aufnahme der Musik (1756)
Ich rate dem Leser, bei der Beschäftigung mit der "Kunst der Fuge" jeden Gedanken an Tod und Ewigkeit beiseite zu lassen, es bleibt noch genug zu bewundern und zu bestaunen übrig.
Walter Kolneder, Die Kunst der Fuge (1977)
Die Fuge ist, so fluchthaft und reich sie innerlich ist, im Ganzen Ruhe, Gebautheit, Schichtung, ist, cum grano salis: mittelalterlicher Sozialgedanke in der Musik: sie ist auch nicht atemlose Entdeckung einer Wahrheit, sondern wie sorgfältige Auslegung eines Dogmas.
Ernst Bloch, Zur Philosophie der Musik (1974)
Zerreißt einem die Ohren.
Robert Schumann am Ende der Abschrift der Tripelfuge XI (1837)