Saison 2003/2004: Konzert 8

Sonntag, 16. Mai 2004 17 Uhr Sendesaal des Deutschlandfunks

Georg Philipp Telemann

Sechs Flöten-Quartette Musica Antiqua Köln Sendung im Deutschlandfunk am 1.6.2004

Wohl kein anderes Ensemble hat das heutige Telemann-Bild so nachhaltig geprägt wie Musica Antiqua Köln: Nahezu legendär sind die Aufnahmen der Bläser-Konzerte, die der umfangreichen Musique de Table 1733 und der Wassermusik. Kein anderes Ensemble hat sich zudem so vehement für eine Rehabilitierung des lange als "flachen Vielschreibers" verschrieenen Bach-Zeitgenossen eingesetzt: Bei großen Tourneen in die USA und nach Ost-Asien reiste Musica Antiqua Köln diverse Male mit "Nur-Telemann"-Programmen und erntete stürmische Erfolge. Reinhard Goebel erhielt für seine Verdienste um den Komponisten im Jahre 2002 den Telemann-Preis der Stadt Magdeburg. Die großen Quartette für Travers- oder Blockflöte werden in diesem Programm um einige Sonaten ergänzt.

Programmfolge

Quatuor g-moll TWV 43 g4
für Blockflöte, Violine, Viola und Basso continuo
Allegro - Adagio - Allegro

Quatuor G-Dur TWV 43 G10
für Traversflöte, zwei Violinen und Basso continuo
Vivace - Andante - Vivace

Quatuor d-Moll TWV 43 d3
für Traversflöte, Violine, Violoncello und Basso continuo
Adagio - Allegro - Largo - Allegro

Quatuor G-Dur TWV 43 G6
für Blockflöte, Oboe, Violine und Basso continuo
Allegro - Grave - Allegro

PAUSE

Quatuor G-Dur TWV 43 G12
für Traversflöte, zwei Violinen und Basso continuo
Dolce - Allegro - Soave - Vivace

Quatuor a-Moll TWV 43 a3
für Blockflöte, Oboe, Violine und Basso continuo
Adagio - Allegro - Adagio - Vivace

Vorzüglich schöne Muster>

"Ein Quatuor, oder eine Sonate mit drey concertirenden Instrumenten, und einer Grundstimme, ist eigentlich der Probierstein eines echten Contrapunctisten; aber auch eine Gelegenheit, wobey mancher, der in seiner Wissenschaft nicht recht gegründet ist, zu Falle kommen kann. Der Gebrauch davon ist noch niemals sehr gemein geworden; folglich kann er auch nicht allen so gar bekannt seyn. Es ist zu befürchten, dass endlich diese Art von Musik das Schicksal der verlohrenen Künste werde erfahren müssen. Zu einem guten Quatuor gehört: 1) ein reiner vierstimmiger Satz; 2) ein harmonischer Gesang; 3) richtige und kurze Imitationen; 4) eine mit vieler Beurtheilung angestellete Vermischung der concertirenden Instrumente; 5) eine recht baßmäßige Grundstimme; 6) solche Gedanken die man mit einander umkehren kann, nämlich, daß man sowohl darüber als darunter bauen könne; wobey die Mittelstimmen zum wenigsten einen leidlichen, und nicht misfälligen Gesang behalten müssen. 7) Man muß nicht bemerken können, ob diese oder jene Stimme den Vorzug habe. 8) Eine jede Stimme muß, wenn sie pausiret hat, nicht als eine Mittelstimme, sondern als eine Hauptstimme, mit einem gefälligen Gesange wieder eintreten: doch ist dieses nicht von der Grundstimme, sondern nur von den drey concertirenden Oberstimmen zu verstehen. 9) Wenn eine Fuge vorkömmt; so muß dieselbe, mit allen vier Stimmen, nach allen Regeln, meisterhaft, doch aber dabey schmackhaft ausgeführet seyn.
Sechs gewisse Quatuor für unterschiedene Instrumente, meistenteils Flöte, Hoboe, und Violine, welche Herr Telemann schon vor ziemlich langer Zeit gesetzet hat, die aber nicht in Kupfer gestochen worden sind, können, in dieser Art von Musik, vorzüglich schöne Muster abgeben."

(Johann Joachim Quantz, Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen, Berlin 1752, XVIII. Hauptstück, § 44)

Der vorstehenden treffenden Beschreibung der Gattung "Quartett" und dem Lobpreis auf deren unübertroffenen Meister Georg Philipp Telemann ist heute noch eigentlich nichts hinzuzufügen. Wie weiland der königliche-preußische Kammermusikus Johann Joachim Quantz, so bewundern auch wir Telemanns unerreichte Gabe, kompositorisch Anspruchsvolles in angenehm ausgewogene, eingängige, grazile - kurzum: in "galante" Formen zu gießen. Da verbindet sich die Emotion der Kantilene mit der Arithmetik des Kontrapunkts, da schwebt der Klang der drei Oberstimmen - in reichen Farbabstufungen der Block- oder der Traversflöte, der Oboe oder der Violine - über dem dezent, aber unbeirrt fortschreitenden Fundament der Bassinstrumente. Das geht über die vertraute Kunst der im Barock omnipräsenten Triosonate hinaus - und hat kaum Nachahmer gefunden.

Wir können nicht mit Gewissheit sagen, welche sechs Telemann-Quartette Quantz bei der Abfassung seines "Versuchs" vor Augen hatte - eher, welche es nicht waren. Denn Telemann reagierte auf Quantzens Buch schon kurz nach dessen Erscheinen mit einem Brief, in dem er den Autor offenbar auf seine vielen im Druck veröffentlichten Quatuors hinwies: die Hamburger Quadri für Violine, Traversflöte, Gambe (oder Cello) und Continuo von 1730, die drei Quartette aus der "Tafelmusik" von 1733, die im selben Jahr edierten "Six Quatuors ou Trios" für je zwei Flöten/Violinen und Violoncelli/Fagotte sowie die nach Telemanns Paris-Aufenthalt von 1737 in der französischen Metropole veröffentlichten "Nouveaux Quatuors en Six Suites" (1738); vielleicht auch das im gleichen Jahr wie Quantzens Schrift erschienene "Quatrième Livre de Quatuors" für Flöte, Violine, Viola und Continuo. Die Erwähnung all dieser im Notenhandel kursierenden Drucke durch Quantz wäre dem geschäftstüchtigen Wahl-Hanseaten Telemann als zusätzliche Werbung natürlich willkommen gewesen. Der Berliner Flöten-Meister freilich antwortete dem Hamburger Musikdirektor lapidar: "Dass ich aber die oben gedachten Quatuor angeprießen habe, ist die Ursache, weil sie mir mehr als die andern bekannt sind; da ich nun alle Vollkommenheiten guter Quatuor darinne vereiniget finde, so glaubte ich, daß ich weiter nachzusuchen nicht einmal nöthig hatte. [...] Wollten Sie mirs verdencken, wenn ich, ohne den übrigen zu nahe zu treten, für dieße eine vorzügliche Liebe habe?"

Das heutige Konzert stellt nun sechs der (nach heutigem Kenntnisstand) dreiundzwanzig weiteren, nicht in zeitgenössischen Drucken, sondern in diversen Handschriften überlieferten Quartette Telemanns vor. Sie finden sich in den einschlägigen, aus den Beständen ehemaliger Hofkapellen hervorgegangenen Musiksammlungen - in Berlin und Dresden (den wesentlichen Wirkungsstätten von Quantz), nicht zuletzt aber in Darmstadt. Dort hatte mehrere Musiker eine Anstellung gefunden, denen Telemann noch aus seinen Leipziger Studententagen zwischen 1701 und 1704 freundschaftlich verbunden war - an ihrer Spitze Christoph Graupner, der von 1711 bis zu seinem Tod 1760 als Darmstädter Hofkapellmeister amtierte. Im übrigen hatte Telemann als Frankfurter Musikdirektor zwischen 1712 und 1721 auch persönliche Kontakte zu der nahen hessischen Residenz gepflegt. - So profitiert unser heutiges Musikrepertoire noch von jenem Netzwerk des kollegialen Austauschs ästhetischer Ansichten und praktischer Aufführungsmaterialien, das die Musiker damals über alle Ländergrenzen hinweg unterhielten. Gemeinsam ist den ausgewählten Quartetten, dass je eine Oberstimme von einer Block- oder Traversflöte übernommen wird und dass sie wohl alle noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden sind. Im übrigen variieren sie das Thema "Quatuor" sowohl in der weiteren Besetzung als auch in der Satzanzahl und -folge.

Das Eröffnungsstück darf außerdem als Reverenz an den Salzburger Hofkapellmeister Heinrich Ignaz Franz Biber gehört werden, dessen 300. Todestag sich in diesem Monat jährte: Wie Reinhard Goebel nachweisen konnte, fand Telemann die beiden Hauptmotive für den ersten Satz dieses g-Moll-Quartetts in Bibers außergewöhnlicher Triosonaten-Sammlung "Harmonia artificiosa" (Partia IV, Allemande).

behe

Mitwirkende

Musica Antiqua Köln
Maurice Steger - Blockflöte
Verena Fischer - Traversflöte
Diego Nadra - Oboe
Stephan Schardt - Violine
Reinhard Goebel - Violine
Klaus-Dieter Brandt - Violoncello
Léon Berben - Cembalo