Saison 2005/2006: Konzert 2

Sonntag, 23. Oktober 2005 17 Uhr Sendesaal des Deutschlandfunks

Kammermusik für Streicher

von Pachelbel, Telemann und Fasch Harmonie Universelle Harmonie Universelle Sendung im Deutschlandfunk am 8.11.2005

Johann Pachelbel, der wohl bedeutendste Komponist vor Johann Sebastian Bach, der im fränkischen und mitteldeutschen Raum wirkte, wird für gewöhnlich als Vertreter der berühmten Nürnberger Orgelschule klassifiziert. Dabei fällt sein umfangreiches Schaffen in den Bereichen der Vokalkomposition und der Kammermusik leichtfertig unter den Tisch. Gerade die Instrumentalmusik wird im Allgemeinen auf den zum Ohrwurm degradierten Canon reduziert. Pachelbels Bedeutung liegt aber in der Verschmelzung des italienischen mit dem deutschen Stil, des Ariosen und Virtuosen mit der Kontrapunkt- und Variationskunst - übrigens sehr ähnlich dem Schaffen Georg Philipp Telemanns, der als weiterer Komponist im Programm vertreten ist.

Programmfolge

Johann Pachelbel (1653-1706)

Partie a 4 in G-Dur
für 2 Violinen, 2 Viola und Basso continuo
Sonatina - Allemande - Gavott - Courant - Aria - Saraband - Gigue - Finale

Partie V in C-Dur aus Musicalische Ergötzung, Nürnberg, ca. 1700
für 2 Violinen in Skordatur und Basso continuo
Sonata - Aria - Trezza - Ciacona

Partie a 4 in fis-Moll
für Violine, 2 Violen und Basso continuo
Sonata - Allemande - Trezza - Aria Presto - Courante - Sarabande - Gigue

Partie II in c-Moll aus Musicalische Ergötzung
für 2 Violinen in Skordatur und Basso continuo
Sonata - Gavotte - Trezza - Aria - Saraband - Gig

Kanon und Gigue in D-Dur
für 3 Violinen und Basso continuo

Pause

Georg Philipp Telemann (1681-1767)

Sonata in F TWV 43: F 1
für 2 Violinen, Viola und Basso continuo
Adagio - [ohne Bezeichnung] - Andante - Allegro

Concerto in d-Moll TWV 43: d 2
für 2 Violinen, Viola und Basso continuo
Largo - Allegro - Andante - Presto

Johann Friedrich Fasch (1688-1758)

Sonata a 4 in d-Moll FWV N: d 3
für 2 Violinen, Viola und Basso continuo
Largo - Allegro - Largo - Allegro

Mit kontrapunktischer Würze

"Ein Mann der Lob verdient durch Weisheits-volle Noten, / Erstirbet nimmermehr: Die Muse hats verboten." Ehrenvolle Verse fand der Hamburger Musikpapst Johann Mattheson 1740 in seiner musikbiographischen Sammlung Grundlage einer Ehren-Pforte für einen älteren Kollegen, der ihm und anderen Komponisten seiner Generation und Herkunft den Weg zu einer eigenständigen deutschen Musiksprache geebnet hatte. Einer Sprache, die von den neuen musikalischem Errungenschaften Frankreichs und Italiens in puncto Rhythmik und Melodik profitierte, die in ihrer mitteldeutschen Ausprägung aber auch einen besonders harmonischen Ausgleich zwischen satztechnischer Würde und spieltechnischem Ungestüm fand. Der von Mattheson so respektvoll Geehrte ist Johann Pachelbel, der nach einer schulischen und akademischen Ausbildung in seiner Heimatstadt Nürnberg sowie in Altdorf und Regensburg schließlich die Musikerlaufbahn einschlug. Seine besondere Begabung fürs Tasteninstrument ließ ihn in den folgenden Jahrzehnten weit herumkommen im deutschsprachigen Raum: Drei Lehrjahre in Wien -- aller Wahrscheinlichkeit nach bei Johann Caspar Kerll, dem herausragenden Organisten am Stephansdom -- qualifizierten Pachelbel 1677 für die Anstellung als Hoforganist in Eisenach und ein Jahr später für das Amt des Erfurter Ratsorganisten an der Predigerkirche, das er für zwölf Jahre innehatte. In Eisenach schloss er Freundschaft mit dem Hof- und Stadtmusikus Johann Ambrosius Bach, wurde Taufpate bei dessen Tochter Johanna Juditha und unterwies nach 1685 in Erfurt den ältesten Sohn Johann Christoph Bach auf der Orgel (der wiederum sollte einige Jahre später seinen jüngeren Bruder Johann Sebastian unter seine Fittiche nehmen, der dann auch zeitlebens die Werke Kerlls und Pachelbels schätzte). Pachelbels Wechsel in Organistenämter am Stuttgarter Hof (1690) und in Gotha (1694) sollten indes Episoden bleiben; die Einladung eines Adeligen, gar im englischen Oxford als dessen Musiker zu wirken, schlug er aus. Und so kehrte er im Sommer 1695 endgültig nach Nürnberg zurück und wurde Organist an St. Sebald, bis zu seinem Tod 1706.

Da Pachelbel überwiegend in kirchlichen Ämtern wirkte, ist er der Nachwelt vor allem als Komponist von Orgelmusik und geistlichen Vokalwerken in Erinnerung geblieben. Insbesondere die Kompositionen fürs Tasteninstrument wurden von Organistengeneration zu Organistengeneration weitergereicht. Dass er jedoch auch auf seine Kammermusik für Streicher große Stücke hielt, ist an der Publikation seiner Musicalischen Ergötzung abzulesen, "bestehend in Sechs Verstimten Partien à 2 Violin nebst den Basso Continuo, welche denen Liehabern der Edlen MUSIC zur Recreation gesetzt und Radiert von JOHANN PACHELBEL, Org. der Pfar Kirchen zu St. Sebald in Nürnberg" -- den Notenstich hatte der Komponist demnach eigenhändig besorgt. Das muss aber nicht bedeuten, dass er die Werke auch erst in Nürnberg komponiert hat: das Manuskript der stilistisch ähnlichen Partie in G-Dur, die das heutige Konzert eröffnet, gelangte einst aus der Bibliothek der Erfurter Michaeliskirche in eine der reichen Berliner Handschriftensammlungen.
Den vier im Konzert vorgestellten Partien ist gemeinsam, dass sie nach Art der französischen Suite angelegt sind: Einer gravitätisch anhebenden und fugisch fortgeführten Eröffnung folgt eine abwechslungsreiche Reihe von stilisierten Tanzsätzen, die von einer kantableren Aria unterbrochen ist und bisweilen in der Form der Chaconne oder Passacaglia von Variationen über einem beständig wiederholten Thema abgeschlossen wird. Doch unterscheiden sich die Partien auch in zwei wesentlichen Punkten: Im Druck finden sich nur Triokompositionen für zwei Violinen und Basso continuo, während die handschriftlich überlieferten Schwesterwerke zusätzlich noch eine Mittelstimme verlangen. Außerdem sind die beiden Violinen der Ergötzung "verstimmt" zu spielen, wie es im Titel heißt, sie gehen also jeweils von einer abweichenden (skordierten) Grundstimmung aus -- eine Eigenheit, die sich in einer Vielzahl ähnlicher Kompositionen aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhundert findet, die aber nicht zwangsläufig mit jenen besonderen Klangwirkungen verbunden ist, wie sie die berühmten Zyklen der Rosenkranz-Sonaten und der Harmonia artificioso-ariosa des Böhmen Heinrich Ignaz Franz Biber bieten.
Die melodische und kontrapunktische Meisterschaft, die sich in Pachelbels Partien Satz für Satz in wechselnder Gewichtung zeigt, ist dann in seinem heute wohl bekanntesten Werk auf engstem Raum konzentriert: in jenem Canon à 3 Violinis con suo Basso (mit angehängter Gigue), der auf der Basis eines beständig wiederholten Bass-Motivs die zweite und dritte Violine (jeweils um einen Takt versetzt) die Oberstimme notengetreu imitieren lässt.

Als Pachelbel 1677/78 unter Herzog Johann Georg in Eisenach wirkte, hatten dort auch die Stadtmusiker im Schloss aufzuspielen. Gut dreißig Jahre später erst ließ Herzog Johann Wilhelm eine eigene Hofkapelle zusammenstellen, und dazu konnte er den offenbar in allen Belangen souverän agierenden Georg Philipp Telemann verpflichten. Der hatte sich zuvor als Kapellmeister der kleinen schlesischen Residenz Sorau noch freundschaftliche Dispute mit dem Kantor Wolfgang Caspar Printz über die jüngsten musikalischen Stilentwicklungen geliefert: "Denn er beweinte bitterlich die Ausschweifungen der itzigen melodischen Setzer: wie ich die unmelodischen Künsteleyen der Alten belachte", so schildert es Telemann in Matthesons Ehren-Pforte. In Eisenach musste er sich nun in seinen geigerischen Fähigkeiten am neuen Kollegen Pantaleon Hebenstreit messen lasen, der nicht nur auf dem bald nach ihm benannten Hackbrett ein Virtuose war:
"Die Absicht war in Eisenach anfangs nur auf eine Instrumental-Musik gerichtet, deren Glieder der nie genug zu rühmende Hr. Pantaleon Hebenstreit zusammen suchte, und welchen ich, als Concertmeister, vorgesetzet ward: mithin bey der Tafel und in der Kammer die Violine, und das übrige, zu spielen hatte; da jener den Nahmen eines Directoris führte, in der letzten aber auch mitgeigete, und auf seinem bewunderungswürdigen Cymbal sich hören ließ. ... Hierbei besinne ich mich der Stärcke besagten Hrn. Hebenstreits auf der Violine, die ihn gewiß des ersten Ranges unter allen andern Meistern würdig machte: dass, wenn wir ein Concert mit einander zu spielen hatten, ich mich etliche Tage vorher, mit der Geige in der Hand, mit aufgestreifftem Hemde am linken Arm, und mit stärckenden Beschmierungen der Nerven einsperrte, und bey mir selbst in die Lehre ging, damit ich gegen seine Gewalt mich in etwas empören könnte."
Es ist sehr wahrscheinlich, dass Telemann die meisten Streichersonaten für die junge Eisenacher Hofkapelle komponierte, die seiner Einschätzung nach sogar das spätere Pariser Opern-Orchester übertraf. Seien diese Werke nun wie jenes in F-Dur (TWV 43: F 1) als Sonata oder wie jenes in d-Moll (TWV 43: d 2) als Concerto überschrieben: es handelt sich um Stücke in der italienischen da chiesa-Form, mit der zweimaligen Abfolge eines gravitätisch oder rhapsodisch angelegten langsamen und eines konzertanten, imitatorisch ausgefeilten schnellen Satzes. Der italienische gusto nach dem Vorbild Arcangelo Corellis war inzwischen neben den schon länger praktizierten französischen goût eines Jean-Baptiste Lully getreten. Telemann verstand beides mit einer gehörigen Portion kontrapunktischer Tiefe zu würzen, das belegen die schnellen Sätze des F-Dur-Stücks ebenso nachhaltig wie der dreistimmige Kanon im Ritornell des d-Moll-Schlussatzes.
Dass der große Telemann-Bewunderer Johann Friedrich Fasch mit den gleichen Zutaten komponierte, ist beileibe kein Zufall: "Bey dieser Gelegenheit kann ich nicht umhin, es öffentlich zu bekennen", so der Zerbster Kapellmeister 1757 im Rückblick auf seine Leipziger Schüler- und Studentenzeit, aus der seine Bekanntschaft mit dem sieben Jahre älteren Telemann herrührte, "dass ich aus meines geehrtest- und geliebtesten Freundes, des Herrn Capellmeister Telemanns schönen Arbeiten damahlen meist alles erlernete, indem ich solche mir ... beständig zum Muster nahm."
Was ihn in einem reifen Werk wie der d-Moll-Sonate (FWV N: d 3) aber nicht davon abhielt, eine leicht andere, noch konzertantere Gewichtung vorzunehmen.

behe

Mitwirkende

Harmonie Universelle

Florian Deuter, Violine
Mónica Waisman, Violine
David Glidden, Viola
Stefan Schultz, Violoncello
Christoph Lehmann, Cembalo
Michael Dücker, Laute