Saison 2005/2006: Konzert 3
Petrarcas Lyrik in der Prima und Seconda Pratica
LaVenexiana Sendung im Deutschlandfunk am 6.12.2005Es kann klein und fein sein, kurz oder lang, witzig oder ernst, weltlich oder geistlich, frivol und lasziv, tiefschürfend oder oberflächlich - das italienische Madrigal. Aus solcher Vielfalt heraus gab das italienische Madrigal Impulse für fast alle Richtungen europäischer Vokalmusik nach dem 16. Jahrhundert. Man kann es deutsch und ernst mit einem großen Chor zelebrieren, man kann es aber auch - wie La Venexiana - mit der ihm eigenen Theatralik und mit Sprachwitz singen. In ihrer mediterranen Mischung von Textdeklamation, rhetorischer Farbe und harmonischer Verfeinerung spüren die Sänger auf spannende Weise den Subtilitäten des Textes und der Musik mit überraschenden Ergebnissen nach. Ein "Muss" für jeden Liebhaber des italienischen Madrigals.
Programmfolge
(Madrigali a cinque voci, libro primo, Rom 1554)
Orlando di Lasso (1532-1594)
(Libro quarto de madrigali a cinque voci, Venedig 1567)
Luca Marenzio (1553/54-1599)
(Il nono Iibro de madrigali a cinque voci, Venedig 1599)
Cipriano de Rore (1515/16-1565)
(Il secondo Iibro de madregali a quatro voci, Venedig 1557)
Luca Marenzio
(Il nono Iibro de madrigali a cinque voci, Venedig 1599)
Philippe de Monte
(Madrigali a cinque voci, libro primo, Rom 1554)
Luca Marenzio
(Il nono Iibro de madrigali a cinque voci, Venedig 1599)
Pause
Luca Marenzio
(Madrigali ... libro primo a quatro voci, Venedig 1585)
Orlando di Lasso
(Libro quarto de madrigali a cinque voci, Venedig 1567)
Luca Marenzio
(Il nono Iibro de madrigali a cinque voci, Venedig 1599)
Andrea Gabrieli (ca. 1510-1586)
(I dolci et harmoniosi concenti ... a cinque voci, libro secondo, Venedig 1562)
Luca Marenzio
Amor, i' ho molti e molt'anni pianto
(Il nono Iibro de madrigali a cinque voci, Venedig 1599)
Pdf-Download: Gesangstexte und Übersetzungen.
Klassiker der Renaissance
Zu den zentralen Persönlichkeiten in der italienischen Musik des 16. Jahrhunderts zählt ein Künstler des Trecento, der sich der ars musica selbst nur in privaten Mußestunden gewidmet hatte: Francesco Petrarca. Der große Humanist und Diplomat, der 1304 in Arezzo geboren war und an verschiedenen Orten Italiens sowie der Provençe gelebt hatte, wurde nicht nur als einer der Väter der italienischen Literatur angesehen, er blieb auch für Jahrhunderte ihr Leitstern. Und das, obwohl er sich selbst in erster Linie als lateinischer Dichter verstanden hatte. Einen starken Antrieb erhielt die Petrarca-Begeisterung des Cinquecento durch die Druckausgaben seiner Werke, die seit 1470 erschienen. Einen Höhepunkt stellte dabei Pietro Bembos 1501 veröffentlichte Edition der Rerum vulgarium fragmenta dar: Diese "Bruchstücke muttersprachlicher Dichtungen" – eine Sammlung von 317 Sonetten, 29 Canzonen, 9 Sestinen, 7 Balladen und 4 Madrigalen, an denen Petrarca bis zu seinem Tod 1374 gearbeitet hatte – wurden zu einer nimmer versiegenden Text- und Inspirationsquelle für die Komponisten; die heute übliche und treffende Bezeichnung der Fragmenta als Canzoniere ist freilich jüngeren Datums; sie geht auf eine italienische Ausgabe von 1883 zurück. Das Thema der unerfüllten Liebe des lyrischen Ichs zu seiner Geliebten durchzieht das gesamte Werk; es ist nach Petrarcas eigenen Angaben von einer Dame namens Laura inspiriert, die er 1327 in einer Kirche Avignons kennenlernte und die 1348 starb. Ob es sich bei dieser Laura aber nicht doch um eine literarische Fiktion handelt (wie schon Petrarcas Zeitgenossen vermuteten), wird sich wohl nie klären lassen. Kommt ihr Name im Canzoniere auch nur einmal wortwörtlich vor, so sorgte der 1341 öffentlichkeitswirksam in Rom gekrönte Dichter (poeta laureatus) durch ähnlich lautende Textbildungen im Zusammenhang mit den Begriffen "Gold" oder "golden" (l'auro, l'oro, aureo), der Morgenröte (l'aurora), dem sanften Lufthauch (l'aura), vor allem aber dem Lorbeer (lauro) für ihre stete poetische Präsenz.
Petrarcas außergewöhnliche Fähigkeit, den menschlichen Seelenzuständen in den Formen einer aus der lateinischen Klassik entwickelten Metaphorik, aber gleichzeitig in der unmittelbarer berührenden Gestalt der Volkssprache Ausdruck zu verleihen, ließ ihn auch mehr als ein Jahrhundert nach seinem Tod noch so modern erscheinen. Und so wurde es im 16. Jahrhundert selbst nördlich der Alpen zur Mode, weltliche Vokalmusik auf italienische Texte zu vertonen – nicht zuletzt in Deutschland, wo man sich noch Jahrzehnte später schwer tun sollte, die eigene Sprache in ein auch höheren literarischen Ansprüchen genügendes Idiom zu bringen.
Die Herangehensweise der Komponisten an ihre Textvorlagen war natürlich ebenso individuellen Geschmacksvorlieben und modischen Kunstströmungen unterworfen wie dem eigenen Genie. Dabei fühlten sich die Renaissance-Musiker immer seltener verpflichtet, an der Textstruktur der literarischen Vorlage entlang zu komponieren. Das spiegelt sich deutlich in der Tatsache wider, dass man bald auch Kompositionen, denen Sonette und Sestinen als Grundlage dienten, schlichtweg Madrigal nannte – und damit geradezu programmatisch die Bezeichnung jener literarischen Gattung wählte, die besonders variabel war und große Freiheiten in Versmaß und Reimschema zuließ. Die Musik sollte die inhaltlichen Seiten des Textes bis ins Detail mit ihren eigenen klanglichen Mitteln zum Ausdruck bringen. In welcher Weise und bis zu welchen Grenzen – damit setzte man sich leidenschaftlich in so genannten Akademien auseinander, jenen Privatzirkeln humanistisch gebildeter Adeliger und Bürger, die sich in den auch wirtschaftlich aufblühenden Stadtstaaten Italiens dem Fortschritt der Kunst verschrieben hatten.
Spätestens mit der Streitschrift L'Artusi ovvero delle imperfettioni della moderna musica, die der Bologneser Priester Giovanni Maria Artusi im Jahr 1600 veröffentlichte, wurde aus der ästhetischen Diskussion ein öffentlich ausgetragener Streit. Artusi prangerte satztechnische Regelverstöße in Madrigalen Claudio Monteverdis an. Als dieser 1605 einige der kritisierten Kompositionen in seinem 5. Madrigalbuch veröffentlichte, antwortete er im Vorwort auf Artusis Vorwürfe, indem er zur affektgemäßen Textvertonung eine gegenüber den traditionellen Kontrapunktregeln freiere, "zweite" Art postulierte: "Dieses habe ich Euch mitteilen wollen, zum einen, damit dieser Begriff >seconda pratica< nicht irgendwann von anderen benutzt wird, zum anderen, damit auch einfallsreiche Leute sich über andere >zweite Dinge<, die den musikalischen Satz betreffen, ihre Gedanken machen und glauben können, dass der moderne Komponist auf den Fundamenten der Wahrheit arbeitet." Im Vorwort zu Monteverdis Scherzi musicali skizzierte sein Bruder Cesare dann zwei Jahre später eine Art Genealogie dieser seconda pratica, mit Cipriano de Rore als ihrem Erfinder und Marc' Antonio Ingegneri, Luca Marenzio, Giaches de Wert und Luzzasco Luzzaschi als seinen Nachkommen.
Im heutigen Konzert erklingt die ältere und die neuere Satzart in einer Reihe meisterhafter Kompositionen auf Petrarcas eindrucksvolle Lyrik. Dabei repräsentieren die beiden fünfstimmigen Werke des Flamen Philippe de Monte, die er 1554 in seinem ersten Madrigalbuch veröffentlichte, die konservative, der klassischen Motette ähnliche Form, deren ausgewogener, meist in kanonischer Strenge voranschreitender Kontrapunkt auch etwas von dem Respekt des Komponisten vor den Dichtungen Petrarcas verrät, als er diese Werke in Neapel schrieb. Er sollte übrigens im Laufe seiner Karriere so viele Texte des Canzoniere vertonen wie kein anderer. In späteren Jahren, als kaiserlicher Hofkapellmeister Maximilians II. und Rudolfs II., wandte er sich aber vermehrt den zeitgenössischen Petrarca-Nachahmern zu, ohne seine Tonsprache grundlegend zu ändern.
Orlando di Lasso und Cipriano de Rore teilten mit de Monte die Erfahrungen einer Jugend in Flandern, der sich musikalische Studien und Anstellungen in Italien anschlossen. Wie de Monte 1568 am Wiener Kaiserhof, so fand der ein gutes Jahrzehnt jüngere Lasso am Münchner Hof des Bayernherzogs Albrecht V. seine Lebensstellung, nachdem er bis 1554 im Dienst verschiedener Herren vornehmlich in Neapel und Rom gestanden und anschließend für mehr als ein Jahr in Antwerpen gelebt hatte. Ein kollegialer Freund de Montes, bedient er sich einer wesentlich flexibleren, auch bereitwillig auf die Eigenarten des Textes eingehenden Tonsprache. So verwundert es kaum, dass er sich schon früh zu den neuartigen, auf sinnlich erfahrbare Textausdeutungen abzielenden Satz-Kühnheiten des älteren Cipriano de Rore bekannte.
De Rore selbst blieb zeitlebens in italienischen Diensten. Er wirkte offenbar zunächst als Sänger in Venedig, bevor er ca. 1545 zum maestro di cappella am Hof der Este in Ferrara ernannt wurde, ein Amt, das er bis zum Tod des Herzogs Ercole II. 1559 innehatte und dem eine Anstellung bei der Adelsfamilie Farnese in Brüssel und Parma folgte. 1563 zum Kapellmeister am Markusdom in Venedig ernannt, kehrte de Rore im Jahr darauf, enttäuscht von den Arbeitsbedingungen, nach Parma zurück, wo er 1565 starb. Nicht umsonst nennt Cesare Monteverdi ihn den Vater der seconda pratica. Und das beileibe nicht nur, weil er sich wesentlich freizügiger als seine Kollegen der Chromatik mit ihrer immer wieder frappierenden Folge von Halbtonschritten bediente. Im vierstimmigen Madrigal Mia benigna fortuna, veröffentlicht 1557 in einer überwiegend seinen Werken gewidmeten Sammelpublikation, fällt sofort die für de Rore und seine Schule typische Binnengliederung des Textes durch viele Kadenzen, Pausen und Taktwechsel auf.
Nicht ein direkter Zeitgenosse de Rores, wie man bis vor zwei Jahrzehnten noch vermutete, sondern derjenige Lassos ist der Venezianer Andrea Gabrieli. Neben Lasso taucht sein Name auch 1562 im Gefolge des bayerischen Herzogs auf, der damals nach Frankfurt zur Kaiserkrönung Maximilians II. unterwegs war. In den folgenden Jahren könnte sich Gabrieli ebenfalls nördlich der Alpen aufgehalten haben; 1566 trat er dann das Amt des ersten Organisten am Markusdom in Venedig an und blieb ihm bis zu seinem Tod 1585 treu. Sein Madrigal I' vo piangendo erschien bereits 1562 in einem venezianischen Sammeldruck, vier Jahre, bevor er sein erstes Madrigalbuch – wiederum mit einer Reihe Petrarca-Texten – veröffentlichte.
Luca Marenzio, eine Generation jünger als die eben genannten Komponisten, vertritt im heutigen Programm am entschiedensten die musikalische Sprache der seconda pratica. Aus Brescia stammend, kam er früh in die Musikerdienste der Familie Gonzaga in Mantua und profitierte dort von der Kunst des Kapellmeisters Giaches de Wert, einem der Schüler de Rores. Seit der Mitte der 1570er Jahre ist Marenzio dann in Rom anzutreffen, nacheinander im Dienst verschiedener Kardinäle, von denen ihm Cinzio Aldebrandini wohl 1595 die Anstellung am polnischen Königshof Sigismunds III. vermittelte. Sie sollte ein Intermezzo bleiben; spätestens im Herbst 1598 kehrte Marenzio nach Rom zurück, wo er einige Monate später mit nur 45 Jahren starb. So wurde das 9. Madrigalbuch von 1599 zu seinem besonderen Vermächtnis. Hier entfaltet sich der ganze Kosmos seiner mit geradezu expressionistischer Zielstrebigkeit auf die Semantik des Textes eingehende Kunst – merkwürdig, dass der bei Monteverdi so kritische Artusi hierzu schwieg. Sechs Petrarca-Vertonungen des 9. Buches sowie das schon vierzehn Jahre früher publizierte Zefiro torna stellen sich heute Abend den Madrigalen der älteren Kollegen zur Seite – mitunter ein wenig provokant, auf jeden Fall aber abwechslungs- und aufschlussreich.
Mitwirkende>
Claudio Cavina - Altus
Giuseppe Maletto - Tenor
Paolo Borgonovo - Tenor
Daniele Carnovich - Bass