Saison 2008/2009: Konzert 7
Giovanni Valentini
Musiche concertate, Venedig 1619 Musica fiata | La capella ducale Ltg. Roland Wilson Sendung im Deutschlandfunk am 12.5.2009Für Claudio Monteverdi waren sie eine ernstzunehmende Konkurrenz, die sechs- bis zehnstimmigen Madrigale, die Giovanni Valentini 1619 in seiner Geburtsstadt Venedig unter dem Titel »Musiche concertate« veröffentlichte. Für Valentini selbst waren sie wahrscheinlich das probate Mittel, um seine Beförderung vom kaiserlichen Hoforganisten zum Kapellmeister zu beschleunigen. Roland Wilsons effektvolle Stückauswahl zeigt, was der Wiener Hof an Valentinis instrumental begleiteten Gesangsstücken so schätzte: Passagen, die der ungarischen Zigeunermusik zu entstammen scheinen, Jagdhornsignale, die auf einem Zink gespielt werden, eine Wasserpfeife als Vogel-Imitation oder Posaunen- und Violone-Töne als Nachahmung von Kanonendonner.
Programmfolge
"Deh fuggite" à 9
Madrigal für 2 Soprane, Alt, 2 Tenöre, Bass, 2 Zinken, Violone und B.c.
"È partito il mio bene" à 8
Madrigal für Sopran, Alt, 2 Tenöre, Bass, 2 Violinen, Violone und B.c.
"Orsa bella crudele" à 6
Madrigal für 2 Tenöre, Bass, 2 Zinken, Violone und B.c.
Sonata à 5
für 2 Violinen, 2 Zinken, Posaune und B.c.
"Fra bianchi giglie" à 7
Madrigal für Sopran, Alt, Tenor, Bass, 2 Violinen, Violone und B.c.
"Un dì soletto" à 7"
Madrigal für 2 Soprane, 2 Tenöre, Bass, Violine, Violone und B.c.
Pause
Dario Castello (um 1590-1630)
Sonata XVII in ecco
für 2 Zinken, 2 Violinen und B.c.
Giovanni Valentini
"Augellino" à 7
Madrigal für Sopran, Alt, Tenor, Bass, 2 Violinen, Violone und B.c.
"Caro vezzo d'amor" à 8
Madrigal für 2 Soprane, Alt, Tenor, Bass, 2 Zinken, Violone und B.c.
"Quell' augellin che canta" à 9
Madrigal für 2 Soprane, Alto, 2 Tenöre, Bass, 2 Violinen, Violone und B.c. (sowie "Rossignolo di Creta")
"Ecco vicine" à 8
Madrigal für 2 Soprane, Alt, 2 Tenöre, Bass, 2 Violinen, Violone und B.c.
Dario Castello
Sonata X à 2
für 2 Violinen, Violone, Orgel und Chitarrone
Giovanni Valentini
"Tocchin le trombe all'arma" à 10
Madrigal für 2 Soprane, 2 Tenöre, Bass, 2 Zinken, Viola, Posaune, Violone und B.c.
Pdf-Download: Gesangstexte und Übrsetzungen
Plädoyer für eine Valentini-Renaissance
Zu anderen Zeiten als heute - Europa war in jahrzehntelange kriegerische und kostspielige Auseinandersetzungen verwickelt und mit sich selbst beschäftigt - verfielen die Ökonomen zur Stabilisierung der Staatskassen auf Ideen, die immer noch aktuell sind: etwa die Kürzung der Ausgaben für kulturellen Aufwand. An der Wiener Hofhaltung Kaiser Ferdinands II. (Regentschaft 1619-1637) wären damit nicht unerhebliche Mittel frei geworden - seine Hofkapelle war mit sechzig bis siebzig Sängern und Instrumentalisten besetzt. Das damit gegebene Einsparungspotenzial übersahen die kaiserlichen Ratgeber keineswegs, stießen mit ihren Vorschlägen aber regelmäßig auf taube Ohren. Wir dürfen dem Kaiser also ebenso wie seinem Sohn und Nachfolger Ferdinand III. aus bloßer Neigung zu den schönen Künsten eine höhere und bessere Einsicht unterstellen: Schließlich fanden sich auch unter schwierigsten Bedingungen immer Mittel und Wege, finanzielle Engpässe zu überbrücken. Bevor er Musiker entlassen musste, nahm es Ferdinand II. lieber auf sich, seinen Feldherrn Wallenstein um 50.000 Gulden anzugehen, die er "gerade nicht unter der Hand hatte".
An der Spitze der großen Kapelle stand seit 1626 Giovanni Valentini, den Kollegen in vergleichbaren Stellungen nicht übersehen konnten und von dem sich die fähigeren unter ihnen bei Gelegenheit zu außerordentlichen Leistungen anspornen ließen. Genannt sei hier neben Heinrich Schütz und Claudio Monteverdi noch der Venezianer Dario Castello, der mit seinen Sonate concertate in stil moderno von 1629 dem Wiener Hofstil und damit seinem wichtigsten Vertreter huldigte.
Valentini stammte wohl aus Venedig oder dem Veneto und gilt als Schüler von Giovanni Gabrieli, dem Organisten an San Marco. Um 1605 fand er eine erste Anstellung am polnischen Hof - seine instrumentalen Fähigkeiten dürften dazu den Ausschlag gegeben haben. Seit 1609 machte er sich über sein engeres Umfeld hinaus mit mehreren Drucken auch als Komponist bekannt. Er begann mit einem Motettenbuch, drei Büchern mit Instrumentalkanzonen und einer ersten Sammlung von Madrigalen. Es scheint, als seien diese Erstlingswerke rasch "verbraucht" worden. Das Madrigalbuch ist spurlos verschwunden, von den Motetten kennen wir gerade ein Stimmbuch und von den Kanzonen auch nicht mehr. Immerhin überlebten davon einige Abschriften, die sich im Kontext der frühen Instrumentalmusik bemerkenswert originell ausnehmen.
1614 wechselte Valentini, ebenfalls als Hoforganist, an die Habsburger-Residenz Erzherzog Ferdinands in Graz. Von hier aus ließ er ein zweites Madrigalbuch erscheinen, dem mehrere Bände mit geistlicher Musik folgten. 1619, im Jahr der Kaiserkrönung Ferdinands, aber noch vor diesem auch für Valentini entscheidenden Ereignis (weil er mit der gesamten Kapelle seinem Dienstherrn nach Wien folgte), gingen die Musiche concertate in Druck, der hauptsächliche Gegenstand des heutigen Konzerts. Obwohl die Sammlung keine Ordnungszahl trägt, fügt sie sich vor einem vierten und fünften Madrigalbuch (1621, 1625) als dritte einschlägige Veröffentlichung in diese Reihe ein. 1626 auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt, verzichtete der kaiserliche Hofkapellmeister dann auf die Veröffentlichung weiterer Kompositionen. Für diesen seltsamen Umstand gibt es kaum eine vernünftige Erklärung. Bis in seine letzten Lebensjahre reicht aber die handschriftliche Überlieferung. Sie wartet darauf, wahrgenommen und für Aufführungen benutzt zu werden.
Der historische und ästhetische Rang von Valentinis erhaltener Musik definiert sich über die Unmöglichkeit, sie exemplarisch zu beschreiben. Einige allgemein gültige und doch unverwechselbare Eigenarten Valentinis lassen sich trotzdem benennen. Neben "Ausreißern", die das etablierte satztechnische Regelgebäude seiner Zeit vorsätzlich auf den Kopf stellen, finden sich ausgesprochene Experimente, die aber mit Kraft zur Synthese aufgefangen und geordnet werden. Die Wahl der aufgestellten Materialien und ihre Verarbeitung ist ebenso originell, wie die instrumentale und vokale Artistik ihrerseits Zumutungen mit "unerhörten" Resultaten bereithält. Ohne die Gesetzmäßigkeiten der Melodiebildung zu ignorieren und ohne sie aus bloßer Willkür zu unterlaufen, verschaffte sich Valentini doch einige Vorteile damit, sie bei Gelegenheit auszusetzen, stets im Interesse einer intensivierten Textinterpretation. Mit wiederholten Terzsprüngen, die noch dazu sequenziert werden und dabei dem dissonanten Intervall einer verminderten Quinte nicht ausweichen, setzt beispielsweise der Bassist zur sanften Landung an einem weißen Busen an (Fra bianchi giglie). Auf die Spitze getrieben wird diese Ausnahmesituation, wenn gleich fünf solcher Sprünge aufeinander folgen, die in der Summe also eine Art "Cluster" ergeben (nicht zu überhören in È partito il mio bene und Ecco vicine).
Zu Valentinis Pionierleistungen zählt es, die Zufälligkeit der Klangbeziehungen seiner Zeit hinterfragt und zur Ordnung der modernen Tonalität beigetragen zu haben. Deshalb kann er es sich leisten, diese neue Ordnung bei Bedarf gleichzeitig zu suspendieren. Mit "mediantischen" Wendungen verfolgt er entweder Überraschungseffekte, oder er instrumentalisiert sie zur Verdeutlichung heißen Liebesbegehrens, wenn auf einen D-Klang unvermittelt ein F-Klang folgt, der sich dann als "Subdominante" der Stufe C herausstellt (Quel augellin che canta).
Der vokalen Artistik ebenbürtig sind die Anforderungen, die Valentini an seine Instrumentalisten stellt, womit er umgekehrt aber auch deren Fähigkeiten Rechnung trägt. Zur Hofkapelle gehörten so berühmte Leute wie der Zinkenist Giovanni Sansoni, außerdem die aus Mantua abgeworbenen Brüder Giovanni Battista und Orazio Rubini - sie trieben die Technik des Violinspiels voran. Deshalb konnte es Valentini als erster wagen, bis zum dreigestrichenen d zu gehen. Die heute aufgeführte Sonata à 5 macht davon reichlich Gebrauch. Im übrigen sind die Musiche nicht arm an besonderen Instrumentaleffekten. Bei Quel augellin che canta sind Nachtigallen zu hören, die von wassergefüllten Tonpfeifen ausgeführt werden sollen. Als Musikethnologe betätigt sich Valentini, wenn er über dem Ostinato eines gebrochenen F-Dur-Klanges die Solovioline eine Melodie spielen lässt, deren Leitersystem wohl der ungarischen Folklore seiner Zeit angehört (Un dì soletto). Deh fuggite gl'amor verknüpft wie andere Stücke der Sammlung die Liebesthematik mit Jagdmotiven - der Zinkenist hat dazu Hörnerrufe nachzuahmen. Das martialische Tocchin le trombe all'arma schließlich erneuert die Tradition der Battaglia. Der Text, der möglicherweise von Valentini selbst stammt, gibt reichlich Gelegenheit zu kriegerischem Lärmen. Posaune und Violone haben Kanonendonner und Feldmusik zu imitieren, der Zink das obligate Trompetengeschmetter.
Claudio Monteverdi hatte 1618 sein 7. Madrigalbuch mit einiger Emphase Concerto betitelt und so dafür Reklame gemacht, dass er sich hier zum ersten Mal ausschließlich konzertierender Techniken bediente. Wenn Valentini nur ein Jahr später sein drittes Buch Musiche concertate nannte, dann verwendete er wie bereits Giulio Caccini (Nuove musiche, 1601) einen neutralen Terminus, um auf die Verschiedenartigkeit der vertonten Textvorlagen hinzuweisen. Zwar begegnen wir einigen Madrigalen, dieser freiesten aller dichterischen Gestaltungen, und einem Sonett, jener Form, in der sich bereits im 16. Jahrhundert unter dem Einfluss des Petrarkismus viele Madrigalkomponisten eingerichtet hatten. Daneben wählte Valentini aber Strophenformen aus, deren Regelmäßigkeit und Textreichtum den Kompositionsprozess natürlich steuern und erneuern, dem Komponisten mithin veränderte Aufgaben stellen, auf die nicht selten mit einer Art "moderner Einfachheit" reagiert wurde - oder aber wie bei Valentini mit besonders erfindungsreichen und individuellen Lösungen.
Die Madrigale Valentinis rechnen mit spezialisierten Musikern und einem entsprechend gebildeten Publikum. Ihre mangelnde oder dürftige Rezeption in den letzten Jahrhunderten könnte damit zusammenhängen. Nun gibt es seit einiger Zeit fähige Ensembles, die imstande sind, sich dieser Musik angemessen anzunehmen. Vorläufig bleibt sie zwar noch ein Geheimtipp. Trifft sie indessen auf ein verständiges Publikum, sollte einer Valentini-Renaissance nichts mehr im Wege stehen.
Mitwirkende
La capella ducale
Ltg. Roland Wilson
La Capella Ducale und Musica Fiata musizieren heute in folgender Besetzung:
Susanne Rydén, Constanze Backes - Sopran
Alex Potter - Alt
Hermann Oswald, Markus Brutscher - Tenor
Harry van der Kamp - Bass
Anette Sichelschmidt - Violine, Viola
Christine Moran - Violine
Roland Wilson, Frithjof Smith - Zink
Cas Gevers - Posaune
Axel Wolf - Chitarrone
Hartwig Groth - Violone
Johanna Seitz - Harfe
Christoph Anselm Noll - Orgel, Cembalo, Regal