Saison 2009/2010: Konzert 8
Das Partiturbuch des Jakob Ludwig
Harmonie Universelle Ltg. Florian Deuter Sendung im Deutschlandfunk am 22.6.2010Ein Geburtstagsgeschenk der besonderen Art machte der Gothaer Hofmusiker Jakob Ludwig im April 1662 seinem früheren Arbeitgeber, dem Herzog von August von Braunschweig und Lüneburg. Ludwig hatte sich die Mühe gemacht, ein Partiturbuch mit fein-säuberlichen Abschriften von mehr als 100 Sonaten, Canzonen, Arien und Tanzsätzen für bis zu acht Instrumente anzulegen, in »der heutiges Tages besten und an Fürstl. und ander Höffen gebräuchlichsten Manier. Und Führnehmster Autorum Composition«. Namen aus Mitteldeutschland finden sich in Jakob Ludwigs Sammlung ebenso wie die der kaiserlichen Kapellmeister Giovanni Valentini, Antonio Bertali und Johann Heinrich Schmelzer. Florian Deuter und sein Ensemble Harmonie Universelle erwecken das alte Manuskript zu neuem Leben.
Programmfolge
Canzon a 5 für 5 Melodieinstrumente und Basso continuo
(Partiturbuch Ludwig, Nr. 89)
Heinrich Bach (1615-1692)
Sonata a 5 für 2 Violinen, 2 Violen, Violone und Basso continuo (Nr. 93)
David Pohle (1624-1695)
Sonata a 4 für 2 Violinen, Viola und Basso continuo (Nr. 74)
Johann Heinrich Schmelzer (ca. 1620-1680)
Sonata »La bella pastora« für 2 Violinen und Basso continuo (Nr. 41)
Anonymus (17. Jahrhundert)
Canzon a 4 für Violine, 2 Violen, Violone und Basso continuo (Nr. 86)
Giovanni Valentini (ca. 1582-1649)
Sonata a 6 für 5 Melodieinstrumente und Basso continuo (Nr. 95)
Antonio Bertali (1605-1669)
Sonata a 4 für 2 Violinen, Viola, Violone und Basso continuo (Nr. 76)
Pause
Heinrich Bach
Sonata a 5 für 2 Violinen, 2 Violen, Violone und Basso continuo (Nr. 92)
Antonio Bertali Ciaconna für Violine und Basso continuo (Nr. 3)
Anonymus (17. Jahrhundert)
Canzon für 2 Violinen, 2 Violen, Violone und Basso continuo (Nr. 91)
Andreas Uswalt (1634-1665)
Aria variata für 2 Violinen und Basso continuo (Nr. 54)
Antonio Bertali Sonata a 4 für 2 Violinen, Viola, Violone und Basso continuo (Nr. 80)
Ein Florilegium aus Gotha
Seit der Etablierung des Notendrucks um das Jahr 1500 ist ein bedeutender Teil der abendländischen Musik in zeitgenössischen Druckausgaben überliefert, die sich in der Regel auf bestimmte Werkgattungen oder aber auf einzelne Komponisten konzentrieren. Mehr als die enthaltenen Kompositionen verraten manchmal die Vorworte des Autors oder des Herausgebers, die sich an die potenziellen Käufer oder auch an die Widmungsträger einer Edition richten, heute noch einiges über den Entstehungshintergrund und die Aufführungspraxis der Kompositionen – das macht diese alten Drucke doppelt wertvoll. Parallel zu den Druckausgaben entstand aber in früheren Jahrhunderten eine Vielzahl handschriftlicher musikalischer Quellen, die manchmal unmittelbare Einblicke in frühere Musikwelten geben. Dabei handelt es sich oft um Sammelbände, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort als eine Art Florilegium angelegt wurden, als »Blütenlese« aus dem gerade zugänglichen Repertoire, in der zusammenfand, was man gerade als besonders aufführenswert und deshalb auch bewahrenswert ansah. Denn nur das rechtfertigte die Mühe des Abschreibens aus einer Druckausgabe oder aus einem anderen Manuskript.
Ein solches Florilegium stellt das Partiturbuch des Jakob Ludwig dar, aus dem das Ensemble Harmonie Universelle heute Auszüge vorstellt. Sein Schreiber, dessen genaue Lebensdaten nicht bekannt sind, war als Musiker und Sekretär am Herzoghof Ernsts I. von Sachsen-Gotha tätig. Vermutlich zu Beginn des Jahres 1662 zeichnete er in säuberlichen Partituren 114 Stücke auf, »Sonaten, Canzonen, Arien, Allemand[en], Cour[anten], Sarab[anden], Chiquen. etc. Mitt. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. Instrumenten«, wie er im Titel formulierte – Werke »der heutigen Tages besten und an Fürstl. und ander Höffen gebräuchlichsten Manier. Und Führnehmster Autorum composition.« Die Stücke hat Ludwig nicht für den eigenen Gebrauch kopiert, sondern als Geburtstagsabe für den Welfen-Herzog August von Braunschweig-Lüneburg, bei dem er zuvor zwischen 1647 und 1652 als Tenorsänger sein Auskommen gefunden hatte. Da Ludwig das Partiturbuch, wie aus dem Titel weiter hervorgeht, zum herzoglichen Geburtstag »Dero Hertzliebsten Gemahlin Sophien Elisabethen unterthanigst überreicht« hat, handelt es sich vermutlich um ein Geschenk der Herzogin zum 83. Geburtstag des Ehemannes, das sie bei ihrem einstigen Hofmusiker in Gotha bestellt hatte. Das Partiturbuch gelangte dann in jene prachtvolle Bibliothek in der Residenz Wolfenbüttel, die der ganze Stolz Herzog Augusts war und die heute noch seinen Namen trägt. Dort findet sich der Band unter der Signatur Cod. Guelf. 34.7.
Es lässt sich nicht mehr feststellen, ob Ludwig die Notenquellen, aus denen er die Stücke abschrieb, sämtlich in Gotha vorfand oder ob er auch auf benachbarte Repertoires, etwa an den Höfen von Eisenach, Arnstadt und Weimar, zurückgriff. Jedenfalls belegt seine Zusammenstellung, dass man damals von Thüringen aus auch zum Kaiserhof nach Wien schaute, wo sich italienische und österreichische Musiker ein Stelldichein gaben.
Drei dieser Musiker sind im heutigen Programm vertreten – mindestens drei. Es ist nämlich nicht auszuschließen, dass auch eine oder mehrere der anonym überlieferten Canzonen des Partiturbuchs aus dem Umfeld der Habsburger stammen. Stilistisch repräsentieren diese Werke mit ihren kleinteiligen, stets wiederholten Abschnitten eine ältere Instrumentalform. Wie in der vokalen Motette bewegen sich die Oberstimmen hier überwiegend in dichten Imitationsfolgen – aber über einem Basso-continuo-Fundament und mit instrumententypischem Duktus.
Als Komponist von Canzonen präsentierte sich auch Giovanni Valentini seit 1609 in mehreren Drucken, von deren Existenz allerdings nur noch alte Verlagskataloge künden. Über ganz Europa verstreut, sind überhaupt nur ca. zwanzig Instrumentalwerke aus seiner Feder überliefert – ein umso größerer Wert kommt den beiden Sonaten zu, die sich als Unikate im Partiturbuch Ludwig finden. Valentini stammte wohl aus dem Veneto und gilt als Schüler von Giovanni Gabrieli, dem berühmten Organisten von San Marco in Venedig. Über den polnischen Königshof kam er 1614 zunächst als Hoforganist an die Habsburger-Residenz Erzherzog Ferdinands in Graz; 1619, im Jahr der Kaiserkrönung, folgte er ihm nach Wien. Dort wirkte Valentini als Nachfolger Giovanni Priulis von 1626 bis zu seinem Tod 1649 als Ferdinands Kapellmeister. Der imposante »imperiale« Stil des Hofes, dem er vor allem in seinen groß besetzten konzertanten Madrigalen folgte, klingt auch in der Sonata für fünf obligate Stimmen und Basso continuo nach, die heute zu hören ist.
Prominenter noch als Valentini ist sein Wiener Amtsnachfolger Antonio Bertali in Ludwigs Sammlung vertreten. Drei seiner Sonaten stehen gleich am Anfang des nach aufsteigender Stimmenzahl geordneten Manuskripts; bei der Sonata Nr. 3 handelt es sich um eine ausgedehnte Ciaconna, die dem Solisten Gelegenheit bietet, über dem stetig wiederholten Bassmotiv alle Facetten seiner violinistischen Kunst in einer breit angelegten Steigerung darzustellen. Die beiden anderen Bertali-Sonaten des heutigen Konzerts folgen in ihrer abwechslungsreichen Motivik und in der Besetzung mit zwei hohen und zwei tieferen Streichern zuzüglich Generalbass einem Standard der kammermusikalischen Ensemblemusik im 17. Jahrhundert.
Der Dritte im Bunde der in Ludwigs Partiturbuch versammelten Wiener Musiker ist Johann Heinrich Schmelzer, ein Niederösterreicher, der im Herbst 1649 in die Hofkapelle aufgenommen wurde und 1679 als erster Nicht-Italiener seit Generationen zum Kapellmeister ernannt wurde – was er nicht zuletzt seiner alles überragenden Violinkunst zu verdanken hatte. Die Sonata La bella pastora zeigt eine ganz unbeschwert-heitere Seite dieser Kunst: In zehn Variationen werfen sich die beiden Violinstimmen immer wieder die eingängige Liedweise von der schönen Schäferin zu, um sie wechselweise mit ständig neuerfundenen Begleitmotiven zu umspielen.
Mancher Komposition des Partiturbuchs begegnet man auch in anderen handschriftlichen Quellen der Zeit, so den beiden Sonaten für 2 Violinen, 2 Violen, Violone und Basso continuo, die Jakob Ludwig in seinem Partiturbuch Heinrich Bach zugeschrieben hat. Dieser Großonkel Johann Sebastian Bachs war im zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts zunächst in Schweinfurt und später in Erfurt als Stadtmusiker tätig, seit 1641 dann als Organist in Arnstadt. Etwa zur gleichen Zeit, als Ludwig in Gotha die Heinrich-Bach-Sonaten abschrieb, nahm eine Tagesreise entfernt in Weimar der Virtuose Christian Herwig dieselben Stücke als Kompositionen Johann Heinrich Schmelzers in ein höfisches Musikinventar auf. Auch ein Notenmanuskript aus dem böhmischen Kremsier nennt den kaiserlichen Hofkapellmeister als Komponist der beiden Sonaten. Doch ob sie nun aus Thüringen stammen oder aus Österreich: Von den übrigen Stücken des Partiturbuches heben sie sich durch eine etwas altertümlich
anmutende kompakte Klanglichkeit deutlich ab.
Ludwig jedenfalls notierte diese Sonaten in dem Bewusstsein, damit Repertoire mitteldeutscher Provenienz wiederzugeben. Und da steht Heinrich Bach im Partiturbuch alles andere als isoliert: Der aus dem Erzgebirge stammende David Pohle, der ebenfalls mit zwei Sonaten vertreten ist, war 1662 gerade zum Kapellmeister des Herzogs August von Halle-Weißenfels ernannt worden, nachdem er im Jahrzehnt zuvor Hofmusikerposten in Kassel, Schleswig und Magdeburg innehatte. Die heute vorgestellte Sonate für zwei Violinen, Viola und Basso continuo lebt vom quirligen ab- und aufwärts parlierenden Gesang der drei oberen Stimmen.
Dem Gothaer Partiturbuch verdanken wir auch nahezu sämtliche Kenntnisse über das kammermusikalische Schaffen des Weimarer Hoforganisten Andreas Uswalt. Es überliefert 17 Sonaten des jungen Musikers, der 1662 zum Wechsel nach Eisenach gezwungen war, da die Weimarer Hofkapelle nach dem Tod des Regenten aufgelöst wurde. Als Amtsnachfolger des eigenen Vaters wirkte Uswalt drei Jahre lang in Eisenach als Stadtorganist; dann starb er im Alter von nur 30 Jahren. Seine charmante Aria variata über ein liedhaftes Thema darf man in seiner melodiösen terzen- und sextenreichen Oberstimmenführung als einen wegweisenden deutschen Beitrag zur barocken Triosonate ansehen.
Wer die Ensemblemusik aus dem Gothaer Partiturbuch hört, wird kaum annehmen, dass Jakob Ludwig nur eine musikalische Gabe für die Wolfenbütteler Bibliotheksbestände liefern wollte: Schließlich gehörten moderne höfische Stücke der berühmtesten Komponisten nicht ins Archiv, sondern auf die Notenpulte.
Mitwirkende
Mónica Waisman - Violine
David Glidden - Violine
Joseph Tan - Violine
Dane Roberts - Viola da gamba
Philippe Grisvard - Cembalo, Orgel
Michael Dücker - Laute
Ltg. Florian Deuter - Violine