Saison 2011/2012: Konzert 1

Sonntag, 25.September 2011 17 Uhr WDR-Funkhaus

Paris 1706: Au nom de l’Amour

Dramatische Kantaten und Kammermusik des französischen Barocks von Jean-Baptiste Morin, Sébastien Le Camus, Michel Lambert, Michel Pignolet de Montéclair, Louis-Nicolas Clérambault u.a. Ensemble Phoenix Munich Ltg. Joel Frederiksen Joel Frederiksen Sendung auf WDR 3 am 17.12.2011 ab 20.05 Uhr

Joel Frederiksen, amerikanischer Bassist und Lautenist mit Münchner Domizil, hat sich in der Alte-Musik-Szene einen Namen gemacht mit seinem oft charakteristisch anderen Blick auf die Vokalmusik zwischen Mittelalter und Romantik. Für das Köln-Debüt seines Ensembles Phoenix Munich hat er mit den dramatischen weltlichen Kammerkantaten Jean-Baptiste Morins und dessen Pariser Kollegen ein heute kaum mehr bekanntes französisches Repertoire aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufgetan, in dem der elegante Pariser Ton eine fruchtbare Liaison mit der italienischen Emotionalität einging.

Programmfolge

Sébastien Le Camus (um 1610-1677)
Air »Amour, cruel Amour«
Air »Forêts, lieux écartés«

Michel Lambert (1610-1696)
Air »Une jeune et tendre beauté«

Michel Pignolet de Montéclair (1667-1737) / Christophe Ballard (1641-1715)
Air »Le beau Berger Tircis«

Jean-Baptiste Morin (1677-1745)
Cantate »Enone«

Marin Marais (1656-1728)
Pièces en trio

Jean-Baptiste Morin
Cantate »Dom Quixotte«

Marin Marais
Tombeau pour Monsieur de Sainte-Colombe

Louis-Nicolas Clérambault (1676-1749)
Cantate »L' Amour et Bachus«

Pause

Michel Pignolet de Montéclair
Deuxième Concert pour la Flûte-Traversière

Michel Lambert
Air »Vos mespris chaque jour«

Robert de Visée (um 1655-1732/33)
Prélude et Chaconne

Michel Pignolet de Montéclair
Cantate »Tircis et Climène«

Pdf-Download: Gesangstexte und Übersetzungen

Cantates françaises

Dem französischen Königreich war es in der frühen Neuzeit mit Abstand am perfektesten gelungen, sich als politisch weitgehend geschlossener und von einem starken Monarchen geführter Nationalstaat zu etablieren - das gipfelte in den mehr als 50 Regierungsjahren Ludwigs XIV. (1661 bis 1715), und es blieb auch für die Kunst nicht ohne Folgen. Man pflegte in Paris im allgemeinen und seit 1682 speziell in der neugestalteten Residenz Versailles selbstbewusst einen unverkennbaren National-Stil. Dafür sorgte vor allem der geborene Italiener Jean-Baptiste Lully als Surintendant de la Musique du Roi. Gefragt waren die abgewogenen Proportionen der ausgeklügelten höfischen Ballette, die wohlaustarierten Hebungen und Senkungen französischer Reimdichtung und die bis ins Manierierte gesteigerte Zierde nuancenreich ornamentierter Melodielinien. Andererseits reizte doch so manchen französischen Kollegen Lullys der inspirierende Blick nach Italien. Vor allem die im intimeren Rahmen der Salons gepflegte Kammermusik bot Spielräume für musikalisch anregende Blicke über die Grenze. So lässt sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts auch an der Seine eine Vielzahl geglückter Symbiosen von französischer Eleganz und italienischer Expressivität entdecken.

Einige Beispiele dieser Symbiose stehen im Blickpunkt des heutigen Konzerts, französische Exempel einer originär italienischen Form, der Cantata - worunter man zunächst nur die von Generalbass-Instrumenten begleitete Vertonung eines weltlichen Textes für eine Singstimme in Form von Rezitativen und Arien verstand. Um das Jahr 1600 aus den Bestrebungen akademisch-künstlerischer Zirkel in Italien hervorgegangen, antike Formen theatralischen Vortrags wiederzugewinnen, hatte der solistische Gesang insbesondere zu Zeiten Heinrichs IV. und seiner italienischen Gattin Maria de’ Medici Anfang des 17. Jahrhunderts in Frankreich erste Blüten getrieben. Doch entstand daraus unter der Regentschaft ihres Sohnes Ludwigs XIII. die echt französische Liedform des Air de cour, zu der Sébastien Le Camus und Michel Lambert entscheidend beigetragen haben. Le Camus trat 1640 in die Dienste Ludwigs XIII., gelangte nach dessen Tod in die Kapelle von dessen Bruder, dem Herzog Gaston d’ Orléans, und wurde 1660 von Ludwig XIV. zu einem der Surintendants de Musique berufen. Im Jahr darauf nahm er auch noch die Stelle eines Ordinaire de la musique de Chambre in dem an Posten und Funktionen reich differenzierten musikalischen Hofstaat des Sonnenkönigs ein. Lambert kam schon als Chorknabe nach Orléans, 1661 wurde er von Ludwig XIV. zum Maître de Musique de Chambre du Roi ernannt. Seine Zusammenarbeit mit Jean-Baptiste Lully bei den höfischen Musikproduktionen intensivierte sich, nachdem dieser 1662 Lamberts Tochter Madeleine geheiratet hatte.

Der Sängerriege um Le Camus und Lambert folgte eine in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts geborene Generation von Musikern, die später auch noch für Ludwig XV. tätig waren und die sich vornehmlich als Instrumentalvirtuosen verstanden. So Michel Pignolet de Montéclair. Den gelernten Bassgambisten, der sich mit seinen ersten Vokalveröffentlichungen noch in die Tradition der Airs de cour stellte, zog es 1699 nach Mailand. Von dort führte er kurz nach 1700 nicht nur den Kontrabass in Paris ein, er setzte in der Folge auch seine italienisch beeinflussten Vorstellungen von einer konzertanten, Singstimme und Soloinstrumente verbindenden Vokalmusik um - so wie er darüber hinaus in seinen als Concerts bezeichneten Instrumentalwerken aus der Mitte der 1720er Jahre dem Ton der italienischen Solosonate nachspürte. Sein Dialog Adieu de Tircis à Clemène entstammt zwar der Zeit vor seiner Italienreise, darf aber als Ausgangspunkt all jener ebenso dramatischen wie pittoresken Cantates françaises gelten, die kurz nach 1700 erschienen.

Zu den ersten Komponisten dieser neuen Gattung zählte Jean-Baptiste Morin, was nicht zuletzt der musikalischen Italienliebe des Herzogs Philippe II. von Orléans zu verdanken sein dürfte, in dessen Diensten er zu Beginn des 18. Jahrhunderts stand. Im Vorwort des ersten Bandes seiner Cantates françoises, der 1706 erschien, formuliert Morin das künstlerische Ziel, die Süße der französischen Sprache mit der vielfältigen Begleitung sowie dem Impetus und dem harmonischen Reichtum der italienischen Kantate zu verbinden. Die heute zu hörenden Kompositionen aus diesem Druck, Enone und Dom Quixotte, beweisen, dass ihm dies überzeugend gelungen ist.

Den Erfolg der französischen Kantaten Morins belegen aber nicht zuletzt die ähnlich konzipierten Druckausgaben seiner Kollegen, von denen diejenigen des Pariser Orgelmeisters Louis-Nicolas Clérambault von den Zeitgenossen am meisten geschätzt wurden. Clérambault veröffentlichte seine ersten Cantates françoises im Jahr 1710; darin findet sich auch die heute zu hörende Dialog-Kantate L’ Amour et Bachus.

Vom Kompositionseifer der Musiker im Umkreis des französischen Hofes profitierte nicht zuletzt jener kleine Kreis privilegierter Notendrucker und -verleger in Paris, der auch Christophe Ballard angehörte. Den ersten, 1703 erschienenen Band seiner Sammlung Brunetes ou Petits Airs Tendres eröffnet eine Arie über den schönen Schäfer Tircis, die Montéclair später zur Grundlage einer Bearbeitung mit Flöte nahm.

Schließlich verschaffen sich im heutigen Konzert noch zwei Protagonisten der hochartifiziellen instrumentalen Kammermusik am Hofe des Sonnenkönigs Gehör: Marin Marais nannten die Zeitgenossen wegen seines kultivierten Spiels l’ange, den Engel Mit dem Tombeau pour Monsieur de Sainte-Colombe hat er seinem verstorbenen Gambenlehrer ein musikalisches Denkmal gesetzt. Ein weiterer Kollege von Marais und potenzieller Kammermusikpartner in dessen Triokompositionen war vornehmlich am Zupfinstrument Robert de Visée. Dass das Bassinstrument der Lautenfamilie, die Theorbe, nicht nur zur Begleitung des Gesangs taugt, sondern auch ein veritables Soloinstrument darstellt, hat Visée in vielen seiner Kompositionen unter Beweis gestellt.

behe

Mitwirkende

Ensemble Phoenix Munich
Joel Frederiksen - Bass, Arciliuto und Leitung
Axelle Bernage - Sopran
Marion Treupel-Franck - Traversflöte
Kumiko Yamauchi - Violine
Domen Marincic - Viola da gamba
Olga Watts - Cembalo
Axel Wolf - Theorbe