Saison 2010/2011: Konzert 8
»Il Narciso«
Pastorale per musica (Ansbach 1697) Konzertante Aufführung Roberta Invernizzi Sopran | Katarina Bradic Sopran | u.a. Instrumentalensemble | Richard Gwilt Konzertmeister Ltg. Kai Wessel In Zusammenarbeit mit der Hochschule für Musik und Tanz Köln Sendung auf WDR 3 am 10.07.2011Die tragische Geschichte von der Nymphe Echo und dem nur zur Eigenliebe fähigen Jüngling Narziss erfreute sich in der Barockzeit größter Beliebtheit. Apostolo Zeno kleidete sie in neue italienische Verse, die der phänomenale Sänger Francesco Antonio Mamiliano Pistocchi 1697 in Ansbach zur Eröffnung des fürstlichen Opernhauses vertonte. Mehr als drei Jahrhunderte war Pistocchis kurzweilige Pastorale nahezu vergessen, nun stellt sie ein junges Ensemble unter der Leitung von Kai Wessel und Richard Gwilt erneut vor, zusammen mit Gesangsstars wie Roberta Invernizzi und Katarina Bradic. Ein konzertanter Opern-Höhepunkt zum Abschluss der Spielzeit.
Programmfolge
Il Narciso
Pastorale in musica, Ansbach 1697
Text von Apostolo Zeno
Konzertante Aufführung
Pause im 3. Akt nach der 6. Szene, Dauer ca. 180 Minuten inklusive Pause
Wir danken dem Verlag Karl-Michael Waltl, Wies/Österreich, für die Bereitstellung des Aufführungsmaterials (Herausgeber: Kai Wessel)
Texte
Eine Zusammenfassung der Handlung und die Gesangstexte finden Sie auf einer separaten Seite als Pdf-Datei.
Ein barockes Universalkunstwerk
Im Jahr 1695 brach der junge Markgraf Georg Friedrich II. von Brandenburg-Ansbach (1678-1703) zu einer Bildungsreise nach Italien auf. Dem Fürstentum im Oberfränkischen ging es wirtschaftlich so gut, dass er es sich leisten konnte, zwei Jahre lang unterwegs zu sein und dabei nicht nur diplomatische Kontakte zu knüpfen, sondern auch mit angesehenen Künstlern zurückzukehren. Zwei der bekanntesten Musiker Norditaliens, den Sänger und Komponisten Francesco Antonio Pistocchi (1659-1726) und den Geigenvirtuosen Giuseppe Torelli (1658-1709), band er mit langjährigen Verträgen an seine Residenz. In ihrem Gefolge befanden sich junge Sänger und Instrumentalisten, die noch beachtliche Karrieren machen sollten.
Francesco Antonio Mamiliano Pistocchi war in Palermo auf Sizilien geboren worden und mit seiner Familie im Alter von zwei Jahren nach Bologna gezogen. Als Wunderkind herumgereicht, musste er schon mit sechs Jahren Konzertreisen als Virtuose am Cembalo absolvieren. Da er auch über eine schöne Alt-Stimme verfügte, entschloss sich der Vater, ihn vor dem Stimmbruch der fragwürdigen und äußerst riskanten Praxis der Kastration zu unterziehen, um die Stimme zu erhalten. Wie es nur selten geschah, überlebte Francesco diesen Eingriff und wurde auf den Bühnen Norditaliens zu einem Star. Von 1687 bis 1694 stand er als primo uomo in Diensten des Herzogs von Parma, wo ihn Markgraf Georg Friedrich kennenlernte und abwarb. Im Frühjahr 1696 erreichten Pistocchi und der aus Bologna stammende Torelli die Ansbacher Residenz.
Der Geigenvirtuose fungierte dort als Konzertmeister der Kapelle, Pistocchi hatte den Posten des Kapellmeisters und damit die höchste Position inne. Der Markgraf hatte seine Musiker auch aus Anlass der Eröffnung eines neuen Opernhauses nach Mittelfranken geholt, ein Luxusobjekt für die relativ kleine Grafschaft. Die italienische Hofoper sollte in Ansbach etabliert werden, was mit der Pastorale Il Narciso im März 1697 auch aufs Trefflichste gelang. Schon zwei Monate später wurden Pistocchi und Torelli beurlaubt und hielten sich ein Jahr lang am Hofe der brandenburgischen Kurfürstin Sophie Charlotte auf, einer Verwandten des Markgrafen, der Libretto und Komposition des Narciso gewidmet sind. In einem Brief an den Markgrafen vom 25. September 1697 schwärmt sie in Bezug auf Pistocchi: »...ich bin charmiret von seiner music und habe mein leben des gleichen nicht gehöret.«
Für Ansbach schrieb Pistocchi Libretto und Musik zu einem weiteren italienischen Drama, Le Pazzie d’Amore e dell’Interesse, das vermutlich am 16. Juni 1699 dort uraufgeführt und nun seinem Dienstherren gewidmet wurde. Später werden seine Zeugnisse in Ansbach rarer, da Torelli und er auf Gastspielreisen gingen und der Markgraf als Feldherr aufs Schlachtfeld zog, wo er 1703 im Spanischen Erbfolgekrieg sein Leben ließ. Abgesehen von den zahlreichen italienischen Quellen, finden sich in Ansbach das Libretto des Narciso und ein Kantatenband von Pistocchis Hand, in Berlin Gedichte, Kantatentexte und einige Kammerkompositionen; darüber hinaus sind in Wien, wo sich Pistocchi und Torelli ebenfalls einige Monate aufhielten, Teile aus Oratorien und Kantaten erhalten. Nach Bologna zurückgekehrt, beteiligten sich beide rege am dortigen Musikleben, und Pistocchi gründete eine berühmte Gesangsschule. Im Jahr 1715 zog er sich in ein Kloster bei Forli zurückzog und komponierte dort noch einige Oratorien und Kantaten. Er starb am 13. Mai 1726 in Bologna.
Pistocchi ist ein glänzendes Beispiel für den barocken Universalkünstler, der Theorie und Praxis in der Musik beherrschte, über eine breite Bildung und einen zeitgemäßen Geschmack verfügte und es verstand, dieses außerordentliche Wissen und Können mit Profession weiterzugeben. Es wird Zeit, ihm seinen gebührenden Platz zurückzugeben.
Der in Italien entwickelte musikalische Topos der Pastorale fiel auch nördlich der Alpen auf fruchtbaren Boden, das beweisen Nachdichtungen von Giovan Battista Guarinis Pastor fido und Torquato Tassos Aminta. 1614 fand in Salzburg die Inszenierung eines Orfeo statt, dessen Musik vermutlich der von Claudio Monteverdis Orfeo aus dem Jahr 1607 entsprach und die somit die erste Opernaufführung im deutschsprachigen Raum darstellt. Diese Aufführung wurde als Pastorale angekündigt, womit die Verknüpfung von Mythos und Schäferwelten die symbiotische Grundlage einiger Pastoralkompositionen in deutscher Sprache wird. Nur wenige sind überliefert; umso bedeutender ist der Auftrag des Markgrafen Georg Friedrich an den venezianischen Literaten (und späteren Wiener Hoflibrettisten) Apostolo Zeno (1668-1750), eine Pastorale und keinen heroischen Stoff für die Eröffnung seines Opernhauses zu verfassen. Das Sujet entsprach dem Geschmack des Publikums, das den Charakter der Naturnähe nicht als primitiven oder anarchischen Urzustand verstand, sondern die vom Künstler geschaffene Welt als ein hierarchisch gegliedertes, moralischen und göttlichen Gesetzen unterworfenes Gesellschaftssystem. Außerdem verspürte man eine große Affinität zwischen der pastoralen Welt und der Oper - sind die Gründungsmythen der Musik (Syrinx, Marsias) doch in der Natur angesiedelt und bieten somit die Grundlage, eine Handlung vollständig mit Musik zur Darstellung zu bringen. Zeno gelingt es, mit feiner Zeichnung der Charaktere ein humanes Drama zu schaffen, mit echten Gefühlen und ohne überzogene Komik. Der fünfaktige Aufbau folgt dem alten Modell des Dramas und lässt Platz für Ballette; Chöre unterstreichen die Opfer- und Jagdszenen. Den höfischen Konventionen entsprechend, werden die Metamorphosen von Echo und Narziss am Ende zur Apotheose stilisiert, so dass die Tragik des Paares in kürzester Zeit in Freude verwandelt wird. Im Vorwort zu seiner Oper erwähnt Pistocchi übrigens mit Stolz, dass zum besseren Verständnis extra eine Übersetzung ins Deutsche in Auftrag gegeben wurde, und zwar beim Darsteller des Tirreno, Johann Christian Rau.
Die Geschichte des Narziss erfreute sich im 17. Jahrhundert großer Beliebtheit, jeder Gebildete kannte die Episode aus dem 3. Buch der Metarmophosen des Ovid. Zeno hielt sich sehr genau an diese Version, setzte ein weiteres Paar - Cidippe/Uranio - neben die Protagonisten Echo/Narziss, den Priester Tirreno und einen engen Freund des Narziss, Lesbino, hinzu. Er schafft es, nur durch wenige Worte die Konflikte der Figuren verständlich zu machen und somit die Götterebene aus dem Drama herauszuhalten: Wenn Narziss im dritten Akt Echo drängt, ihm zu sagen, was sie bedrückt, kann sie nur sagen: »Ich darf nicht!« - womit ihre Bestrafung durch die Göttermutter Hera (Juno) gemeint ist. (Echo lenkte Hera durch ihre Gesprächigkeit von Zeus’/Jupiters amourösen Abenteuern in den Wäldern der Quellnymphen ab; Hera nahm der Nymphe dafür die Fähigkeit, selbst ein Gespräch zu beginnen oder sich wenigstens in eigenen Worten auszudrücken, sie kann einem anderen nur mehr mit dem von diesem zuletzt Gesprochenen antworten). So begegnet sie dem schönen Jäger Narziss, der den Emotionen Liebender vollends abhold ist, sie gar verhöhnt - und verliebt sich unsterblich in ihn. Zeno stellt Echos unreflektiertes Verlangen geschickt dar durch die Verbindung von ins Leere laufenden Gesprächen mit der Wiedergabe der letzten Silben eines Fragenden, was zu tragischen Missverständnissen führen muss.
Zur klärenden Unterstützung des Dramas tragen die Nebenrollen bei: Cidippe liebt Narziss, obwohl sie bereits Uranio die Treue geschworen hat und von Narziss harsch abgewiesen wird; Lesbino ist unglücklich in Echo verliebt, widmet sich nach ihrem Tod der Suche nach ihrer Stimme, bleibt ihr also treu; Uranio muss schlimmste Tiraden der Ablehnung durch Cidippe über sich ergehen lassen, glaubt jedoch unbeirrt an das Fünckchen Gute in ihrem Herzen (»Die Hoffnung stirbt zuletzt«); Tirreno ist die Vaterfigur, die versucht, der Tochter - eigentlich ohne Erfolg - ihr ungezügeltes Verlangen nach Narziss auszutreiben. Den bereits vom göttlichen Schicksal verurteilten Protagonisten werden eine dem Jüngling Verfallene (die im letzten Moment auf den rechten Weg zurückfindet), zwei ihrer Geduld und Treue sichere Hirten und ein Priester als Vermittler der göttlichen und moralischen Ordnung entgegengestellt.
Die Musik zu dieser Pastorale ist von außerordentlicher Schönheit und großem Einfallsreichtum. Der Beginn wirft den Zuhörer sofort in die Welt der Schäfer, denn zuerst wird das Stimmen eines Dudelsacks imitiert, gefolgt von weiteren Sätzen im französischen Stil. Somit erfahren wir mit den ersten Klängen, dass wir es nicht mit einer rein italienischen Komposition zu tun haben, sondern mit einer zu ihrer Zeit in Deutschland beliebten Mischung der Stile. Das Orchester kommt mit zwei Flöten, drei Oboen, Streichern und einem großen Continuo-Apparat aus. Diese Besetzung kombiniert Pistocchi auf jede mögliche Weise, in den großen Ecksätzen (Ouverture - La Gran Chaconne) als Concerto grosso. In sehr intimen Momenten kommen Soloinstrumente zur Geltung und klingen die hohen Streicher ohne jeden Bass. Die Erfindung der Da-capo-Arie liegt nur etwa fünfzehn Jahre zurück; Pistocchi lässt es sich (außer in einer Arie) nicht nehmen, das Da capo auszuschreiben und selbst ein wenig zu variieren. Die Continuo-Arien (auch bis auf eine) enden mit einem Orchester-Ritornell, kleine Kammerduette beleben die langen, rhythmisch und harmonisch reich gearbeiteten Rezitative.
Zu den recht zahlreichen Duetten kommen noch - für die Zeit ungewöhnlich - ein Terzett und ein Quartett hinzu. Als Reminiszenz an den deutschen Geschmack kann die modale Harmonik in den Opferzeremonien gewertet werden: Bei den feierlichen Auftritten des Priesters hören wir sakrale Klänge. Ebenso betört der »Sängerwettstreit« am Ende des dritten Aktes: Uranio und Lesbino sollen fröhlich die Schönheit ihrer Angebeteten besingen. Nur leider verfallen beide ins Lamentieren, ja in Wut über das spröde Verhalten von Cidippe und Echo. Die Anforderungen an die Sänger offenbaren sich in komplizierten Koloraturen, großen Tempounterschieden und den sehr präzisen Details in den Rezitativen. In der Musik um 1700 liegen die Affekte noch blank, der Sänger benötigt Finesse und Ausdauer, um sie sicher und glaubwürdig ohne ein stark stützendes Orchester zu vermitteln.
Und welche Sänger hatte Pistocchi zur Verfügung? Neben seiner Doppelfunktion als Komponist und Kapellmeister sang er selbst die Titelpartie. Als Echo kam Anna Maria Coltelloni aus Bologna nach Ansbach, die bereits eine beachtliche Karriere vorzuweisen hatte. Anna Maria Vignali war bekannt durch ihre Schauspielkunst und ihre Interpretation von Männerrollen; im Narciso sang sie die Cidippe. Der Soprankastrat Stefano Frilli aus Florenz hatte vermutlich sein offizielles Debüt als Uranio in Ansbach; seine Karriere kann bis 1708 nachverfolgt werden. Er war 1707 Händels Rodrigo in Florenz. Ebenso scheint Giuseppe Maria Cassani aus Bologna seine Karriere in Ansbach in der Rolle des Lesbino gestartet zu haben - er sang später in London unter Händel und in Italien in Opern von Bononcini, Orlandini, Predieri u.a. Bleibt noch die Rolle des Tirreno, die mit dem italienischen Secretarius des Markgrafen, Johann Christian Rau, besetzt wurde; lediglich in Pistocchis Le Pazzie d’Amore e dell’Interesse von 1699 taucht er noch einmal in Ansbach auf.
Bis heute ist nur die Originalpartitur in Pistocchis Handschrift (mit Ausnahmen bei Einschubarien und den Continuo-Stimmen) aus der King’s Music Library in London bekannt. Sie weist die typischen Merkmale einer Nutzpartitur auf: Von einigen Arien existieren zwei Fassungen, von denen eine meist gestrichen und überklebt wurde; die Generalbass-Bezifferung ist spärlich, die Vorzeichen sind nicht immer eindeutig oder von anderer Hand zugefügt. Da wir die Aufführungen des Narciso nicht szenisch geplant haben, wird es auch keine Ballette geben, wie sie im Vorwort aufgezählt werden (von acht sind nur drei überliefert). Zwei Balli aber - Ende erster und dritter Akt - wurden für heute von zwei- auf vierstimmige Sätze erweitert. Aufgrund unserer Kürzungen werden aus den fünf Akten zwei große Teile. Um dennoch die fünfteilige Struktur nicht zu zerstören, werden vor der Pause im dritten Akt eine Sonate von Johann Rosenmüller (1619-1684) und vor dem vierten Akt ein instrumentales Lamento aus einer Oper von Johann Valentin Meder (1649-1719) erklingen.
Mitwirkende
Narciso, ein Schäfer: Katarina Bradic (Alt)
Cidippe, Tochter des Tirreno: Cordelia Katharina Weil (Mezzosopran)
Uranio, ein Schäfer: Anna-Lucia Richter (Sopran)
Lesbino, ein Schäfer: Marie Seidler (Alt)
Tirreno, Priester der Venus: Sebastian Auer (Bass)
Choristen: Eikaterini Koufochristou (Sopran), Sofia Gvirts (Alt), Peter Rembold (Bass)
Barockensemble der Hochschule für Musik und Tanz Köln
Zsuzsanna Czentnár, Bianca Muggleton, Mayumi Nuria Sargent Harada, Daniel Dangendorf (Violine 2)
Ann Garlid, Elisabeth Sordia (Viola)
Evelyn Buyken, Olivia Gutherz (Violoncello)
Martina Binnig (Kontrabass)
Tina Adamo, Clara Liebisch (Blockflöte)
Aoi Ishida, Eun-Joo Lee, Wolfgang Dey (Oboe)
Marita Schaar (Fagott)
Sören Leupold (Laute, Barockgitarre)
Torben Klaes, Giovanna Tricarico (Cembalo)
Xinge Bu (Orgel)
Leitung: Kai Wessel
Sprecher: Michael Müller