Saison 2012/2013: Konzert 1
Il Flauto Veneziano
Musik des 16. bis 18. Jahrhunderts von Dario Castello, Antonio Caldara, Massimiliano Neri u.a. Sonatori de la Gioiosa Marca Ltg. Dorothee Oberlinger Sendung auf WDR 3 am 31. Oktober 2012Die Kölner Blockflötistin Dorothee Oberlinger ist mittlerweile ein Star weit über die Alte-Musik-Szene hinaus. In ihrem Programm »Il Flauto Veneziano« widmet sie sich der Flötenkunst Venedigs von der Renaissance bis zum Spätbarock. Als Begleiter bringt sie mit den Sonatori de la Gioiosa Marca eines der renommiertesten italienischen Barockensembles nach Köln. Flankiert von zwei virtuosen Solokonzerten Antonio Vivaldis, die bis heute zu den Höhepunkten der Blockflötenliteratur zählen, vereint das Programm elegante Tanzformen, instrumental ausgearbeitete Madrigale und klangprächtig besetzte Sonaten.
Programmfolge
Venezianische Flötensprache
Die Blockflöte war in Venedig bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts ein sehr beliebtes und verbreitetes Instrument. Die Geschichte der venezianischen Flötenkunst mit Werken für Kirche und Kammer, für Consort und Soloinstrument, für kleine und große Besetzungen zeigt die Entwicklung vom vokalen instrumental diminuierten Repertoire bis hin zum Solokonzert Antonio Vivaldis als vorläufigem End- und Höhepunkt. Ihr möchten wir im heutigen Konzert nachgehen.
Vokalmusik bildete zunächst die Basis auch für das Repertoire der Instrumentalisten. Auf der 1535 in Venedig gedruckten und überhaupt ersten Blockflötenschule Opera intitulata La Fontegara von Sylvestro Ganassi sind zwei Sänger und drei Blockflötisten abgebildet, die Vokalmusik aus Stimmbüchern spielen und singen, vielleicht mit kunstvollen Verzierungen angereichert, wie sie von Ganassi im Anhang seiner Schule ausführlich behandelt werden. Er gibt zahlreiche Hinweise, mit welchen Artikulationsformen, Griffen und Vokalfärbungen Sprache und Stimme am besten nachgeahmt werden können. Daneben existierte aber von jeher auch reine Instrumentalmusik. Die Balli von Giorgio Mainerio, die 1578 in Venedig gedruckt wurden, spielte man wahrscheinlich auf den unterschiedlichsten Instrumenten. Diese weltlichen Tänze haben einen orientalischen Einschlag, was nicht verwundern muss, pflegte doch die Republik Venedig als Handelsmacht einen regen Austausch mit dem Osten. Die Bedeutung des alt-ladinischen Titels Schiarazula Marazula bleibt rätselhaft, wahrscheinlich handelt es sich bei dieser Komposition um eine ältere mittelalterliche Weise. Lavandara heißt »die Waschende“, und La Gagliarda meint nicht unbedingt nur den Tanz, sondern steht in Italien auch heute noch umgangssprachlich für ein stolzes, selbstbewusstes Mädchen.
Die Diminution von Giovanni Spadi über das vierstimmige Madrigal Ancor che col partire des Renaissance-Komponisten Cipriano de Rore wurde 1624 in Venedig gedruckt. Sie ist ein repräsentatives Beispiel für die hochentwickelte Diminutionspraxis in der Lagunenstadt gegen Ende des 17. Jahrhunderts. Spadi wählt besonders expressive Verzierungen, die den Umfang einer Renaissanceblockflöte in g voll ausschöpfen. Das Madrigal handelt von der Steigerung der Sehnsucht: Selbst wenn man sich beim Abschied fühlt, als ob man sterbe, werde dadurch das ersehnte Wiedersehen umso schöner.
Die Kompositionen von Dario Castello und Marco Uccellini entstanden ebenfalls in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Castello war Capo di Compagnia de Instrumenti an San Marco in Venedig. Seine Triosonate reflektiert die seconda practica seines Kollegen Claudio Monteverdi in Abgrenzung zur älteren kontrapunktischen prima practica: Zahlreiche affetti, deklamatorische Abschnitte, ein schneller Wechsel von Licht und Schatten und nicht zuletzt der Generalbass sind Zeichen für den neuen theatralischen Stil. Uccellini, der eine Generation jünger als Castello war und seine Werke vor allem von seiner Hofmusikerstelle in Modena aus nach Venedig zum Druck beförderte, wählte als Grundlage seiner Sonata sopra la Bergamasca von 1642 einen populären oberitalienischen Tanz mit einem ebenso simplen wie mitreißenden harmonischen Fundament als Ausgangspunkt zunehmend virtuoser Melodielinien.
Auch Giovanni Reali bediente sich noch eines Tanzmodells des 16. Jahrhunderts, als er 1709 in seinen Suonate e Capricci mit einer Folia an die Öffentlichkeit trat. Die einprägsame Bass-Figur der Folia war seinerzeit unverändert populär, wie u. a. auch Sonaten von Arcangelo Corelli und Antonio Vivaldi belegen.
Antonio Vivaldi, dem maestro di violino und maestro de’ concerti am musikalisch ambitionierten Ospedale della Pietà, gelang es, die experimentierfreudige Gattung des Solokonzerts mit ihren charakteristischen Wechseln von rahmenden Ritornellen und dazwischen geschalteten rhapsodischen oder virtuosen Episoden zur Formvollendung zu führen. Seine 1729 in Amsterdam als Opus 10 gedruckten Konzerte für die immer stärker in Mode gekommene Traversflöte warten mit effektvoller Programmatik und Titeln wie La Notte oder Il Gardellino auf; auch fernab von Venedig waren sie sehr gefragt. Dem Konzert op. 10/1 La Tempesta di Mare RV 433 geht ein als Manuskript überliefertes älteres und über weite Strecken identisches concerto da camera für Blockflöte, Oboe, Violine und Basso continuo voraus. Außerdem schrieb Vivaldi ein nicht minder »stürmisches“ Violinkonzert in Es-Dur unter demselben Titel, jedoch mit völlig anderem musikalischen Material. Vivaldis originale Blockflötenkonzerte sind nicht im Druck, aber in autographen Manuskripten überliefert; mit »Flautino“ bezeichnet er hier die Partien für Sopran- oder Sopraninoblockflöte. Selbst von dem schon anspruchsvollen Concerto in C-Dur RV 443 hebt sich das Concerto in a-Moll RV 445 noch einmal als absoluter Höhepunkt der Blockflötenliteratur ab. Wir transponieren es nach e-Moll, denn die Bemerkung »ad una quarta bassa“ im Manuskript legt nahe, dass das Werk auf einer Sopranflöte in c, also eine Quarte tiefer, ausgeführt wurde. Im Mittelsatz erklingen vogelartige Motive; die Solopassagen der Ecksätze lassen einen eher geigerischen Ansatz erkennen und gehören wohl zum Virtuosesten der gesamten barocken Blockflötenliteratur.
Einen Kontrast zu den Flötenkonzerten stellen die Ensemblekonzerte Vivaldis für Streicherbesetzung dar. Hier verzichtet der Komponist auf ausgeprägte Solopartien, gibt dafür aber dem strenger anmutenden Kontrapunkt weiten Raum. Das g-Moll-Concerto RV 153 dürfte in Venedig bevorzugt im geistlichen Rahmen als Kirchensonate oder als Einstimmung auf ein Vokalwerk erklungen sein. Das »rustikale« Element des abschließenden G-Dur-Konzerts RV 151 verschafft sich vor allem im beschwingten Eingangs-Presto im 9/8-Takt Gehör, das als ländlicher Tanz noch einmal auf die volkstümlichen Wurzeln der hohen venezianischen Concerto-Kunst hinweist.