Saison 2013/2014: Konzert 2
Ein feste Burg 1617
Musik von Heinrich Schütz und Michael Praetorius in Form einer lutherischen Messe La Capella Ducale · Musica fiata Ltg. Roland Wilson Sendung auf WDR 3 am 31.10.2013
Am Dresdner Hof beging man den 100. Jahrestag von Martin Luthers Wittenberger Thesenanschlag mit gebührendem Pomp. Für die Musik sorgten vom sächsischen Kurfürsten handverlesene Instrumentalisten, Sänger, Organisten und Lautenisten nebenst 18 Trompeten und 2 Heerpauken
. Heinrich Schütz und Michael Praetorius sorgten für die gewünschte venezianische Mehrchörigkeit made in Germany. Was damals in der Dresdner Hofkirche erklang, präsentiert jetzt Roland Wilson mit seinen Ensembles in der Kölner Trinitatiskirche – darunter neuzeitliche Erstaufführungen.
Programmfolge
Wer singt, betet doppelt
Die von Martin Luther in Wittenberg angestoßene Reformation mit ihren nicht nur religiösen, sondern gleichermaßen politischen und sozialen Umwälzungen hatte das auch vorher schon im Machtgefüge der deutschen Territorien bedeutende Kurfürstentum Sachsen in eine neue Rolle als Patron der evangelischen Sache
und Hort des Luthertums befördert. Mit entsprechendem Selbstbewusstsein beging man 1617 in der Residenzstadt Dresden den 100. Jahrestag von Luthers legendärer Thesen-Veröffentlichung gegen den päpstlichen Ablasshandel mit einem dreitägigen Jubelfest. Im Nachgang der Feiern, die sich vom 31. Oktober bis zum 2. November erstreckten, veröffentlichte der sächsische Oberhofprediger Matthias Hoë von Hohenegg eine Festschrift, in der er auch einen Abriss über die prachtvolle liturgische Ausgestaltung der Gottesdienste in der Hofkirche liefert. Da werden dezidiert die Psalmen, Gebete und Choräle angeführt, die von den fürstlichen Musikern, elf Instrumentisten, elf Cantoribus, drei Organisten, vier Lautenisten, einem Thiorbisten, drei Organistenknaben, fünf Diskantisten mit Abwechselung allerlei Sorten von herrlichen Instrumenten, mit zweien Orgelwerken, zwei Regalen, drei Clavizimbeln nebenst achtzehn Trompetern und zweien Heerpauken solenniter gehalten und celebrieret worden.
Dies getreu der Theologie Luthers, die der Musik eine elementare Rolle in der christlichen Verkündigung zuwies – nach der Maxime: Wer singt, betet doppelt.
Dank Hoës detailfreudiger Beschreibung lässt sich eine Reihe der damals aufgeführten Werke heute noch mit großer Sicherheit identifizieren, und so kann Roland Wilson jetzt in der musikalischen Gestalt einer lutherischen Festmesse wieder vieles von dem zum Klingen bringen, was 1617 in der ausgeklügelten Dramaturgie der Dresdener Hofliturgie die Gottesdienstbesucher beeindruckte.
Musikalischer Leiter dieser Gottesdienste war der 32-jährige Heinrich Schütz, der sich schon einige Zeit als Organist und Director der Musica
in Dresden aufhielt. Eigentlich hatte ihn Kurfürst Johann Georg I. nur ausgeliehen
beim kunstsinnigen Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel. Der war einst bei einem Aufenthalt in Weißenfels auf das Talent des 13-jährigen Knaben aufmerksam geworden und hatte nicht nur seine akademische Ausbildung in Kassel und Marburg gefördert, sondern ihm sogar die musikalischen Lehrjahre bei Giovanni Gabrieli ermöglicht, dem Organisten und europaweit berühmten Meister der vokal-instrumentalen Mehrchörigkeit am Markusdom in Venedig. Diese Erfahrungen im Mutterland der Musik, in dem man seinerzeit umwälzend intensive und virtuose Ausdrucksmöglichkeiten entwickelte, hatten den jungen Musiker seit 1613 so attraktiv für den Dresdener Hof gemacht, der einen zukunftsweisenden Nachfolger für den betagten Kapellmeister Rogier Michael suchte. So war Schütz beim Reformationsjubiläum de facto schon kursächsischer Hofkapellmeister und wurde es 1619 auch offiziell.
Im Jahr 1619 legte Schütz mit den Psalmen Davids samt etlichen Motetten und Concerten mit acht und mehr Stimmen auch eine erste Dresdener Druckveröffentlichung vor, in der er auf deutsche Bibel- und Choraltexte jene italienische Manier
angewandt hatte, die er von Gabrieli kannte. Der Druck bietet 26 Kompositionen in der modernen konzertierenden Form, in der sich mehrere Gruppen von Sängern und Instrumenten rhetorisch geschickt und harmonisch vollendet im Vortrag der musikalischen Gedanken abwechseln, immer wieder aber auch in grandiosen Steigerungen zum vielstimmigen Zusammenklang vereinen. Darunter finden sich Vertonungen der Psalmen 98, 115 und 136 (Schütz-Werke-Verzeichnis 35, 43 und 45) sowie des Chorals Nun lob, mein Seel, den Herren (SWV 41), die sich anhand der Beschreibung Hoës unschwer als Kompositionen zu erkennen geben, die beim Dresdener Jubiläum erklangen. Ein weiteres der damaligen Choralkonzerte, Verleih uns Frieden gnädiglich, das auf besondere Melodei in die Lauten und Clavicymbel von fünf Sängern
musiziert wurde, dürfte mit jener Komposition (SWV 372/373) auf uns gekommen sein, die Schütz erst 1648 in seiner Geistlichen Chor-Music veröffentlichte.
Der Choral Esaia, dem Propheten, das geschah, das deutsche Sanctus nach Luther, ist in der konzertanten Vertonung durch Schütz (SWV 496) nur in zwei Stimmbüchern Eisenacher Provenienz erhalten. Die Rekonstruktion einer Aufführungsfassung dieses Werks, das aus der gleichen Schaffensperiode wie die Psalmen Davids stammen dürfte, ist nach Maßgabe der damaligen Kompositionsregeln aber ebenso möglich wie im ähnlich gelagerten Fall der Choralbearbeitung Ein feste Burg ist unser Gott, die singulär, aber ebenfalls nur unvollständig in der Ratsschulbibliothek von Zwickau überliefert ist. Beide Schütz-Kompositionen sind dank der Aufführungsfassung, die Roland Wilson erstellt hat, heute erstmals wieder zu hören.
Nicht alle von Hoë beschriebenen Musiken lassen sich aber unter den Werken von Schütz wiederfinden. Und wahrscheinlich war er auch nicht der einzige, dessen Kompositionen in den Gottesdiensten zum Reformationsfest erklangen. So war damals noch ein anderer ambitionierter und vom modernen Konzertstil faszinierter Musiker für den Dresdener Kurfürsten als »Hofkapellmeister von Haus aus« tätig: der Wolfenbütteler Hofkapellmeister Michael Praetorius. In einem dreibändigen Traktat namens Syntagma musicum (1614/1619) untermauerte der Pfarrerssohn aus Thüringen sogar noch theoretisch, was er in seinen vielen Kompositionen an stilistischen und aufführungspraktischen Möglichkeiten auslotete. Durch sein Lehrwerk wissen wir auch von einem entweder nie publizierten oder aber heute verschollenen sechsten Teil seiner Polyhymnia-Notenreihe mit geistlichen Vokalkonzerten: in diesem Jubilaea-Band seien Kompositionen zu finden, »so uff das im abgewichenen Jahre an den evangelischen Orten teutsches Landes solenniter celebrierte herrliche evangelische Freud- und Jubelfest in den Kirchen zu singen sein verordnet worden – sowohl mit lebendiger Menschenstimme und allerlei Art musikalischen Instrumenten, als auch mit Trompeten und Heerpauken zu gebrauchen.« Die Parallelen zu den Formulierungen Hoës sind nicht zu übersehen, und dass die aufwändig besetzten Werke mit bis zu 27 Stimmen nur in großen Hofkapellen wie jener des sächsischen Kurfürsten aufführbar waren, versteht sich fast von selbst. Da Praetorius nach dem Tod seines Herzogs Heinrich Julius 1613 zunächst nach Dresden ausgeliehen und später auch nicht weiter in Wolfenbüttel gefragt war, ist er mit hoher Wahrscheinlichkeit der zweite »Lieferant« für die Dresdener Reformationsfeiern von 1617.
Praetorius weist darauf hin, dass sich vergleichbare Festgesänge nicht nur im Jubilaea-Band seiner Notenedition finden. So bieten die dem Dresdner Kurfürsten gewidmeten (und noch erhaltenen) Polyhymnia Panegyrica von 1619 jene Missa gantz Teudsch, aus der heute das verhaltenere Kyrie und die konzertant-virtuose Gloria-Vertonung erklingen, sowie die mehrchörigen Bearbeitungen von Luthers Credo-Lied Wir gläuben all an einen Gott und seiner Paraphrase des 12. Psalms Ach Gott, vom Himmel sieh darein mit der zweiten Strophe Das Silber, durchs Feuer siebenmal. Die im Vergleich dazu schlichte doppelchörige Choralmotette über Luthers Agnus-Dei-Lied Christe, du Lamm Gottes hat Praetorius bereits 1605 in seiner der Wolfenbütteler Herzogin Elisabeth zugedachten Sammlung Musae Sioniae veröffentlicht.
Natürlich waren die Dresdener Feierlichkeiten von 1617 – gewissermaßen am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges – nicht alleine religiös motiviert, sondern auch Ausdruck kurfürstlicher Macht und Repräsentationslust. Das erklärt auch die rege Hinzuziehung des Trompetenchores, einer originär militärischen Truppe, die nicht automatisch zur Hofkapelle zählte. Ihr Auftritt im abschließenden Dankpsalm mit seinen gravitätischen Klangflächen ist besonders spektakulär. Schütz hat dazu übrigens nur eine Prinzipal-Trompetenstimme notiert – eine Praxis, zu der Praetorius in seinem Syntagma erläutert: »Die andern … und Heerpauker richten sich allein nach dem, der den Prinzipal führet, und können ihre Partei vor sich selbst wohl finden; also sie gar keiner Noten vonnöten haben«. Nach dem gleichen Prinzip schließt die heutige Musikfolge mit einem Trompetenchor über den Choral Allein Gott in der Höh sei Ehr. Er bildet ein schon in seiner Klangfülle überwältigendes Pendant zum Orgel-Praeambulum des Hamburger Katharinen-Organisten Heinrich Scheidemann als Auftakt der Liturgie – und man darf ihn sich vielleicht vor dem Hintergrund jener (laut Hoë) »sonderlichen Freudenschüsse großer Geschütze« vorstellen, wie man sie in Köln heute noch bei der »Mülheimer Gottestracht« am Fronleichnamsfest kennt.