Saison 2014/2015: Konzert 1
Musik aus Münster
Instrumentalwerke aus der Santini-Sammlung Neue Düsseldorfer Hofmusik Sendung auf WDR 3: 29. November 2014Der musikalischen Sammelleidenschaft, die der römische Priester und Musiker Fortunato Santini in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an den Tag legte, verdanken wir einen fast unüberschaubaren Schatz an musikalischen Werken vergangener Epochen - und der Überzeugungskraft des jungen Münsteraner Klerikers Bernhard Quante den Umstand, dass Santini einwilligte, die Sammlung nach seinem Tod nach Münster zu geben. Heute liegen die etwa 4500 Handschriften und 1200 Drucke in der dortigen Universitätsbibliothek. Die Neue Düsseldorfer Hofmusik hat darin hinreißende Sinfonien und Konzerte des späteren 18. Jahrhunderts aufgespürt.
Programmfolge
London – Rom – Münster
Das Bild, das wir uns von der Musik weiter zurückliegender Jahrhunderte machen können, beruht zu einem Gutteil auf Zufällen der Überlieferung. Kompositionen vom kleinsten Lied bis zur ausgewachsenen Oper, vom Albumblatt fürs Clavier bis zur Grande Symphonie, aber eher für den Augenblick geschrieben und daher Manuskript geblieben, gingen in vielen Fällen früher oder später in Rauch auf - sei es, weil sie ein Opfer von Bibliotheksbränden wurden, sei es auch schlichtweg, weil folgende Generationen das alte Papier nicht mehr der Aufbewahrung für wert hielten. Und auch längst nicht alle gedruckte Musik, von deren Existenz wir durch alte Verkaufskataloge oder Werkverzeichnisse wissen, ist heute noch in wenigstens einem Exemplar greifbar. Ein um so größerer Wert kommt daher einzelnen umfangreichen Musiksammlungen zu, die von Enthusiasten bereits vor zwei- oder dreihundert Jahren aus praktischem Eigeninteresse an einem großen Repertoire-Fundus oder auch schon mit einem ausgeprägten historischen Sinn für den überzeitlichen Wert musikalischer Kunstwerke angelegt und für die Nachwelt konserviert wurden.
Einen solchen musikhistorischen Glücksfall stellt die Santini-Sammlung dar, die sich heute in der Universitätsbibliothek Münster findet und von deren Fundus an lateinischer Vokalmusik des 17. Jahrhunderts von Alessandro Melani die Besucher des FORUM ALTE MUSIK KÖLN bereits bei früherer Gelegenheit profitieren konnten. Angelegt hat den 20.000 Werke umfassenden Fundus an gedruckten und ungedruckten Noten ein römischer Priester namens Fortunato Santini, der etwa zu der Zeit geboren wurde, als Wolfgang Amadeus Mozart vom Mannheimer Hof Richtung Paris weiterzog, und der zu der Zeit starb, als Johannes Brahms die ersten Sätze seines Deutschen Requiems konzipierte. Santini wuchs in einem Waisenhaus auf, an dem er eine umfassende Musikausbildung erhielt. Selbst kompositorisch tätig, entwickelte er früh eine Leidenschaft für die Musik der „alten Meister“; Quellen dazu gab es in den unzähligen Kirchen- und Privatarchiven Roms genug. Beim Blick durch die Sammlung gewinnt man den Eindruck, dass Santini nahezu alles abschrieb, was er zu Gesicht bekam. Und zu Gesicht bekam er mehr als andere: Der musikliebende Kardinal Carlo Odescalchi, bei dem er als Sekretär angestellt war, verfügte über die entsprechenden Verbindungen.
Santini wollte die Musik aber nicht nur für sich besitzen, er brachte sie in kleinen Soireen auch zum Klingen. 1820 gab er außerdem einen Katalog seiner Sammlung in Druck, wodurch sie weit über Rom hinaus bekannt wurde. Schon bald stand er europaweit im Austausch mit vielen Musikhistorikern, und ebenso regte sich das Interesse bedeutender Musikbibliotheken in Berlin, Paris, Brüssel und St. Petersburg am Erwerb seiner Sammlung. 1855 unterzeichnete Santini dann aber durch die Vermittlung des in Rom weilenden Münsteraner Domvikars Bernhard Quante eine Abmachung, die Sammlung der Diözesanbibliothek Münster gegen eine Leibrente zu übertragen; bis zu seinem Tod blieb sie für ihn aber im deutschen Priesterkollegium am Campo Santo in Rom greifbar. Als das umfangreiche Konvolut dann 1862 in Münster eintraf, war das Interesse daran erst einmal erloschen; erst 40 Jahre später erkannte der englische Musikforscher Edward Dent auf der Suche nach Werken Alessandros Scarlattis wieder den Wert dieses musikalischen Schatzes.
Seitdem gilt die Santini-Sammlung als wichtigste Quelle italienischer Renaissance- und Barockmusik nördlich der Alpen; dass sie aber auch noch etwas jüngere Werke umfasst, wird im heutigen Programm deutlich. Denn es widmet sich in erster Linie der sinfonischen Musik an der Wende vom Barock zur Klassik - jener Umbruchszeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die man bisweilen als »Zeitalter der Empfindsamkeit«, als »Vor-« oder »Frühklassik« bezeichnet und damit auf das sinfonische Schaffen der drei »Wiener Klassiker« Wolfgang Amadeus Mozart, Joseph Haydn und Ludwig van Beethoven anspielt. Bisweilen wird diese Epoche aber auch - vom »barocken« Ausgangspunkt Johann Sebastian Bach aus betrachtet - als Zeit der »Bach-Söhne-Generation« tituliert, und selbst das hätte im heutigen Konzert seine Berechtigung, da hier Johann Christian Bach, der jüngste Bach-Sohn, mit seiner 1765 in London komponierten Sinfonie Es-Dur, Warb C 3a/1, vertreten ist. Sie zeigt sich von ebensolcher orchestraler Spielfreude geprägt wie das-D-Dur-Werk des aus Köthen stammenden Meistergambisten Carl Heinrich Abel, der seit 1765 zusammen mit Johann Christian Bach in London Abonnementskonzerte veranstaltete. Diese D-Dur-Sinfonie erschien aber bereits zwei Jahre früher in Amsterdam neben fünf weiteren als sein Opus 7 im Druck. Auch der Turiner Meistergeiger Gaetano Pugnani ist mit seiner Sinfonia A-Dur dem Kreis um Bach und Abel zuzurechnen; denn in deren Konzerten trat er zu der Zeit auf, da er dieses Werk als eine von 6 Overtures in 8 Parts 1778 in London drucken ließ. Die Parallelität der Bezeichnungen »Sinfonie« und »Ouvertüre« deutet in diesem Fall nachdrücklich auf die Genese dieser drei- oder viersätzigen Orchestergattung hin, die sich erst kurz zuvor aus ihrer Funktion als Einleitungsstück zu einem Vokalwerk - in der Regel also einer Oper - emanzipiert hatte. Dass sich Santini all diese Werke abschrieb, bezeugt sein Interesse an der frühen Sinfonik auch aus dem nördlichen Europa.
Im Werk des Böhmen Václav Pichl, dem etwa 80 teils in zeitgenössischen Drucken veröffentlichte sinfonische Kompositionen zugeschrieben werden, verbinden sich dagegen süddeutsch-österreichische mit italienischen Einflüssen. Denn dieser ausgezeichnete Violinist lebte als Kapellmeister des Erzherzogs Ferdinand von Habsburg für mehr als 20 Jahre in Italien, bevor er dem Fürsten für das letzte Lebensjahrzehnt nach Wien folgte. Von der kompositorischen Souveränität Pichls, der sich von Mailand auch als Musikagent für Haydns Dienstherren Nikolaus Esterházy betätigte, vermittelt die in der Santini-Sammlung überliefert D-Dur-Sinfonie ein treffendes Bild.
Einen weiteren italienerfahrenen Böhmen stellt das heutige Programm mit einem Werk für Orchester und konzertierendes Tasteninstrument vor: Josef Myslivecek. Er ist vor allem als wegweisender Opernkomponist in die Musikgeschichte eingegangen, hat aber auch ein umfangreiches Instrumentalschaffen hinterlassen. Das in mehreren heute über ganz Europa verstreuten Handschriften überlieferte Cembalokonzert F-Dur (es existiert ein weiteres in B-Dur) führt eine Qualität Mysliveceks vor, die nicht zuletzt die mit ihm befreundete Familie Mozart hoch schätzte: seine scheinbar mühelose Fähigkeit, virtuose Grandezza mit einer tief durchdachten Satzweise zu verbinden.
Mitwirkende
Neue Düsseldorfer Hofmusik
Christoph Anselm Noll, Cembalo
Konzertmeisterin: Mary Utiger, Violine
Im heutigen Konzert spielt die Neue Düsseldorfer Hofmusik in folgender Besetzung:
Violine 1: Mary Utiger (Konzertmeisterin), Gudrun Engelhardt, Marika Apro-Klos, Olga Piskorz
Violine 2: Julia Huber-Warzecha, Ina Grajetzki, Helmut Hausberg
Viola: Bettina Ihrig, Florian Schulte
Violoncello: Nicholas Selo, Helga Löhrer
Kontrabass: Michael Neuhaus
Oboe: Susanne Regel, Thomas Jahn
Horn: NN, Oliver Kersken
Cembalo: Christoph Anselm Noll