Saison 2016/2017: Konzert 8
Darmstädter Auslese
Kantaten und Concerti von Christoph Graupner Dorothee Mields – Sopran Harmonie universelle Florian DeuterLeipzigs Stadtväter hätten Christoph Graupner 1723 gerne als neuen Thomaskantor gesehen, doch der Landgraf in Darmstadt ließ seinen Kapellmeister nicht ziehen. So erhielt Johann Sebastian Bach das Leipziger Amt, während Graupner für drei weitere Jahrzehnte bei Hofe Kantaten, Sinfonien und Konzerte komponierte. Aus dem reichen Schatz der in Darmstadt erhaltenen Manuskripte hat Florian Deuter ein außergewöhnliches Programm zusammengestellt. In der herausragenden Interpretation seines Ensembles Harmonie Universelle und der grandiosen Sopranistin Dorothee Mields sind diese Graupner-Werke jetzt nach Jahrhunderten erstmals wieder zu erleben.
Programmfolge
Christoph Graupner (1683-1760)
für 2 Oboen da selva, Streicher und Basso continuo
Verleih, dass ich aus HerzensgrundGWV 1114/16
für Sopran, 2 Violinen, Streicher und Basso continuo
für 2 Oboen da selva, Streicher und Basso continuo
Reiner Geist, lass doch mein HerzGWV 1138/11
für Sopran, 2 Oboen, Fagott, Streicher und Basso continuo
für 2 Violinen, Streicher und Basso continuo
Ach Gott, wie manches HerzeleidGWV 1142/11
für Sopran, 2 Oboen, Fagott, Streicher und Basso continuo
Hessischer Kapellmeister mit Leipziger Hintergrund
Wenn der Thomaskantor Johann Sebastian Bach in Leipzig an den Sonn- und Feiertagen geistliche Kantaten aufführte, taten es ihm seine Kollegen an vielen anderen Orten im lutherischen Deutschland gleich. Unter ihnen Christoph Graupner, der Hofkapellmeister von Hessen-Darmstadt. 1709 hatte der musikbegeisterte Darmstädter Landgraf Ernst Ludwig ihn als Cembalisten an der Hamburger Oper entdeckt und vom Fleck weg engagiert. Graupner war zunächst beglückt darüber; später dagegen sollte er mit seinem Amt, das er auch 1739 nach dem Tod Ernst Ludwigs unter dessen Sohn Ludwig VIII. behielt, immer wieder hadern: Die verschwenderische Hofhaltung der Darmstädter Fürsten führte dazu, dass keinem Mitglied der Hofkapelle je das vollständige Gehalt ausgezahlt wurde – und manchem kaum etwas. Entsprechend schlecht war die Moral unter den Musikern.
Ernst Ludwig hingegen hatte mit Graupner einen wahren Glücksgriff getan, denn der war nicht nur ein hervorragender Musiker, sondern auch ein perfekter Organisator des höfischen Musiklebens, das nach der Verheerung Darmstadts durch französische Truppen erst wieder im Aufbau begriffen war. Da war es von entscheidendem Vorteil, dass Graupner jener Musikszene entstammte, die sich um das Jahr 1700 in Leipzig rund um die Thomasschule, die Universität und das Opernhaus entwickelt hatte. 1683 als Sohn eines Schneiders im erzgebirgischen Kirchberg geboren, war er mit 13 Jahren als musikbegabter Stipendiat an die Thomasschule gekommen. Er hatte vom Musikunterricht der Kantoren Johann Schelle und Johann Kuhnau profitiert und von der Freundschaft des Mitschülers Johann David Heinichen, der später Hofkapellmeister in Dresden wurde. 1703 hatte Graupner in Leipzig ein Jura-Studium begonnen – etwa zu der Zeit, als sein Kommilitone Georg Philipp Telemann ein studentisches Collegium musicum gründete, das ein prominentes Betätigungsfeld in der Kirchenmusik fand und auch als Opernorchester fungierte. Für Graupners Engagement in Telemanns Collegium gibt es allerdings keine Belege. Erst 1706 wird er als Opernmusiker greifbar, als er vor den auf Leipzig zumarschierenden schwedischen Truppen nach Hamburg ausweicht. Zweimal teilt er sich dort im Haus am Gänsemarkt die Kompositionsarbeit mit dem Operndirektor Reinhard Keiser, und für mindestens fünf Hamburger Opern liefert er alleine die Musik.
Die Souveränität im Kirchen- und Opernstil kam Graupner in Darmstadt zugute. Die Hofoper musste zwar aus Kostengründen 1722 endgültig aufgegeben werden, Kirchenmusik stand aber weiterhin wöchentlich auf dem Programm. Von 1709 bis kurz vor seiner Erblindung im Jahr 1754 lieferte Graupner immer wieder neue Kompositionen, zunächst im Wechsel mit seinem Vizekapellmeister Gottfried Grünewald, der zuvor als Opernsänger in Leipzig und Hamburg Aufsehen erregt hatte, und nach dessen Tod im Dezember 1739 alleine. Im Laufe der Zeit sind da mehr als 1.400 Werke aus seiner Feder zusammengekommen, die heute fast vollständig in der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt verwahrt werden und größtenteils noch der Wiederentdeckung harren.
Dorothee Mields und Harmonie Universelle haben für das heutige Konzert eine exquisite Auslese aus diesen Beständen zusammengestellt: drei Kantaten aus Graupners frühen Kapellmeister-Jahren, die um zwei Orchesterwerke ergänzt werden. Die Textgrundlagen zu den Kantaten hat der 1710 als Hofbibliothekar nach Darmstadt berufene Georg Christian Lehms geliefert. 1706 war er als Student aus Schlesien nach Leipzig gekommen und betätigte sich spätestens seit 1709 als Librettist für Graupners Schulfreund Heinichen, der inzwischen für die Leipziger Oper komponierte. Vielleicht hatten sich auch Lehms und Graupner noch in Leipzig kennengelernt. Von der dichterischen Musikalität des Hofbibliothekars profitierte der Kapellmeister bis zu Lehms’ frühem Tod im Mai 1717; an dessen Stelle als Kantatendichter trat danach der Darmstädter Theologe Johann Conrad Lichtenberg.
Die Texte zu den 1711 komponierten Kantaten Ach Gott, wie manches Herzeleid (zum 1. Sonntag nach Trinitatis) und Reiner Geist, lass doch mein Herz (zum Pfingstsonntag) finden sich in der von Lehms im gleichen Jahr noch als Buch veröffentlichten Sammlung Gottgefälliges Kirchen-Opffer, die nach zeitüblicher Praxis einen ganzen Jahrgang
von Kantatentexten zu jedem Sonn- und Feiertag des Kirchenjahres bereitstellt. Eine Auswahl daraus hat auch Bach vertont – zwei Texte um das Jahr 1714 in Weimar, acht weitere erst ab 1725 in Leipzig. Graupners Kantate Verleih, dass ich aus Herzensgrund ist knapp fünf Jahre nach den beiden eben genannten im Januar 1716 zum 3. Sonntag nach Epiphanias entstanden; wie in der Kantate Ach Gott, wie manches Herzeleid hat Lehms hier einen traditionellen Choraltext aus dem 16. Jahrhundert an den Anfang gestellt. In der Kantate von 1711 lässt Graupner die betreffende Choralmelodie schon in einem instrumentalen Vorspiel anklingen, bevor die Vokalstimme sie in langen Notenwerten und von den Instrumenten akzentuiert vorträgt. Dagegen beginnt der Sopran in der Kantate von 1716 unvermittelt mit der Choralzeile Verleih, dass ich aus Herzensgrund mein' Feinden mög vergeben
, um sie dann rezitativisch zu hinterfragen. Ein weiteres Mal noch unterbrechen Lehms und Graupner auf diese Weise den ariosen Fluss des Kirchenliedes – so wie sie auch in die folgende Arie rezitativische Episoden einfügen.
Überhaupt hat der mit der Kirchen- und Opernmusik gleichermaßen vertraute Graupner diese geistlichen Texte mit nie versiegender Phantasie in Musik gesetzt: ob in den flüssig deklamierenden Rezitativen, die er gerne zu Accompagnato-Formen mit vollem Streicher- oder Bläsersatz ausinstrumentiert; ob in melodisch und auch durch wechselnde Klangfarben ansprechenden Arien, in prägnant gebauten Bibelwort-Chören oder -Ariosi oder eben in seinen Choralbearbeitungen, die eine schlichte Kirchenliedmelodie in einen ausdrucksstarken vielstimmigen Satz einbetten.
Selbst in Graupners Kantaten für mehrere Singstimmen wurde in der Regel jede Vokalpartie nur solistisch besetzt, so wie auch das aus Bläsern, Streichern und Akkordinstrumenten bestehende Begleitensemble auf den kammermusikalischen Rahmen der Darmstädter Schlosskapelle abgestimmt war. Über das allgemeine kirchliche Musizierverbot für Frauen setzte sich der hessische Landgraf hinweg – schließlich hatte er 1709 von der Hamburger Oper noch zwei hervorragende Sängerinnen abgeworben: Anna Maria Schober, gebürtig aus Frankfurt und 1686 als Vierzehnjährige schon einmal am landgräflichen Hof aufgetreten, sowie Margaretha Susanna Kayser, deren Gatte gleichzeitig Mitglied des Darmstädter Instrumentalensembles wurde. Interpretin der 1716 komponierten Kantate Verleih, dass ich aus Herzensgrund dürfte dann die ebenso prominente Johanna Elisabeth Döbricht gewesen sein, eine von vier Schwestern aus einer sächsischen Musikerfamilie, die damals an diversen städtischen und höfischen Opernbühnen Deutschlands reüssierten. Im Alter von nahezu 19 Jahren kam die Döbrichtin
im Juli 1711 aus der Residenz Weißenfels nach Darmstadt, wo sie zwei Jahre später den Gambenvirtuosen Ernst Christian Hesse heiratete. 1739 setzte sich Mademoiselle Lisgen Hesse
als Sängerin zur Ruhe, bis zu ihrem Tod (mit 93 Jahren!) versorgt durch ein Gnadengehalt des Landgrafen. Von ihr können wir uns – anders als von Graupner – dank zweier erhaltener Porträts auch eine bildliche Vorstellung machen.
Im Januar 1723 nahm der Darmstädter Hofkapellmeister Urlaub und reiste nach Leipzig, denn dort suchte man einen Nachfolger für den verstorbenen Thomaskantor Kuhnau, und der als Hamburger Musikdirektor hoch zufriedene Telemann hatte abgewunken. Mit Graupner wurden die Leipziger schnell vertragseinig, doch sein fürstlicher Dienstherr verweigerte ihm die Freistellung. Daraufhin kam in Leipzig Bach zum Zuge. Graupner hat den neuen Thomaskantor, dem er offenbar nie persönlich begegnet ist, um zehn Jahre überlebt und in seinen späten Werken noch den Weg zur musikalischen Klassik mitbereitet, die sich dann vor allem südlich von Darmstadt entwickelte, in der kurpfälzischen Residenz Mannheim. In den Instrumentalwerken des heutigen Programms, die Mitte der 1730er Jahre entstanden sein dürften, spricht Graupner aber schon eine charakteristisch eigene Sprache. Das Concerto g-Moll weist ihn als souveränen Gestalter in der barocken, durch das venezianische Vorbild Antonio Vivaldis geprägten Form des Solo-Konzertes aus, die er hier in vier Sätzen auf ein ausgewogenes Mit- und Gegeneinander von zwei Violinen, Tutti-Streichern und Basso continuo ausdehnt. Die Ouvertürensuite e-Moll gibt Graupner darüber hinaus die Möglichkeit, ähnlich wie in den Kantaten in einer Reihe unterschiedlichster Sätze mit mannigfachen Klangfarben-Kombinationen zu spielen. Zwei Oboi da selva – das sind die aus Bachs Leipziger Partituren als Oboi da caccia vertrauten gebogenen Tenoroboen – gesellen sich hier durchaus auch konzertierend zu Streichern und Basso continuo und verleihen dem Werk sein galantes, fast schon sinfonisches
Kolorit.
Mitwirkende
Dorothee Mields Sopran Harmonie universelle Ltg. Florian Deuter Violine |