Saison 2017/2018: Konzert 5

Sonntag, 28. Januar 2018 WDR-Funkhaus 17 Uhr

Von der Elbe an die Seine

Kammermusik von Georg Philipp Telemann, Marin Marais und Jean-Marie Leclair Martin Sandhoff | Emilio Percan Hille Perl | Luca Quintavalle Martin Sandhoff Sendung auf WDR 3 am 19. April 2018 ab 21.04 Uhr

Längst war Georg Philipp Telemann eine Berühmtheit, als er 1737 nach Paris reiste. Doch wohl nie hatte er seine Kammermusik zuvor in solch perfekten Interpretationen gehört, wie sie dort der Traversflötist Michel Blavet, der Geiger Jean-Pierre Guignon und der Gambist Antoine Forqueray boten. Mit Martin Sandhoff, Emilio Percan, Hille Perl und Luca Quintavalle interpretiert jetzt eine ebenso exquisite Formation zwei der zauberhaften Quartett-Kompositionen des Hamburger Musikdirektors, und sie ergänzt sie um nicht weniger berückende Solo- und Triosonaten der Franzosen Marin Marais und Jean-Marie Leclair.

Programmfolge

Jean-Marie Leclair (1697-1764) Deuxième Récréation de musique d’une Exécution facile op. 8 für zwei Sopraninstrumente und Basso continuo (Paris 1737) Ouverture – Forlane – Sarabande – Menuet – Badinage – Chaconne – Tambourin Antoine Forqueray (1672-1745) La Buisson – La Leclair für Viola da gamba und Basso continuo aus Pièces de Viole (Paris 1747) Georg Philipp Telemann (1681-1767) Concerto G-Dur TWV 43:G1 für Traversflöte, Violine, Viola da gamba und Basso continuo aus Quadri (Hamburg 1730) Grave – Largo – Presto – Allegro Pause Marin Marais (1656-1728) Les Folies d’Espagne für Viola da gamba und Basso continuo aus Pièces de Viole, Livre II (Paris 1701) Georg Philipp Telemann Quartett D-Dur TWV 43:D3 aus Nouveaux Quatuors en Six suites (Paris 1738) für Traversflöte, Violine, Viola da gamba und Basso continuo Prélude. Vivement – Tendrement – Vite – Gayment – Modérément – Vite

Gipfeltreffen in Paris

Je suis grand Partisan de la Musique Françoise, je l’avoue. – Er gestehe, ein großer Liebhaber der französischen Musik zu sein, schrieb Georg Philipp Telemann im November 1718 aus Frankfurt am Main dem Musikpublizisten Johann Mattheson nach Hamburg – auf Französisch, der seinerzeit gängigen Konversationssprache unter den Gebildeten in deutschen Landen. Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts war hier Französisches zur Mode geworden. Der einheimische Adel eiferte den Repräsentationsformen des Sonnenkönigs Ludwig XIV. in Versailles nach, und auch die freien, patrizisch regierten Städte blieben davon nicht unberührt, in denen sich – Ironie der Geschichte – mit den vertriebenen Hugenotten Opfer des französischen Absolutismus ansiedelten und auf ihre Art etwas vom Lebensstil ihres Heimatlandes vermittelten.

In den deutschen Hofkapellen goutierte man die Ensemblemusik des Versailler Oberkapellmeisters Jean-Baptiste Lully und seiner Kollegen ebenso gerne wie die Virtuosität Italiens. Für Telemann sollte die so fein austarierte französische Kompositions- und Musizierweise, die auf Extreme verzichtete und eine besondere Noblesse verströmte, zeitlebens zu einem bestimmenden Element seines eigenen Stils werden. Gekonnt verband er sie aber immer wieder mit italienischer Spielfreude und Expressivität, gelegentlich auch mit den als typisch deutsch geltenden Kontrapunkt-Künsten oder rhythmisch-melodischen Extravaganzen, die er der Volksmusik insbesondere aus Osteuropa abgelauscht hatte.

Gute Möglichkeiten, Unterschiedlichstes kompositorisch zu vereinen, bot die Ouvertürensuite: In ihre vielteilige Satzfolge ließen sich originelle musikalische Einfälle wirkungsvoll in die Reihung gemessener aristokratischer Tanzformen wie Allemande, Courante, Sarabande, Gigue, Menuett oder Chaconne eingliedern. Nachhaltig kam Telemann damit zwischen 1705 und 1708 in seiner Dienstzeit beim Grafen Erdmann von Promnitzau in Berührung, der mit entsprechenden Vorbild-Kompositionen im Gepäck aus Paris zurückgekehrt war. In Eisenach, wo Telemann in der Folgezeit die Hofkapelle des Herzogs Johann Wilhelm einrichten half, bestand dann eine mindestens ebenso große Nachfrage nach Concerti im italienischen Stil.

Doch nicht nur in Deutschland liebte man damals die stilistische Abwechslung. Auch in Frankreich schätzte man – zumindest außerhalb der staatstragenden Versailler Hofmusik – mehr und mehr den italienischen Geschmack. Telemann, der seine Kunst als Musikdirektor in Frankfurt und Hamburg zwischen 1715 und 1740 in nahezu vier Dutzend Musikdrucken allgemein zugänglich machte, zählte bald sogar in Paris zu den musikalischen Größen, obwohl man sich dort gemeinhin von deutschen Musikern wenig Gutes versprach. So ging schon 1733 jedes sechste Subskriptionsexemplar seiner Musique de Table nach Frankreich!

Ebenso kursierten in den 1730er Jahren mindestens fünf Kammermusik-Veröffentlichungen Telemanns in Pariser Nachdrucken, der größte Teil davon in Editionen des Verlegers Charles-Nicolas Le Clerc. Der hatte dafür seit 1736 ein königliches Druckprivileg in Händen – keineswegs aber eine Autorisierung des Komponisten! Als dieser im Herbst 1737 von Hamburg aus nach Paris aufbrach, ging es ihm offenbar darum, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, die Bildungsreise mit der Geschäftsreise: Meine längst-abgezielte Reise nach Paris, wohin ich schon von verschiedenen Jahren her, durch einige der dortigen Virtuosen, die an etlichen meiner Wercke Geschmack gefunden hatten, war eingeladen worden, erfolgte um Michaelis, 1737. und wurde in 8. Monathen zurück geleget. Daselbst ließ ich, nach erhaltenem Königl. Generalprivilegio auf 20 Jahr, neue Quatuors auf Vorausbezahlung und 6. Sonaten, die durchgehends aus melodischen Canons bestehen, in Kupffer stechen. Die Bewunderungs-würdige Art, mit welcher die Quatuors von den Herren Blauet, Traversisten; Guignon, Violinisten; Forcroy dem Sohn, Gambisten; und Edouard, Violoncellisten, gespielet wurden, verdiente, wenn Worte zugänglich wären, hier eine Beschreibung. Gnug, sie machten die Ohren des Hofes und der Stadt ungewöhnlich aufmercksam, und erwarben mir, in kurtzer Zeit, eine fast allgemeine Ehre, welche mit gehäuffter Höflichkeit begleitet war.

In der genannten Form des Quatuor oder Quadro, also einer Quartettkomposition, in der sich drei Oberstimmen auf einen angeregten musikalischen Diskurs über dem harmonischen Fundament der Generalbassstimme einlassen, wusste Telemann französischen Goût und italienischen Gusto gekonnt zu verbinden. So im Concerto G-Dur, mit dem er 1730 seine Hamburger Publikation von sechs Quadri eröffnet – das sind je zwei Concerti, Sonaten und Suiten für die erlesen-galante Besetzung mit Traversflöte, Violine, Gambe oder Violoncello und Basso continuo. Diese Edition war – ob Zufall oder nicht – ein Jahr vor Telemanns Frankreich-Reise bei Le Clerc in einer Wiederauflage erschienen. Sie dürfte Musikern König Ludwigs XV. wie Michel Blavet, Jean-Pierre Guignon, Jean-Baptiste Forqueray und Édouard (dessen vollständigen Namen man heute nicht mehr kennt) wohl vertraut gewesen sein.

Telemann machte in Frankreich sicher nicht nur die Bekanntschaft der königlichen Kammermusiker. Aufsehen erregte in diesen Jahren in Paris vornehmlich Jean-Philippe Rameau mit seinem musikdramatischen Schaffen. Man kann sich kaum vorstellen, dass Telemann nicht der Uraufführung von Rameaus zweiter Oper Castor et Pollux beiwohnte, die wenige Tage nach seiner Ankunft im Palais Royal stattfand. Der seinerzeit bedeutendste französische Violinspieler war da allerdings schon in Richtung Niederlande abgereist: Jean-Marie Leclair, der nach Kompetenzstreitigkeiten mit seinem Rivalen Guignon den Dienst in der königlichen Kapelle quittiert hatte und nun am Hof der Oranier-Prinzessin Anne sein Auskommen fand. Erst 1743 sollte er sich wieder dauerhaft in Paris niederlassen. Seine Deuxième Récréation de Musique op. 8 im Triosatz für zwei Sopraninstrumente und Basso continuo wurde gleichwohl 1737 in der französischen Hauptstadt gedruckt. Hier entfaltet sich ein französischer Musiker im vermischten Geschmack, der in Italien auf der Violine ausgebildet worden war. Und er bedient sich dazu wie selbstverständlich der Form der Ouvertürensuite.

In Jean-Baptiste Forqueray lernte Telemann einen der letzten großen Gambisten Frankreichs als Interpreten seiner Quartette kennen – den genialen Sohn eines ebenso genialen Vaters, Antoine Forqueray. Von Ludwig XIV. entdeckt, hatte sich Forqueray le Père im Laufe der Zeit zu einem überzeugten Verfechter des italienischen Stils entwickelt, der in seinen Solo-Stücken mit Hingabe den bisweilen bizarren Künsten auswärtiger Violinvirtuosen nacheiferte. So manches Charakterstück unter seinen Pièces de Viole, die der Sohn posthum 1747 in Druck gab, versteht sich als bittersüße Hommage an den einen oder anderen Musikerkollegen. Die gravitätische Chaconne La Buisson über einem vielfach widerholten Bassmotiv gilt demnach dem schon 1682 verstorbenen königlichen Gambisten Jean Lacquemant alias Sieur du Buisson; La Leclair ahmt auf der Gambe den aufsehenerregend extravaganten Violinstil von Jean-Marie Leclair nach.

Als Telemann nach Paris kam, war im Gegensatz zu Antoine Forqueray dessen großer Antipode schon gestorben: Marin Marais. Die Unterschiede im Temperament der beiden königlichen Gambisten brachte der gambespielende Jurist Hubert le Blanc 1740 auf den Punkt: Von dem einen (Marais) wird gesagt, er spiele wie ein Engel, vom anderen (Forqueray), er spiele wie der Teufel. Dass aber auch der anderthalb Jahrzehnte ältere Marais seinem Instrument äußerst temperamentvolle Seiten abzugewinnen vermochte, belegen seine Variationen über die europaweit geschätzte Weise Les Folies d’Espagne auf das Schönste.

Der künstlerische Triumph Telemanns in Paris ließ sich finanziell in Gestalt jener Nouveaux Quatuors en Six Suites bemessen, die er 1738 bei Le Clerc herausbrachte. Hier finden sich selbstverständlich alle vier königlichen Interpreten auf der beigegebenen Liste mit 286 Subskribenten – und unter den Nicht-Franzosen Persönlichkeiten wie Mr. Bach de Leipzig. In diesen Stücken zollt Telemann auf den ersten Blick explizit dem französischen Geschmack Tribut, wenn er seinen Musikern durchweg Suiten anbietet. Und doch verzichtet er jetzt darauf, die zumeist sechs Sätze mit Überschriften zu versehen, die sie als Tänze oder Charakterstücke ausweisen; vielmehr beschränkt er sich auf französische Tempo- oder Dynamik-Angaben. Beim Anhören offenbart sich das eröffnende Quartett D-Dur aber als galante Mischung aus italienischer Virtuosität und französischem Melos, die sich mal in terzenseligem Dur, bald in dissonanzenreichem Moll ergeht. Wieder einmal ist Telemann kompositorisch nicht nur am Puls der Zeit – er gibt ihn vor.

behe

Mitwirkende

Hille Perl Martin Sandhoff - Traversflöte Emilio Percan - Violine Hille Perl - Viola da Gamba Luca Quintavalle - Cembalo