Saison 2018/2019: Konzert 4

Sonntag, 16. Dezember 2018 Trinitatiskirche 17 Uhr

Jauchzet, frohlocket

Johann Sebastian Bach: Weihnachtliche Kantaten Elisa Rabanus | Benno Schachtner Benedikt Kristjánsson | Daniel Ochoa Chorus Musicus Köln Das Neue Orchester Christoph Spering Christoph Spering Sendung auf WDR 3 am 4. Januar 2019 ab 20:04 Uhr

An der Jahreswende 1734/35 brachte Johann Sebastian Bach in Leipzig sein heute so beliebtes Weihnachts-Oratorium zur Uraufführung. Natürlich hatte er auch in den elf vorangegangen Amtsjahren als Thomaskantor schon festliche und besinnliche Musik vom Feinsten geboten. Zwei adventliche Kantaten stellt Christoph Spering, preisgekrönter Experte dieses Repertoires, zwei Teilen aus dem Weihnachts-Oratorium gegenüber, gemeinsam mit seinen Ensembles Chorus Musicus Köln und Das Neue Orchester sowie exquisiten Vokalsolisten.

Programmfolge

Johann Sebastian Bach Meine Seel erhebt den Herren BWV 10 Kantate zum Fest Mariae Heimsuchung (1724) für Sopran, Alt, Tenor, Bass, Trompete, 2 Oboen, Streicher und Basso continuo Nun komm, der Heiden Heiland BWV 62 Kantate zum 1. Advent (1724) für Sopran (Horn colla parte), Alt, Tenor, Bass, 2 Oboen, Streicher und Basso continuo Pause Jauchzet, frohlocket, auf preiset die Tage BWV 248/I Kantate aus dem Weihnachts-Oratorium zum 1. Weihnachtstag (1734) für Sopran, Alt, Tenor, Bass, 3 Trompeten, Pauken, 2 Traversflöten, 2 Oboen (d’amore), Streicher und Basso continuo Herrscher des Himmels, erhöre das Lallen BWV 248/III Kantate aus dem Weihnachts-Oratorium zum 3. Weihnachtstag (1734) für Sopran, Alt, Tenor, Bass, 3 Trompeten, Pauken, 2 Traversflöten, 2 Oboen (d’amore), Streicher und Basso continuo

Frohlockendes Leipzig

Wer singt, betet doppelt, lautet eine Sentenz, die dem Kirchenvater Augustinus zugeschrieben wird. Der Augustinermönch Martin Luther hat sie verinnerlicht, und sie ist in seine reformatorische Theologie eingeflossen. Diesem Umstand verdanken wir einen großartigen Schatz an künstlerisch hochstehender und spirituell tiefgründiger Kirchenmusik insbesondere aus dem protestantischen Nord- und Mitteldeutschland. Er gipfelt in den Werken, die Johann Sebastian als Organist in Thüringen und als Thomaskantor in Leipzig schrieb. Innerhalb seines OEuvres kommt wiederum den knapp 200 überlieferten Kirchenkantaten eine Rolle zu, die jener seiner großen Passionen mindestens ebenbürtig ist.

Schon der zum Konzertmeister beförderte Hoforganist Bach musste zwischen 1714 und 1717 in der Weimarer Schlosskirche monatlich neüe Stücke ufführen. Gemeint waren jene bald kontemplativen, bald affirmativen Predigtmusiken für Singstimmen und Instrumente, in denen man Bibeltexte, Kirchenlieder und freie Reimdichtungen kombinierte und nicht mehr nur in althergebrachter Weise als Chormotette oder geistliches Konzert vertonte, sondern auch in die modernen, aus der Oper entlehnten Formen des Rezitativs und der (Da-capo-) Arie goss. Der heute übliche Begriff Kantate bürgerte sich für solche Kompositionen nur langsam im Laufe des 18. Jahrhunderts ein.

Im Frühjahr 1723 wurde Bach Thomaskantor und Musikdirektor in der Universitäts- und Messemetropole Leipzig. Damit übernahm er die Pflicht, für die vokale Gottesdienstmusik in den wichtigsten Kirchen der Stadt zu sorgen. Das bedeutete für ihn unter anderem, an den Sonn- und Feiertagen abwechselnd in der Nikolai- und der Thomaskirche eine Kantate aufzuführen, mit einem Ensemble aus den fähigsten Thomasschülern, einer Gruppe von Ratsmusikern sowie studentischen Hilfskräften, von denen einige auch seinen privaten Musikunterricht genossen. Etwa zwanzig Kantaten hatte Bach aus Weimar vorrätig, alles andere komponierte er in seinen ersten Amtsjahren neu. Das ergab pro Jahr gut fünfzig Meisterwerke im Wochentakt, wie es der Musikwissenschaftlicher Michael Maul treffend formuliert hat. Auch wenn Bach monatelang Textvorlagen desselben Dichters vertonte, sieht doch jede Kantate in der musikalischen Umsetzung etwas anders aus – und immer wieder ist man erstaunt über den Erfindungsreichtum und die Intensität des Ausdrucks, die nicht zuletzt in Bachs theologischer Durchdringung der Materie gründet.

In seinem zweiten Amtsjahr startete Bach zum 1. Sonntag nach Trinitatis am 11. Juni 1724 gemeinsam mit einem bis heute anonym gebliebenen Textdichter – vermutlich aus dem Kreis der Leipziger Theologen – ein besonders Projekt: den Choralkantaten-Jahrgang. Jetzt bildete einmal nicht ein Bibelwort-Zitat des betreffenden Sonn- oder Feiertages den inhaltlichen und musikalischen Ausgangspunkt der Kantate, sondern ein darauf abgestimmtes Kirchenlied. Dessen erste Strophe gestaltete Bach als kunstvolle Cantus-firmus-Bearbeitung, die letzte meistens als schlichten vierstimmigen Kantionalsatz. Die Binnenstrophen aber hatte sein Textdichter in madrigalischen Versen paraphrasiert, die sich zur Vertonung in Rezitativ- und Arienform anboten. Zwei dieser Kantaten bilden den adventlichen Auftakt des heutigen Konzertes.

Die Kantate Meine Seel erhebt den Herren komponierte Bach am 2. Juli für das auch im evangelischen Leipzig begangene Fest Mariae Heimsuchung. Die Evangelienlesung dieses Tages berichtet vom Besuch der schwangeren Maria bei ihrer Kusine Elisabeth, die ebenfalls ein Kind erwartet – es hüpft in ihrem Leib, weil es den ungeborenen Jesus schon als Messias erkennt; später wird es als Johannes der Täufer zu seinem Wegbereiter werden. Maria reagiert auf das Geschehen, indem sie einen hymnischen Lobgesang anstimmt, das Magnificat. Und dessen deutsche Übersetzung, wie sie sich in den alten Leipziger Gesangbüchern findet, ist die Grundlage von Bachs Kantate. Sie wird allerdings nicht auf eine der vertrauten Choralmelodien gesungen, sondern auf die gregorianische Rezitationsformel des 9. Psalmtons. Und so ist es hier auch einmal nicht eine erste Liedstrophe, die Bach im Eingangschor vertont, sondern ein vierzeiliger Doppelvers.

Zunächst hebt der Sopran gemeinsam mit einer Trompete die Psalmodie als Cantus firmus in langen Notenwerten aus dem konzertanten vokal-instrumentalen Stimmengewebe heraus, dann übernimmt der Alt diese Rolle. Im schlichten Schlusschoral erklingt der Psalmton (den noch Wolfgang Amadeus Mozart im Introitus seines Requiems vom Solosopran singen lässt) wieder in den Oberstimmen. Außerdem erhebt er sich als instrumentales Zitat über dem lamentoartigen Alt-Tenor-Duett der Kantate. Den hymnischen Ton des Eingangschors setzt die daran anschließende Sopran-Arie mit vergleichbarem Impetus fort, während im Bass-Solo die ausgleichende Gerechtigkeit Gottes durch gestenreiche Generalbass-Figuren versinnbildlicht wird. Nicht weniger eindrucksvoll gestaltet Bach vor dem abschließenden Lobpreis die im Weihnachtswunder verwirklichte göttliche Verheißung als streicherbegleitetes Tenorrezitativ.

Fünf Monate später, zum 1. Advent, der die Halbzeit eines Bach’schen Kantatenjahrgangs und den Beginn des neuen Kirchenjahres markiert, stand der Choral Nun komm, der Heiden Heiland auf der Agenda, die deutsche Bearbeitung des mittelalterlichen Hymnus Veni redemptor gentium durch Martin Luther. Die altertümliche Melodie hatte Bach schon 1714 in Weimar in einer Adventskantate als Chor in Form einer französischen Ouvertüre in Musik gesetzt und diese Komposition 1723 auch in Leipzig aufgeführt. 1724 bettet er dagegen die vom Sopran mit Blechbläserunterstützung vorgetragene Choralweise in einen konzertanten Ritornellsatz ein, in dem die Oboen und die Generalbassstimme immer wieder die Melodie der ersten Verszeile devisenartig zitieren. Alt, Tenor und Bass greifen in einem kontrapunktisch dichten Geflecht ebenfalls Motive der Choralweise auf und entwickeln daraus eine auch rhetorisch ansprechende eigene Gestaltungsebene. Mit den galanten Bewegungen eines barocken Tanzes besingt die folgende Tenorarie das Geheimnis der Menschwerdung Gottes, und im Zentrum der Kantate stellt die Bassstimme den Menschensohn als kraftvollen Helden dar. Dazu schließen sich in der Arie sogar die hohen Streicher dem dynamisch ausgreifenden Generalbass an, um in Oktavverdopplungen jene Stärke hervorzuheben, von der die Vokalstimme singt. Ein durch Streicherakkorde ausgeleuchtetes Duettrezitativ blickt vor dem kompakten Schlusschoral schon einmal auf das Weihnachtsgeschehen voraus.

Bachs Zuhörer mussten von dieser eindrucksvollen Kantate wochenlang zehren, denn nach dem 1. Adventssonntag brach in Leipzig auch musikalisch eine Fastenzeit an, die bis zum Weihnachtsmorgen andauerte.

Noch ein ganzes Jahrzehnt sollte es aber nach dem Verklingen der Adventsmusik von 1724 bis zur Geburt von Bachs Weihnachts-Oratorium dauern. Bis etwa 1728/29 führte der Thomaskantor alljährlich in der Weihnachtszeit neue Kantaten eigener Komposition auf oder stattdessen auch schon mal Werke von andernorts wirkenden Kantoren- und Kapellmeisterkollegen. Mit reichlich Kirchenmusik-Repertoire versehen, wandte er seine kompositorischen Aktivitäten dann erst einmal anderen Dingen zu. So übernahm er im Frühjahr 1729 die Leitung eines studentischen Collegium musicum, das offenbar über ausgezeichnete Vokal- und Instrumentalmusiker verfügte und jede Woche ein öffentliches Konzert in den Räumlichkeiten des Leipziger Kaffeehausbesitzers Gottfried Zimmermann gab. In Sonderkonzerten gratulierte Bach hier von September 1733 an zusätzlich mit eigens komponierten weltlichen Kantaten aus der Ferne den Mitgliedern des kursächsischen Herrscherhauses in Dresden zu Geburts- und Namenstagen. Dies auch aus kulturpolitischem Kalkül: Dem neuen Regenten Friedrich August II. hatte Bach schon im Juli desselben Jahres Kyrie und Gloria seiner späteren h-Moll-Messe zukommen lassen, verbunden mit einer Widmung und der Bitte, den Ehrentitel eines Hofkomponisten zu erhalten. Die Aufführungen der Leipziger Gratulationskantaten, von denen man auch in Dresden in der Zeitung lesen konnte, sollten sein Anliegen bei Hofe in Erinnerung rufen – was aber erst im November 1736 zum Erfolg führte.

Unterdessen war Bach wohl gemeinsam mit seinem Freund und damaligen Textdichter Christian Friedrich Henrici alias Picander auf den Gedanken gekommen, einiges aus den einmalig verwendeten weltlichen Stücken für die Kirchenmusik nutzbar zu machen: Die galanten Jubelchöre und Arien wurde zum Gotteslob umtextiert, das nun gemeinsam mit passenden Choralstrophen nach geistlicher Kantatenart die biblische Schilderung der Weihnachtsgeschichte in Evangelisten-Rezitativen und ergänzenden Bibelwortchören umgab. So kam an den sechs Weihnachtsfesttagen vom 25. Dezember 1734 bis zum 6. Januar 1735 in einem Hauptgottesdienst am Morgen und teilweise als Wiederholung im nachmittäglichen Vespergottesdienst jeweils ein Teil von Bachs Weihnachts-Oratorium als Kantatenmusik zur Aufführung. Gottesdienstbesuchern, die mehr als ein Jahr zuvor die entsprechenden Darbietungen der fürstlichen Gratulationsmusiken besucht hatten, mochte also manches irgendwie vertraut vorkommen, auch wenn Bach an vielen Stellen auf die neuen Texte noch mit Umbesetzungen und Neuinstrumentierungen reagiert hatte.

Die signifikante Einsatzfolge der Instrumente zu Beginn der Kantate Jauchzet, frohlocket, mit der Bach am 1. Weihnachtstag zum Jubel anhebt, ist aber so geblieben, wie sie der ursprüngliche Text einer Geburtstagsmusik für die Kurfürstin vorgab: Tönet, ihr Pauken, erschallet, Trompeten, klingende Saiten, erfüllet die Luft ... Für höfischen Glanz sorgen in Bachs Festorchester neben dem feudalen Trompetenchor auch zwei der seinerzeit modischen Traversflöten auf ihre empfindsame Weise. In der ersten Arie verschmelzen Oboe, Violine und Alt-Stimme zu einer noch adventlichen Liebesarie der allegorischen Tochter Zion an ihren Bräutigam Jesus, der kurz darauf in der heroischen Bassarie schon als Weltenherrscher und Heiland zugleich angesprochen wird. Den galanten Arien-Ton überträgt Bach auch in die neu komponierten Werkteile – etwa in den wiegenden Triosatz von Oboen und Basso continuo, der die Choralmelodie Er ist auf Erden kommen arm im Sopran als entrückte Kommentar zu den rezitativischen Gedanken des Vokalbasses wirken lässt.

Nach dem Wunder der Geburt, von dem die Kantate zum 1. Weihnachtstag handelt, steht zwei Tage später der Besuch der Hirten an der Krippe im Blickpunkt der Kantate Herrscher des Himmels, erhöre das Lallen. Auf den knapp gefassten tänzerischen Eingangssatz folgt da mit typisch Bach‘schem Humor die Reaktion jener Hirten, denen Engel die frohe Botschaft verkündigt haben: Ihr vielfaches Lasset uns nun gehen ertönt in metrisch etwas ungelenken Deklamationen, die ein walking bass im Continuo antreibt und eine hektische gemeinsame Oberstimmenkoloratur von Flöten und erster Violine aufmischt. Nach der trostvollen Terzen- und Sexten-Seligkeit des Sopran-Bass-Duetts findet die Kantate zu einer der innigsten Arien Bachs, in der sich die Altstimme sensibel in die lyrischen Kantilenen der Violinstimme einfügt. Zwei Choralsätze, deren originelle Harmoniefolgen ins 19. Jahrhundert vorauszuweisen scheinen, leiten zurück zum Jubel des Anfangs, mit dem der Thomaskantor einen musikalischen Schlusspunkt zum eigentlichen Weihnachtsfest 1734 setzte.

Nach vier Tagen Pause führte Bach am 1., 2. und 6. Januar die übrigen drei Kantaten seines Weihnachts-Oratoriums auf – und dann offenbar nie mehr. Stattdessen hatten die Leipziger in den folgenden 15 Jahren reichlich Gelegenheit, andere seiner weihnachtlichen Kantaten erneut zu hören – ebenso geniale Werke, auf die seine Oratorienkomposition heute gelegentlich den Blick verstellt.

behe

Mitwirkende

Elisa Rabanus – Sopran Benno Schachtner – Alt Benedikt Kristjánsson – Tenor Daniel Ochoa – Bass Chorus Musicus Köln, Das Neue Orchester Chorus Musicus Köln Sopran Regina Achtelik, Anne Savignano, Ingeborg Schilling, Marina Schuchert, Birgit Wegemann Alt Natalie Hüskens, Eva Sauerland, Nils Stefan, Juliane Wenzel, Angelika Wied Tenor Konrad Buers, Bruno Michalke, Markus Petermann, Robert Sedlak Bass Matthias Grubmüller, Frank Hermans, Karsten Lehl, Stefan Meier Das Neue Orchester Violine 1 Almut Frenzel-Riehl (Konzertmeisterin), Frauke Heiwolt, Christine Wasgindt, Christof Boerner Violine 2 Pia Grutschus, Salma Sadek, Mark Schimmelmann Viola Antje Sabinski, Christian Goosses Violoncello Hannah Freienstein Violone: Timo Hoppe Traversflöte Thomas Wormitt, Gudula Hufschmidt Oboe (d’amore) Clara Blessing, Adam Masters Fagott Alexander Golde Trompete Dave Hendry, Nigel Paul, Tim Hayward Pauken Martin Piechotta Orgel, Cembalo Andreas Gilger, Michael Borgstede Ltg. Christoph Spering