Saison 2018/2019: Konzert 5

Sonntag, 10. Februar 2019 Trinitatiskirche 17 Uhr

Erschallet, ihr Lieder

Johann Sebastian Bach: Weimarer Kantaten Cantus Cölln Konrad Junghänel Konrad Junghänel
Die Aufzeichnung des Konzertes sendet WDR 3 zu einem späteren Zeitpunkt.

Monatlich neue Stücke, nämlich Kirchenkantaten, hatte Johann Sebastian Bach schon seit 1714 als Hoforganist in Weimar zu komponieren. Ohne es zu ahnen, lief er sich damit bereits für spätere Kantorenaufgaben warm: Was der etwa Dreißigjährige da für die Weimarer Schlosskirche schrieb, geriet ihm so grandios, dass er es später praktisch unverändert in Leipzig wiederaufführen konnte. Im konzertanten Hofkapell-Stil samt Trompeten und Pauken präsentiert Cantus Cölln Marksteine aus Bachs früherem Kantatenwerk.

Programmfolge

Johann Sebastian Bach Erschallet, ihr Lieder BWV 172 Kantate zum Pfingstfest (1714) für Sopran, Alt, Tenor, Bass, 3 Trompeten, Pauken, Oboe, Fagott, 2 Violinen, 2 Violen und Basso continuo Gleich wie der Regen und Schnee vom Himmel fällt BWV 18 Kantate zum Sonntag Sexagesimae (1713?) für Sopran, Alt, Tenor, Bass, 4 Violen, Fagott und Basso continuo Pause Ich hatte viel Bekümmernis BWV 21 Kantate zum 3. Sonntag nach Trinitatis (1714) für Sopran, Alt, Tenor, Bass, 3 Trompeten, Pauken, Oboe, Fagott, 2 Violinen, Viola und Basso continuo

Monatlich neue Stücke

Ich habe von dem berühmten Organisten zu Weimar, Hrn. Joh. Sebastian Bach, Sachen gesehen, so wohl vor die Kirche als vor die Faust, die gewiß so beschaffen sind, daß man den Mann hoch aestimiren muß, gab im Jahr 1717 der scharfzüngige Hamburger Musikpublizist Johann Mattheson zu Protokoll. Kein Zweifel: Johann Sebastian Bach war da schon eine feste Größe in der umtriebigen Musikerszene Mittel- und Norddeutschlands. Neun Jahre zuvor war er mit 23 Jahren nach Weimar gekommen, um als Hoforganist in den Gottesdiensten und als Kammercembalist in den Mußestunden des Herzogs Wilhelm Ernst oder seines mitregierenden Neffen Ernst August aufzuwarten. Darüber hinaus hatte man ihn im März 1714 zum Konzertmeister ernannt. Dies geschah sicher zur Entlastung des kränkelnden Kapellmeisters Johann Samuel Drese. Man darf die Beförderung aber auch als Reaktion darauf sehen, dass sich Bach im Dezember 1713 erfolgreich auf die Organistenstelle an der Liebfrauenkirche in Halle beworben hatte. Der Weimarer Hof wollte seinen ambitionierten Tastenvirtuosen halten und erreichte das durch die Ausweitung seiner Kompetenzen und die Erhöhung der Besoldung.

Verbunden war der neue Rang mit der Bestimmung, dass Bach Monatlich neüe Stücke ufführen, und zu solchen proben die Capell Musici uf sein verlangen zu erscheinen schuldig und gehalten seyn sollen. Neue Stücke, das hieß hier: Kirchenkantaten. Es ging also um die in lutherischen Hof- und Stadtkirchen üblichen Predigtmusiken für Singstimmen und Instrumente, in denen man Bibeltexte, Kirchenlieder und freie Reimdichtungen kombinierte und letztere bevorzugt in die aus der Oper entlehnten Formen des Rezitativs und der (Da-capo-) Arie goss. In der Tat hat Bach von Palmsonntag 1714 an mehr als zwei Jahre lang in der Regel alle vier Wochen solche Musiken komponiert - bis nach dem Tod von Drese im Dezember 1716 dessen Sohn ins Amt des Kapellmeisters nachrückte. Erst ein Jahr später sollte auch Bach der Aufstieg an die Spitze einer Hofkapelle vergönnt sein: beim Fürsten Leopold von Anhalt-Köthen.

Bachs Weimarer Kantaten erklangen in den Hofgottesdiensten der Schlosskirche höchst effektvoll vom Himmel herab. Die Musiker standen auf einer Galerie in der Dachkuppel, auf der sich auch die Orgel befand. Das Kantatenensemble rekrutierte sich aus je etwa acht Sängern und Instrumentalisten der Hofkapelle; bei Bedarf mögen noch die qualifizierteren der acht Kapellknaben mitgewirkt haben und an Festtagen zusätzlich Mitglieder des höfischen Trompetenensembles sowie städtische Musiker. Bach zeigt sich in den Weimarer Werken sehr experimentierfreudig; es dominieren dabei kammermusikalische Kompositionen, die mit bis zu vier Sängern, einer Oboe oder Blockflöte, wenigen Streichern, Fagott und Orgel auskommen.

Festlicher besetzt ist da mit einem zusätzlichen Trompetenchor die Pfingstkantate Erschallet, ihr Lieder, die Bach am 20. Mai 1714 als drittes neues Stück nach der Ernennung zum Konzertmeister aufführte. Den Text dazu hat wohl Salomon Franck geliefert, ein theologisch und literarisch gebildeter Weimarer Verwaltungsbeamter, der bei Hofe u. a. als Bibliothekar tätig war. In wechselnden poetischen Bildern beschreibt er hier den Einzug des Heiligen Geistes in die Herzen der Gläubigen. Ein tänzerischer Satz in Da-capo-Form eröffnet das Werk und lässt Vokalstimmen, Streicher sowie Trompeten und Pauken oft wechselweise in fröhlichen Dreierrhythmen konzertieren. Am Ende steht ein vierstimmigen Choralsatz, über dem sich die erste Violine erhebt und klanglich jenen Freudenschein entstehen lässt, von dem der Kirchenliedtext spricht. Den Schlusspunkt setzt die Wiederholung des Eingangschores. Dazwischen stehen drei Arien, von denen die heroische erste für Bass von einem Bibelwort-Rezitativ eingeleitet wird. In der Unisono-Streicherbegleitung der Tenorarie scheint schon der Heilige Geist zu wehen, dem der Alt im nachfolgenden Duett seine Stimme leiht, um auf die sehnenden Bitten einer Gläubigen Seele - des Soprans - zu antworten. Dazu zitiert eine instrumentale Solostimme in einer verschleiernd ornamentierten Form die Choralweise Komm, Heiliger Geist, Herre Gott - ein früher Höhepunkt in Bachs ausgeprägt kombinatorischer Komponierart.

Dass Bach sich in Weimar bereits vor seiner Ernennung zum Konzertmeister mit der vokal-instrumentalen Kirchenmusik beschäftigt hat, legt die Kantate Gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt nahe. Er hat sie vermutlich schon am 19. Februar 1713 aufgeführt, dem letzten Sonntag vor der Passionszeit, an dem als Evangelium das Gleichnis vom Sämann gelesen wurde. Ein ausgiebiges Zitat daraus hat der Theologe Erdmann Neumeister im schlesischen Sorau in seinen 1711 veröffentlichten Kantatentext integriert, von dem sich Bach hier zu einer recht unkonventionellen Komposition inspirieren ließ. Die einleitende Sinfonia mit dem prägnanten Unisono-Kopfmotiv stellt zunächst die ungewöhnliche Instrumentierung des ganzen Werks mit vier Bratschen, Fagott und Basso continuo vor. Es schließt sich eine ausgedehnte Rezitativfolge an, die mehrmals von choralartigen Ensemble-Einwürfen mit Zitaten aus Martin Luthers harscher Bitt-Litanei unterbrochen wird. Man hat den Eindruck, Bach wolle hier alle Möglichkeiten eines geistlichen Rezitativs ausloten: mit schlichter Generalbass-Begleitung zum rhetorisch nuancenreich ausgedeuteten bildhaften Bibelwort, mit dem Streicher-Accompagnato zur erbaulichen Madrigaldichtung und beherzten Bassfortschreitungen zur ein- und mehrstimmig psalmodierenden Litanei. In einer liedhaften Sopranarie und einem schlichten Choralsatz klingt diese musikalische Predigt aus.

Ein sonst braver Practicus hodiernus, der repetirt nicht für die lange Weile also: Ich, ich, ich, ich hatte viel Bekümmerniß, ich hatte viel Bekümmerniß, in meinem Hertzen, in meinem Hertzen etc. Hernachmahl so: Seufzer, Thränen, Kummer, Noth (Pause) Seufzer, Thränen, ängstlichs Sehnen, Furcht und Tod (Pause) nagen mein beklemmtes Hertz etc. Item Komm, mein JEsu, und erquicke (Pause) und erfreu mit deinem Blicke (Pause) komm, mein JEsu, (Pause) komm, mein JEsu, und erquicke, und erfreu mit deinem Blicke diese Seele etc. - 1725 weiß Johann Mattheson in einer Polemik zur Frage adäquater musikalischer Textdeklamation Details aus einer der längsten und heterogensten Kantaten Bachs zu zitieren: Ich hatte viel Bekümmernis. In Weimar war diese Musik zum 3. Sonntag nach Trinitatis am 17. Juni 1714 zu hören. Ihr Text, der in seinen freien Dichtungen vermutlich wieder auf Salomon Franck zurückgeht, stellt Gefühlen von verzweifelter Gottverlassenheit ein tiefes Gottvertrauen gegenüber. Bach deutet das in einer abwechslungsreichen und doch immer expressiven Musiksprache aus - und dazu hat er offenbar schon vor 1714 an dem Werk gearbeitet. Einiges spricht dafür, dass er den ganzen ersten Teil der Komposition und den Choralchor Sei nun wieder zufrieden, meine Seele schon zum Trauergottesdienst für die vornehme Witwe Aemilia Maria Harreß komponierte, der am 8. Oktober 1713 in der Weimarer Stadtkirche gehalten wurde. Die übrigen Sätze mag Bach in den folgenden Wochen ergänzt haben, um mit dem erweiterten Werk bei der schon erwähnten Bewerbung in Halle alle Facetten seiner vokal-instrumentalen Kunst vorführen zu können. Matthesons spätere Kenntnis der Kantate könnte daher rühren, dass Bach sie auch im Gepäck hatte, als er sich 1720 in Hamburg - mangels Finanzvermögen vergeblich - um die Orgelstelle an der Katharinenkirche bewarb.

In der einleitenden Sinfonia lässt er die Oboe mit weitausschwingenden Kantilenen und herben Dissonanzen über den Streichern hervortreten. Für die Vokalsolisten hält er bald innige, bald dramatische Arien bereit, außerdem auch einen Dialog zwischen einer gläubigen Seele und Jesus in Rezitativ- und Duettform - ganz nach den weltlichen Vorbildern der Oper. Tragende Pfeiler in der vielgliedrigen Architektur des Werks sind aber die kraftvollen Bibelwortchöre. Ein Faible für musikalische Überraschungseffekte verrät Bachs Entscheidung, die Trompeten und Pauken für die grandiose Schlussapotheose nach Worten aus der Offenbarung des Johannes aufzusparen.

Wie die meisten der Kantaten auf seiner Weimarer Zeit hat Bach die drei Werke des heutigen Programms mit nur marginalen Änderungen erneut aufgeführt, als er nach sechs Kapellmeisterjahren in Köthen im Frühjahr 1723 sein Amt als Leipziger Thomaskantor angetreten hatte. Da galt es für ihn erst einmal, wöchentlich neue Stücke aufzuführen, und sein älterer Kantatenfundus verschaffte ihm im ersten Kantoratsjahr wenigstens ab und zu eine Atempause im sonst permanenten Komponieren. Was Bach einst für die gottesfürchtigen Weimarer Herrschaften an geistlicher Musik geschrieben hatte, war aber auch allemal würdig, jetzt noch das geneigte Ohr der vielen akademisch gebildeten Gemeindeglieder in den Hauptgottesdiensten der Leipziger Nikolai- und Thomaskirche zu finden.

behe

Mitwirkende

Cantus Cölln
Cantus Cölln Sopran: Magdalene Harer, Mechthild Bach Alt: Elisabeth Popien, Alexander Schneider Tenor: Hans Jörg Mammel, Georg Poplutz Bass: Wolf Matthias Friedrich, Markus Flaig Violine, Viola (BWV 18): Ulla Bundies, Cosima Taubert Violine: Susanne Busch, Katharina Huche Viola: Friederike Kremers, Volker Hagedorn Violoncello: Albert Brüggen Violone: Matthias Müller Orgel: Carsten Lohff Oboe: Henriette Boehm Fagott: Adrian Rovatkay Trompete: Ute Hartwich, Tobias Jung, Ute Rothkirch Pauken: Stefan Gawlick Ltg. Konrad Junghänel