2020/2021: Konzert 3

Sonntag, 8. November 2020 Corona-bedingt als Rundfunkproduktion ohne Publikum St. Ursula (statt Trinitatiskirche) 17 Uhr

Trauer und Trost

Instrumentalmusik für Violine und Basso continuo von Heinrich Ignaz Franz Biber, Johann Sebastian Bach, Antonio Vivaldi und Georg Friedrich Händel Ensemble Vintage Köln Ariadne Daskalakis Sendetermin: WDR3 am 28.12.2020 um 20:04 Uhr

Bald meditativ, bald jubelnd, meist im Dialog mit dem Generalbass, am Ende aber auch nur mit sich selbst: so begegnet uns die Violine in den Rosenkranz-Sonaten von Heinrich Ignaz Franz Biber. Dem Zweiklang von Trauer und Trost in dieser kontemplativen Kammermusik für den Salzburger Fürsterzbischof mischen die Geigerin Ariadne Daskalakis und ihre Begleiter an Gambe und Cembalo jetzt Sonaten von Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel und Antonio Vivaldi bei. So machen sie den Affektreichtum der barocken Violinliteratur noch einmal sinnlich neu erfahrbar.

Programmfolge

Antonio Vivaldi (1678–1741)
Sonate g-Moll, op. 2,1
für Violine und Basso continuo, RV 27
Preludio. Andante – Giga. Allegro – Sarabanda. Largo – Corrente. Allegro

Heinrich Ignaz Franz Biber (1644–1704)
Rosenkranz-Sonate Nr. 1 d-Moll Mariae Verkündigung
für Violine und Basso continuo Praeludium – Aria. Variatio – Finale

Rosenkranz-Sonate Nr. 6 c-Moll Jesus am Ölberg
für Violine und Basso continuo Lamento – Adagio

Johann Heinrich Schmelzer (1623–1680)
Sonata quarta D-Dur
für Violine und Basso continuo
aus den Sonatae unarum fidium, Wien 1664

Georg Friedrich Händel (1685–1789)
Sonate D-Dur
für Violine und Basso continuo, HWV 371
Affettuoso – Allegro – Largo – Allegro

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Nicht nur für fürstliche Kammern

Da tritt nun unter denen, die mit Darmsaiten bezogen sind und mit Bögen gestrichen werden, die complaisante [gefällige] und durchdringende Violine hervor, die sich zu allen Sachen schicket, sie mögen Namen haben, wie sie wollen. Die geringe Zahl ihrer Saiten sowohl als auch die Ungewissheit ihrer Griffe, welche mit keinen Bünden markiert sind, sondern der Habitude geschickter Finger überlassen werden, machen dies Instrument eines der allerschwersten.

Kaum hatte sich um 1600 in Italien die Monodie, das Prinzip der akkordisch begleiteten expressiven Einzelstimme, als zukunftsweisender Weg der Vokalmusik etabliert, da war mit der Violine auch schon das ideale instrumentale Pedant zum Gesang gefunden: Ob Freude oder Trauer, ob Jubel oder Trost – die Violine bietet für alle Affekte eine ganze Palette an Ausdrucksmöglichkeiten und Schattierungen, und das von der sonoren Altlage bis in die höchsten Soprantöne – und noch darüber hinaus. Gut ein Jahrhundert nach dem Beginn ihrer Erfolgsgeschichte charakterisiert der Hamburger Musiker Johann Mattheson die Violine 1713 in seinem literarischen Erstling Das Neu-Eröffnete Orchestre mit den oben angeführten Worten. Sie haben bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren.

Kein anderes Melodieinstrument hat wohl auch in seiner Geschichte mehr virtuose Solisten von internationaler Geltung hervorgebracht als die Geige. Und natürlich Solistinnen! Zu den ersten Violinspielerinnen von Rang gehörten um 1700 die Schülerinnen des Ospedale della Pietà in Venedig, einem Mädchen-Waisenhaus, das seinen Zöglingen eine exquisite musikalische Ausbildung bot. Als maestro di violino und dann auch maestro de’ concerti wirkte dort kein Geringerer als Antonio Vivaldi. Als seine Star-Schülerin ist eine Anna Maria dal Violin bekannt, die zeitlebens Mitglied des Ospedale blieb, aber auch eine als Sängerin hoch qualifizierte Maria Domenica, die später an den waldeckischen Fürstenhof in Arolsen kam und zeitweise dem Ensemble der Hamburger Oper angehörte. Interpretinnen wie sie dürften – nach dem Meister selbst – die ersten gewesen sein, die Vivaldis neue Violinkompositionen ausprobierten.

Nach Venedig zum Aufbaustudium bei Vivaldi schickten zudem ambitionierte Fürsten aus dem nördlichen Europa die besten Geigentalente ihrer Hofkapellen. Einem der kunstsinnigen Potentaten, König Friedrich IV. von Dänemark und Norwegen (auch Herzog von Schleswig und Holstein sowie Graf von Oldenburg und Delmenhorst), widmete Vivaldi 1709 sein Opus 2, einen Band mit zwölf Sonaten für Violine und Generalbass. Der Venezianer, der heute vor allem als Schöpfer virtuoser Konzerte für Violine und Orchester ein Begriff ist, wirft den Fokus hier auf das dialogisierende Miteinander von Melodieinstrument und Generalbassstimme – der Titel des Drucks erwähnt als Instrumentalpartner ausdrücklich das Cembalo. Das ist feinste, oft im imitierenden Kontrapunkt konzipierte Kammermusik. Mit einem galanten Preludio in g-Moll beginnt die erste Sonate des Opus und lässt noch drei Sätze gleicher Tonart mit kontrastreich stilisierten Tanzcharakteren folgen: Giga, Sarabanda und Corrente.

Dass Vivaldi sein Opus 2 dem musik- und italienbegeisterten König im Norden widmete, heißt keineswegs, dass er die zwölf Sonaten speziell für ihn komponiert hätte. Sie waren ja nun auch als Druckausgabe in der Welt (schon etwa drei Jahre später folgte eine Zweitauflage in Amsterdam). Solch ein Widmungsträger revanchierte sich aber in der Regel mit einem Ehrenhonorar, durch das der Komponist die Druckkosten auffangen konnte.

Ein wesentlich privaterer Charakter kommt hingegen jenen 15 generalbassbegleiteten Violinsonaten samt abschließender Solo-Passacaglia zu, die der Salzburger Hofmusiker Heinrich Ignaz Franz Biber in einer mit kleinen medaillonartigen Kupferstichbildern verzierten Handschrift seinem Fürsterzbischof Max Gandolph von Kuenburg widmete. Gedruckt und damit einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurden sie erstmals zu Beginn des 20. Jahrhunderts!

Biber, ein gebürtiger Böhme und eine Generation älter als Vivaldi, darf als bedeutendster Violinvirtuose seiner Zeit gelten. Im Laufe zweier Jahrzehnte stieg er in Salzburg bis 1684 zum Hofkapellmeister auf. Bibers Dienstherr war 1674 der Salzburger Rosenkranzbruderschaft beigetreten, einer Vereinigung von Akademikern, die sich im Zuge der Gegenreformation und der damit einhergehenden wachsenden Marienverehrung gegründet hatte. Man darf Bibers Sonatenzyklus als seinen intimen musikalischen Beitrag zu den privaten Andachten des Fürsterzbischofs verstehen, bei denen dann der Komponist die Violinpartie spielte. Den spirituellen Hintergrund der Stücke bilden die 15 sogenannten Mysterien des Rosenkranzes. Jede Sonate reflektiert eine Begebenheit aus der biblischen Heilsgeschichte des Gottessohnes Jesus und seiner Mutter Maria nach der Deutung der römisch-katholischen Kirche. Die Sonate Nr. 1 bezieht sich auf die Verkündigung des Engels Gabriel an Maria, dass sie als Jungfrau den Sohn Gottes vom Heiligen Geist empfangen und gebären werde.

Wenn Biber seine Sonaten auch weniger illustrierend als betrachtend angelegt hat, zeichnet hier der Beginn mit seinen Tongirlanden doch unzweifelhaft die Ankunft des Engels vom Himmel herab nach. Der spricht dem Lukas-Evangelium zufolge die Jungfrau mit den Worten an, die dann auch das Rosenkranzgebet einleiten: Ave Maria, gratia plena, Dominus tecumGegrüßet seist du, Maria, voll der Gnaden, der Herr ist mit dir.

Nach der frühbarocken Tradition legt Biber die einzelnen Sonaten als kleinteilige Folge mehrerer Sätze an, die in derselben Tonart stehen und mitunter nahtlos ineinander übergehen. Ungewöhnlich hingegen ist die Skordatur, die Biber ab der zweiten Sonate verlangt: eine Umstimmung einzelner Violinsaiten, die besondere Doppelgriffe zum mehrstimmigen Spiel ermöglicht und zugleich die Klangfarben des Instruments beeinflusst.

Die Sonate Nr. 6 zeigt Jesus am Ölberg, der alleingelassen in Erwartung seiner Gefangennahme und Kreuzigung in Todesangst zu seinem Vater betet. Biber unterstreicht diese beklemmende Situation schon mit der Wahl der Skordatur: Keine der vier Violinsaiten bleibt hier in der Grundstimmung – die beiden unteren sind einen Halbton, die beiden oberen einen Ganzton höher eingestimmt. Das beeinträchtigt das freie Schwingen der Saiten erheblich; der Klang der Violine wirkt eigentümlich zerbrechlich. Im Lamento-Gestus des Beginns, dessen Melodie von Seufzer-Motiven durchzogen wird, bleiben auch die meisten der folgenden Abschnitte verfangen; nur kurz deutet sich in wenigen Presto-Takten ein Aufbegehren des Menschensohnes Jesus gegen den bevorstehen Leidensweg an. Die entschiedenen Schlussakkorde dürften dann aber seine Bereitschaft widerspiegeln, sich dem Willen des göttlichen Vaters zu fügen.

Bevor Biber 1670 nach Salzburg gekommen war, hatte er als Hofmusiker in den Diensten des Olmützer Bischofs Karl von Liechtenstein-Kastelkorn gestanden, der im Schloss Kremsier im östlichen Mähren residierte. Möglicherweise war er in seiner Jugend am Kaiserhof in Wien bei Johann Heinrich Schmelzer in die Lehre gegangen, der damals so manchem Zeitgenossen als der berühmte und fast vornehmste Violist in ganz Europa galt. Wie Biber später in Salzburg, so brachte es Schmelzer am Kaiserhof noch bis zum Kapellmeister. Er starb allerdings im Frühjahr 1680, nur wenige Monate nach seiner Beförderung, in Prag an der Pest.

1664 hat Schmelzer mit den Sonatae unarum fidium eine Sammlung von sechs Sonaten für Violine und Basso continuo veröffentlicht, die noch frei von allzu festen Formschemata die unterschiedlichsten Facetten der solistischen Violinkunst vorstellen. Der Widmungsträger des Drucks, Carlo Carafa della Spina, hatte mehrere Jahre als päpstlicher Nuntius in Wien residiert, war aber einige Monate vor Erscheinen der Sonaten zum Kardinal ernannt worden und daraufhin nach Rom zurückgekehrt. Auch in der Ewigen Stadt dürften Schmelzers Sonaten demnach schnell Gehör gefunden haben.

Die vierte Sonate der Sammlung beginnt mit vielfältigen Variationen über einem stoisch wiederkehrenden lapidaren Bassmodell von vier absteigenden Tönen. Umso mehr überrascht Schmelzer dann mit der mehrteiligen Satzfolge, die er noch auf die 180 Ostinato-Takte folgen lässt: Da entwickelt er im letzten Drittel der Sonate noch einmal ganz neue musikalische Gedanken, die schließlich in ein violinistisches Feuerwerk münden.

Nahezu ein Jahrhundert in der Entfaltung der barocken Violinkunst liegt zwischen Schmelzers D-Dur-Sonate und der Londoner Sonate gleicher Tonart von Georg Friedrich Händel. Vier Jahrzehnte trennen dessen Komposition auch schon von Antonio Vivaldis Sonaten op. 2, mit denen sie aber die spätbarocke, klar in abgeschlossene Sätze gegliederte Form teilt.

Mehr als an Vivaldi hat sich Händel in seiner Streichermusik aber am Vorbild des Violinvirtuosen Arcangelo Corelli orientiert. Als sich der junge deutsche Komponist nach ersten Opernerfahrungen in Hamburg zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Rom aufhielt, war Corelli dort der allseits gefragte Konzertmeister kunstinniger Kardinäle und Adeliger; Corelli auf der Violine und Händel am Cembalo haben verschiedentlich zusammen musiziert. In London, der Wahlheimat Händels seit 1713, stand der bei allem geigerischen Esprit reichlich Klassizität und Gediegenheit verströmende Stil Corellis überdies in besonderem Ansehen.

Händel bereichert nun um 1750 diesen Esprit in seiner späten Violinsonate um das ihm eigene Pathos – seine Charakterisierung des Beginns als Affettuoso deutet es schon an. Im folgenden Satz lässt sich die Violine auf den dichten kontrapunktischen Gedankenaustausch mit den Continuoinstrumenten ein, um dann mit dem Larghetto eine innige Arie ohne Worte zu singen. Im abschließenden Allegro darf sie sich noch einmal im Gestus der virtuos auftrumpfenden Konzertsolistin präsentieren.

behe

Mitwirkende

Ensemble Vintage Köln: Ariadne Daskalakis – Violine Rainer Zipperling – Viola da gamba Gerald Hambitzer – Cembalo