2022/2023: Konzert 1

Sonntag, 25. September 2022 WDR-Funkhaus 17 Uhr

Seelenklänge

Vokal- und Instrumentalmusik von James Paisible, Johann Christoph Pepusch, Antonio Vivaldi, François Chauvon, Georg Philipp Telemann, Marin Marais, Johann Gottlieb Janitsch und Johann Sebastian Bach Georg Poplutz – Tenor Ensemble Klangschmelze Ltg. Leonard Schelb – Flöten Georg Poplutz Leonard Schelb Sendung auf WDR 3 am 30.01.2023 ab 20.04 Uhr

Die Erfindung der Flöte verliert sich in der Kindheit der Welt. In poetische Worte fasst 1804 der Musiker und Pädagoge Johann Georg Wunderlich die in Urzeiten gründende Nähe von Gesang und Bläserspiel, beide hochemotionale Ausdrucksmittel menschlichen Empfindens. Der Tenor Georg Poplutz und das Ensemble Klangschmelze um dem Flötisten Leonard Schelb widmen sich barocken Spielarten dieser musikalischen Urverwandtschaft.

Programmfolge

François Chauvon (vor 1700–1740) Première Suite für Traversflöte und Basso continuo aus Tibiades (Paris 1717) Prélude – Menuet champêtre – Allemande – Réflexion – Arpègement – Les Tourbillons – Cotillon – Gigue James Paisible (1656–1721) Sonate g-Moll für Blockflöte und Basso continuo (London um 1700) Grave – Largo – Adagio – Presto Johann Christoph Pepusch (1667–1752) While Corydon, the lonely Shepherd Kantate für Singstimme, Blockflöte und Basso continuo aus Six English Cantatas (London um 1710) Antonio Vivaldi (1678–1741) Concerto g-Moll RV 107 für Traversflöte, Oboe, Violine und Basso continuo Allegro – Largo – Allegro Georg Philipp Telemann (1681–1767) Seele, lerne dich erkennen TWV 1:1258 Arie für Tenor, Blockflöte und Basso continuo aus der Kantatensammlung Harmonischer Gottesdienst (Hamburg 1725) Pause Marin Marais (1656–1728) Prélude – Air für 2 Violinen und Basso continuo aus der Suite B-Dur der Pièces en Trio (Paris 1692) Johann Sebastian Bach (1685–1750) Wo wird in diesem Jammertale BWV 114/2 Arie für Tenor, Traversflöte und Basso continuo aus der Kantate Ach, lieben Christen, seid getrost (Leipzig 1724) Marin Marais Plainte – Menuet für 2 Violinen/Blockflöten und Basso continuo aus der Suite B-Dur der Pièces en Trio Johann Gottlieb Janitsch (1708–1762) Sonata da camera über den Choral O Haupt voll Blut und Wunden für Oboe/Flöte, Violine, Viola und Basso continuo Largo e mestoso – Allegretto – Adagio ma non troppo – Vivace non troppo Johann Sebastian Bach Der Ewigkeit saphirnes Haus Arie für Tenor, Traversflöte, Oboe d’amore, 2 Violinen, Viola da gamba und Basso continuo aus der Trauermusik für Christiane Eberhardine von Sachsen (Leipzig 1727)

Aus der Kindheit der Welt

Tibiades – Nouveau Genre de Pieces pour la Flûte et le Hautbois: So hat François Chauvon, ein französischer Hofmusiker und Schüler des großen François Couperin, eine Sammlung heute gänzlich unbeachteter Suiten betitelt, die er 1717 im Druck veröffentlichte und die sich so unscheinbar wie vorausschauend darstellt. Denn hier spielen aufklärerische Aspekte eine wichtige Rolle. So nimmt Chauvon beispielsweise die Harmonielehre von Jean-Philippe Rameau vorweg und damit in Teilen auch dessen expressive Klangsprache – allerdings in einem deutlich bescheideneren Rahmen. Der höfische Tanz, der in seiner Form bis zum Tode von Ludwig XIV. zwei Jahre zuvor immer mehr als Korsett wahrgenommen wurde, bricht hier in einen eher pantomimischen Ausdruck auf. So sind die Tanzsätze bei Chauvon in den Bewegungen recht ausgreifend und lautmalerisch. Einigen Suiten ist noch eine so genannte Réflexion beigefügt, die den Aspekten der Aufklärung und des persönlichen, besonnenen Ausdrucks Raum verleiht. Dem Blick auf das Individuum kommt – trotz der typischen Suitenform – eine ganz neue Bedeutung zu.

Allgemein ist es sehr aufschlussreich, wie im Zeitalter der Aufklärung mit ihrer Fokussierung auf Zukünftiges umso mehr auch die Vergangenheit entdeckt wird und man beginnt, das Seelenleben, die Diskrepanz eines Innen und eines Außen, als künstlerischen Kern wahrzunehmen. In der griechischen Mythologie, der im Barock eine besondere Bedeutung zukommt, wird beispielsweise eine unglückliche Verwobenheit von Liebe und Ablehnung in beeindruckender Weise in der Figur des Hirtengottes Pan gespiegelt. Sein Übergriff auf die von ihm geliebte Nymphe Syrinx führt dazu, dass sie sich in ein Schilfrohr verwandelt, aus dem sich Pan eine Flöte baut und darauf seine Trauer zum Ausdruck bringt. Eines der grundlegenden Dilemmata der Menschheit wird hier in seiner Komplexität auf ein einfaches Bild reduziert – Innen und Außen sind untrennbar miteinander verwoben. Im antiken Mythos ist das Spiel der Flöte und im weiteren Sinne aller Holzblasinstrumente mit starker Symbolik aufgeladen – dem Seelenspiel im Hinblick auf Tod und Vergänglichkeit, aber auch auf Ausweglosigkeit. Von den Komponisten des Barocks wird das gerne aufgegriffen.

Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein verstehen sich Flötisten als Nachfahren der ersten, mythischen Flötenspieler. So beginnt beispielsweise die Flötenschule von Johann Georg Wunderlich 1804 mit den poetischen Worten: Die Erfindung der Flöte verliert sich in der Kindheit der Welt. Und mit Flöte meint auch er hier noch Holzblasinstrumente in ihrer Gesamtheit. Heute wissen wir mit großer Sicherheit, dass dem tatsächlich so ist: Die ersten musikalischen Ausdrucksmittel des Menschen nach der Verwendung der Stimme waren die Flöten.

Das heutige Konzertprogramm stellt in unterschiedlichsten Kammermusikwerken die Holzblasinstrumente in den Mittelpunkt und beleuchtet ihre idiomatischen Klangwelten, die sich ab etwa 1680 besonders durch die Instrumentenmacher-Familie Hotteterre in Paris völlig neu entfalteten. Als Solo-Instrumente erlangten sie nun europaweit wieder größere Bedeutung.

Etwa ein halbes Jahrhundert vor François Chauvon wurden nicht weit voneinander entfernt James Paisible und Marin Marais geboren. Noch als Jacques Paisible kam der Spross einer französischen Hofmusikerfamilie als 17-Jähriger nach London, wo er sich als angesehener Blockflötist allmählich dem virtuoseren italienischen Stil zuwandte. Marais, der Sohn eines Pariser Schusters, fand als Chorknabe der Hofkirche Saint-Germain-l’Auxerrois den Weg zur Musik. Man entdeckte sein Talent auf der Gambe, und als Meisterschüler der berühmten Gambisten Nicolas Hotman und Monsieur de Sainte-Colombe stieg er selbst zu einem der führenden Musiker unter Ludwig XIV. auf. Ein tänzerisch-eleganter Hofstil prägt seine Kompositionen.

Der venezianische Meistergeiger Antonio Vivaldi und der preußische Hofkontrabassist Johann Gottlieb Janitsch legten ihre Kompositionskunst nicht zuletzt in der satztechnisch anspruchsvollen Form des Instrumentalquartetts an den Tag. Vivaldi hat da ein veritables Kammerkonzert für drei Melodieinstrumente und Basso continuo mit allen emotionalen Höhen und Tiefen komponiert. Warum Janitsch in seine empfindsamen Töne die Choralmelodie O Haupt voll Blut und Wunden webt, erklärt er in einer lateinischen Bemerkung auf dem Titelblatt seines Notenmanuskripts: Komponiert sei dieses Quadro in Erinnerung an den geliebten Sohn an dessen Sterbetag.

Die Auswahl der Vokalmusik beleuchtet wiederum die Welten, die die Seele zu begreifen sucht: Liebe, (Selbst-)Erkenntnis, Trauer, Schmerz und Vertrauen, aber auch Dankbarkeit, Glanz und Erlösung. Johann Christoph Pepusch, Sohn eines Berliner Pfarrers und seit 1704 als Musiker in London ansässig, stellt in einer seiner englischen Solokantaten nach italienischem Muster den einsamen Schäfer Corydon vor. Gleich dem Hirtengott Pan spielt er auf seiner Flöte und wird schließlich, vom Echo seiner Musik gebannt, zur leichten Beute für die Liebespfeile Amors.

Die barocke Arienkunst mit ihrem Ineinandergreifen von Singstimme, Soloinstrumenten und Generalbass entfaltete auch im geistlichen Bereich ihre bewegende Wirkung. Georg Philipp Telemann legte als Hamburger Musikdirektor unter dem Titel Harmonischer Gottesdienst gleich zwei Zyklen kleinbesetzter Andachtsmusiken für ein ganzes Kirchenjahr vor. Und ebenso fand sein Freund und Kollege Johann Sebastian Bach damals als Leipziger Thomaskantor zu tiefer Innigkeit und Emphase. Da spielt er in einer Kantate aus dem Herbst 1724 in der Kombination von Tenorstimme und Traversflöte mit den Kontrasten von Verzagtheit und Hoffnung. Einen melancholisch-abgeklärten Blick ins Jenseits richtet schließlich die Arie aus der Trauermusik von 1727 für die sächsische Kurfürstin Christiane Eberhardine in ihrer geradezu sphärischen Klangkombination aus erlesenen Bläser- und Saiteninstrumenten.

Leonard Schelb / behe

Mitwirkende

Georg Poplutz – Tenor Ensemble Klangschmelze Ltg. Leonard Schelb – Flöten Heute spielt das Ensemble in folgender Besetzung: Leonard Schelb – Blockflöte, Traversflöte | Clara Blessing – Oboe Florian Deuter – Violine, Viola | Lorena Padrón Ortiz – Violine Chia-Hua Chiang – Viola da gamba, Violoncello Michael Dücker – Lauteninstrumente | Ricardo Magnus – Cembalo, Orgel