2022/2023: Konzert 5

Sonntag, 29. Januar 2023 Trinitatiskirche 17 Uhr

Legrenzi in Ferrara

Geistliche Musik von Giovanni Legrenzi für Singstimmen und Basso continuo aus den Compiete con Lettanie et Antifone della Beata Vergine op. 7 Ensemble Polyharmonique Ensemble Polyharmonique Sendung auf WDR 3 am 09.02.2023 ab 20.04 Uhr

Fünfzehn Jahre lang gastierte Giovanni Legrenzi aus Bergamo als musikalischer Leiter in verschiedenen kulturellen Zentren Oberitaliens, bevor er sich 1670 in Venedig niederließ und später noch Kapellmeister am Markusdom wurde. Die internationale Reputation auch als Lehrer verdankte er nicht zuletzt seiner im Druck erschienenen Kirchenmusik. Mit den geistlichen Werken, die Legrenzi schon 1662 an der Spitze einer musikalischen Bruderschaft in Ferrara vorlegte, stellt das Ensemble Polyharmonique hochbarock-dramatische Kompositionen vor. Wer sie hört, versteht sofort, warum der Maestro im gleichen Jahr auch an der Oper erfolgreich war.

Programmfolge

Giovanni Legrenzi (1626–1690) Geistliche Vokalkonzerte für Sopran, Alt, 2 Tenöre, Bass und Basso continuo aus Compiete con Lettanie et Antifone della Beata Vergine, op. 7, Venedig 1662 Jube Domine. Liturgisches Gebet (Tenor und Basso continuo) Ecce nunc benedicite. Psalm 133 Qui habitat in adiutorio altissimi. Psalm 90 Te lucis ante terminum. Hymnus Confiteor Deo omnipotenti. Liturgisches Gebet (Sopran und Basso continuo) Sonata La Donata für Harfe, Dulzian und Basso continuo aus Sonate a duo, e tre, op. 2, Venedig 1655 Ave Regina caelorum. Marianische Antiphon O quam bonum. Geistliches Konzert (Alt, Bass und Basso continuo)   aus Sentimenti devoti, op. 6, Venedig 1660 Alma Redemptoris Mater. Marianische Antiphon (2 Tenöre und Basso continuo)   aus Sentimenti devoti, op. 6, Venedig 1660 Cum invocarem exaudiat me Deus. Psalm 4 Sonata La Colloreta für Harfe, Theorbe und Basso continuo aus Sonate a duo, e tre, op. 2, Venedig 1655 Salve Regina. Marianische Antiphon In te Domine speravi. Psalm 31 Salva nos Domine. Gregorianischer Gebetsgesang Nunc dimittis servum tuum Domine. Lobgesang des Simeon In manus tuas Domine. Responsorium Letanie della Beata Vergine. Lauretanische Litanei

Glutvolles Nachtgebet

Anfang des 17. Jahrhunderts begann in Norditalien die Modernisierung der europäischen Musik: Eine neue Klangästhetik machte die vorhandene komplexe Mehrstimmigkeit obsolet, transparente Melodien, vom Basso continuo mit Akkordinstrumenten begleitet, wurden zum Ideal erhoben. Dank der Reduzierung der Stimmen ergab sich viel Freiraum für Textausdruck und Wortmalerei: Worte und Musik wurden erstmals sehr eng koordiniert. Vor diesem Hintergrund vollzog sich dann auch die Geburt der Gattung Oper, aber ebenso profitierte die Kirchenmusik von dieser neuen Verbindung.

Allmählich kam der Gedanke in Mode, dass nicht nur der Text die religiöse Botschaft vermitteln sollte, sondern die Musik selbst religiöse Botschaft sei. Dabei wurde sie als eine Form der Rhetorik verstanden: Durch bestimmte melodische oder rhythmische Formeln, harmonische Wendungen oder Kombinationen von Instrumenten kann die Musik bei den Zuhörenden bestimmte Gefühle oder Affekte hervorrufen. Befürworter dieses neuen ästhetischen Ideals erklärten, dass Musik auf drei Prinzipien aufgebaut sein sollte: il concetto (das Konzept), le passioni (die Leidenschaften) und gli affetti (die Emotionen). Der in Mantua und Venedig wirkende Komponist Claudio Monteverdi verfocht diese moderne Theorie leidenschaftlich und setzte sie konsequent in die Praxis um. Sowohl seine Opern als auch seine kirchenmusikalischen Werke sind von diesem ausdrucksstarken Ideal durchdrungen und markieren damit den Beginn des Barockzeitalters in der Musik.

In vielerlei Hinsicht war Giovanni Legrenzi ein treuer Anhänger Monteverdis. Wie sein großes Vorbild erwies er sich als eine ehrgeizige Figur, die es schaffte, Kapellmeister an der Markuskirche in Venedig zu werden, die für ihre exquisite Cappella Marciana berühmt war. Vor dem begehrten Posten in Venedig bewältigte Legrenzi einen beeindruckenden Parcours durch Norditalien: 1626 nahe Bergamo geboren, war er der dortigen Basilika Santa Maria Maggiore seit 1651 verbunden und bis 1656 als ihr Kapellmeister für die Bereitstellung von liturgischer Musik verantwortlich. In den folgenden fünfzehn Jahren hielt sich Legrenzi in fast allen kulturellen Zentren Norditaliens auf (Ferrara, Mantua, Bologna und Mailand), um dann 1670 endlich Venedig zu erreichen, die musikalische Hauptstadt Italiens im 17. Jahrhundert. Doch erst 15 Jahre später wurde er als dritter Nachfolger Monteverdis zum Kapellmeister von San Marco ernannt.

Obwohl Legrenzi heute vor allem als Komponist von Instrumentalsonaten und Opern bekannt ist, schrieb er doch hauptsächlich Kirchenmusik, die von einem Hang zur barocken Dramatik geprägt ist. Ihre Tonsprache kündigt die letzte Phase in der Entwicklung der italienischen Barockmusik an. Den von Monteverdi hervorgebrachen Stil finden wir hier Jahrzehnte später in einer fortgeschrittenen und fast standardisierten Form, in üppigen Melodien, versehen mit verspielten Wortmalereien, in ihrem Ausdruck nicht weniger kraftvoll klingend als Opernarien.

Die Compiete con Lettanie et Antifone della Beata Vergine, sein Opus 7, widmete Legrenzi dem Marquis Ippolito Bentivoglio in Ferrara, von dem er auch mehrere Opernlibretti vertonte. Die Sammlung besteht aus Vokalkonzerten und Motetten, die vornehmlich für fünf Stimmen und Basso continuo gesetzt und für die Komplet konzipiert sind, das Nachtgebet im letzten Stundengottesdienst des Tages. Ähnlich wie in den Gesängen zu den abendlichen Vespergottesdiensten, die von den Komponisten des 17. Jahrhunderts ungleich häufiger vertont wurden, bildet auch hier eine Folge von Psalmen das Gerüst. Umrahmt werden sie von liturgischen Gebetsformeln, einem Hymnus, dem Gesang des Simeon Nunc dimittis aus dem Neuen Testament und einer jeweils an der Zeit des Kirchenjahres ausgerichteten Marianischen Antiphon. Legrenzi hat diese Stücke zur Komplet noch um eine Vertonung der Lauretanischen Litanei ergänzt, die nach dem italienischen Wallfahrtsort Loreto benannt ist und in ihren Gebetanrufungen die Gottesmutter Maria ins Zentrum stellt.

Das Opus 7 des Giovanni Legrenzi zeichnet sich durch eine meisterhafte Textbehandlung aus. Jeder melodische oder rhythmische Kontrast und jede Dissonanz beziehen sich direkt auf die Textaussage. Die Palette reicht von großer Demut bis hin zu ausgelassener Feierlichkeit. Der ausgeprägt melodische Charakter übersetzt sich insbesondere in langen Melismen und umfangreichen Verzierungen. Polyphone Passagen sind sehr transparent durchhörbar, und die fünfstimmige Vokalbesetzung mit Sopran, Alt, zwei Tenören und einem Bass ermöglicht einen dichten Satz, der intuitiv auch in dunklen Farben der Stimmung eines Nachtgebets nachspürt. Die fröhlichen Vertonungen der marianischen Antiphonen strahlen Vitalität aus und ehren die Mutter Gottes auf einem sehr ausdrucksstarken, oft überschwänglichen Niveau. Die instrumentale Continuo-Stimme ist elegant und stilvoll geführt und dekoriert den Text ohne unnötige Zutaten. Kurzum: eine Musik, die ihrem Ansinnen mehr als gerecht wird.

Das Ensemble Polyharmonique möchte aus der musikalischen Glut dieser intimen Kompositionen ein wärmendes Feuer entfachen, das die Klarheit der Harmonie und die subtile Tonsprache von Giovanni Legrenzi in mannigfaltigen Farben leuchten lässt. Ergänzt wird das Programm dabei durch je zwei Werke aus einem Sonaten-Druck, den Legrenzi 1655 noch von Bologna aus veröffentlichte, und aus seinen Geistlichen Konzerten, die zwei Jahre vor den Compiete con Lettanie erschienen.

Alexander Schneider

Mitwirkende

Ensemble Polyharmonique Heute musiziert das Ensemble Polyharmonique in folgender Besetzung: Joowon Chung – Sopran Alexander Schneider – Alt & Primus inter pares Thomas Köll, Christopher Renz – Tenor Matthias Lutze – Bass Luise Manske – Dulzian Andreas Küppers – Orgel Johannes Ötzbrugger – Theorbe Vincent Kibildis – Harfe