2023/2024: Konzert 3

Sonntag, 19. November 2023 Museum für Angewandte Kunst 17 Uhr

Pour passer la mélancolie

Musik von Johann Jacob Froberger, Henry d’Anglebert, Louis Couperin, Georg Muffat u.a. Andreas Staier – Cembalo Andreas Staier Sendung auf WDR 3 am 22.12.2023 ab 20.04 Uhr

Die Melancholie gilt als Inbegriff sensibler Befindlichkeiten im England des Elisabethanischen Zeitalters. Sie blieb auch andernorts – nicht zuletzt in Frankreich – in der Musik des 17. Jahrhunderts eine bestimmende Größe im Diskurs über die Vergänglichkeit. Andreas Staier spürt ihr in Tastenwerken von Cembalomeistern wie Johann Jacob Froberger, Henry d’Anglebert und Louis Couperin nach.

Programmfolge

Johann Jacob Froberger (1616‒1667) Suite a-Moll (1651) Plainte faite à Londres pour passer la Mélancholie, laquelle se joüe lentement et à discrétion ‒ Courante ‒ Sarabande ‒ Gigue Jean-Henry d’Anglebert (1629‒1691) Fugue grave pour l’Orgue. Fort lentement aus den Pièces de Clavecin, Livre premier (Paris 1689) Johann Caspar Ferdinand Fischer (1656‒1746) Toccata ‒ Passacaglia aus Musicalischer Parnassus (Augsburg um 1700) Louis Couperin (um 1626‒1661) Suite F-Dur Prélude ‒ Allemande grave ‒ Courante ‒ Sarabande ‒ Chaconne ‒ Tombeau de Mr. de Blancrocher Pause Jean-Henry d’Anglebert Prélude d-Moll ‒ Tombeau de Mr. de Chambonnières. Fort lentement ‒ Chaconne en Rondeau aus den Pièces de Clavecin, Livre premier Johann Caspar Ferdinand Fischer Ricercar pro Tempore Quadragesimae super Initium Cantilenae „Da Jesus an dem Creutze stund“ aus Ariadne Musica (Schlackenwerth 1702) Louis-Nicolas Clérambault (1676‒1749) Suite c-Moll aus dem 1er Livre de Pièces de Clavecin (Paris 1704) Prélude. Fort tendrement ‒ Allemande. Lentement ‒ Courante ‒ Sarabande. Grave ‒ Gigue. Vite Georg Muffat (1653‒1704) Passacaglia g-Moll aus Apparatus Musico-Organisticus (Salzburg 1690)

Vergänglichkeit in Töne gefasst

Warum sind alle hervorragenden Männer, ob Philosophen, Staatsmänner, Dichter oder Künstler, offenbar Melancholiker gewesen?“ Mit dieser Frage beginnt ein Aristoteles zugeschriebener Traktat. Die Lehre von den vier Temperamenten assoziiert den Melancholiker mit höchst unterschiedlichen Phänomenen: dem Planeten Saturn, dem Herbst - auch dem des Lebens -, der Dämmerung, der Kälte, dem Geiz, aber auch dem Genie, der Geometrie und dem grüblerischen Tiefsinn. In größter motivischer Verdichtung fasst Albrecht Dürer diese Vielfalt in seinem berühmten, rätselhaften Stich Melencolia I von 1514 zusammen.

Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden.“ Die Eröffnungszeile des bekannten Gedichtes von Andreas Gryphius kann als Motto gelten für eine spezifisch barocke Interpretation des Melancholie-Themas. Vanitas-Darstellungen gehören zu den Lieblingsthemen der Maler: Eine blühende junge Frau betrachtet mit gesenktem Haupt eine verglimmende Kerze (Georges de La Tour), eine andere hält einen Totenschädel in ihren Händen, über den sie einsam versunken meditiert. Ihr Gesicht liegt im Schatten, im Hintergrund ist eine Ruinenlandschaft zu erkennen. (Domenico Fetti).

Mein Programm widmet sich den musikalischen Umsetzungen der Vanitas im Frankreich und Deutschland des 17. Jahrhunderts. Das Tombeau (Grabmal) und die Plainte (Klage) sind typische Gattungen der französischen Lautenmusik, die Eingang ins Repertoire der Cembalisten fanden. Der arpeggierte style brisé der Lautenisten wurde durch Jacques Champion de Chambonnières und Louis Couperin auf das Cembalo übertragen. Das sanfte Brechen der Akkorde, das Innehalten, Zögern, Untertauchen der Melodie standen von vornherein der Affektlage des Lamentos nahe. Der Stillstand, das Aussetzen der rhythmischen Kontinuität, des Pulses, rücken diese Musik schon satztechnisch in die Nähe des memento mori. Meditative Räume öffnen sich, die Stille, Leere oder Einsamkeit symbolisieren; Sterbeglocken läuten. Umgekehrt stehen regelmäßige Abläufe oft für das Vergehen der Zeit, das Fließen und Verrinnen des Wassers wie des Lebens oder für den feierlichen Schritt eines Begräbniszuges.

Der Topos der Dämmerung und Dunkelheit findet musikalische Entsprechungen in absteigenden melodischen Linien oder der Bevorzugung von chromatisch eingetrübten tiefen Lagen. Schließlich können die Ostinato-Konzeptionen mancher Chaconnen und Passcaglien ohne Weiteres als Sinnbilder unentrinnbarer Schicksalhaftigkeit gehört werden. Und schon der einzelne Cembalo-Ton kann in seinem Verklingen an die Vergänglichkeit alles Irdischen gemahnen. Daran erinnert der Antwerpener Cembalobauer Andreas Ruckers, wenn er mehrere seiner Instrumente mit der Inschrift versieht: „Sic transit gloria mundi“.

Andreas Staier

Nach melancholischen Momenten muss man in der Musik von Johann Jacob Froberger nicht lange suchen. Mitunter weisen schon die Titel, die er einzelnen Fantasien voranstellt, den Weg, am deutlichsten in jenem clavieristischen Klagegesang, den er in London als Mittel gegen die Melancholie niederschrieb. Langsam sei diese Plainte zu spielen und mit Bedacht - was der Komponist laut Aussage seiner langjährigen Gönnerin Sibylla von Württemberg-Montbéliard so recht niemand anderem zutraute als sich selbst. So blieben diese intimen Werke des weitgereisten kaiserlichen Kammerorganisten auch Manuskript.

Dass der 35-jährige Froberger diese Plainte in London schrieb, das seinerzeit auch als Hauptstadt der Melancholie galt, mag unmittelbar einleuchten. Er befand sich damals aber auch in einer höchst misslichen Lage, da er auf der Überfahrt von Calais in die Hände von Seeräubern geraten und seiner vornehmen Kleidung beraubt im Räuber-Zivil in London eingetroffen war. Diese Plainte ist die gewichtige Einleitung zu einer Suite, deren feste Tanzsatzfolge auch zur Stabilisierung der Stimmung ihres Interpreten beigetragen haben mag.

Beim römischen Tastengenie Girolamo Frescobaldi war Froberger zuvor in die Lehre gegangen. Seinen exquisiten Stil verfeinerte er womöglich noch im fruchtbaren künstlerischen Austausch mit den Instrumentalvirtuosen aus dem Umfeld des französischen Hofes - darunter Louis Couperin und Jean-Henry d’Anglebert, den lernbegierigen Adepten des tonangebenden Cembalisten Jacques Champion de Chambonnières. Dass auch der Lautenist Charles Fleury alias Blancrocher zu diesem illustren Kreis gehörte, belegen die Tombeaus, die ihm sowohl Froberger als auch Couperin nach seinem tödlichen Treppensturz zudachten. Unter den Cembalo-Piecen von d’Anglebert findet sich wiederum ein Tombeau auf Chambonnières.

Der hoch elaborierte Tastenstil dieser Pariser Clavecinisten-Schule wirkte weit ins 18. Jahrhundert hinein. Traurig-schöne Beispiele dafür sind die elegischen Sätze in der c-Moll-Suite von Louis-Nicolas Clérambault, der sich zeitgleich auch als französischer Parteigänger der italienischen Solokantate profilierte.

Obwohl er sich als Orchesterkomponist mit dem französischen Stil von Jean-Baptiste Lully, dem Oberkapellmeister des Sonnenkönigs, vollkommen vertraut zeigt, legt der markgräflich- badische Kapellmeister Johann Caspar Ferdinand Fischer in den Tastenwerken des heutigen Programms einem bodenständigeren Zugriff auf die kontrapunktische Satzkunst an den Tag. Da kann dann auch einmal ein alter Passionschoral zum Gegenstand eines melancholischen Ricercars werden.

Georg Muffat, der 1690 gerade vor dem Wechsel aus vermeintlich intriganten Salzburger Hofmusiker-Kreisen in das Kapellmeisteramt am Passauer Hof stand, konnte in seiner g-Moll-Passacaglia mit einem ähnlichen Erfahrungsreichtum aufwarten wie vier Jahrzehnte zuvor Froberger: Auch er hatte seine musikalische Kunst in Paris wie in Rom entwickeln können.

behe

Musiker und Instrument

Andreas Staier – Cembalo

Im heutigen Konzert spielt Andreas Staier den Nachbau eines französischen Cembalos nach Pierre Donzelague (Lyon 1711), gefertigt von Detmar Hungerberg (Hückeswagen 1996).