2023/2024: Konzert 6

Sonntag, 25. Februar 2024 Trinitatiskirche 17 Uhr

Leichtgesinnte Flattergeister

Leipziger Kirchenkantaten von Johann Sebastian Bach aus den ersten Wochen des Jahres 1724 Rheinische Kantorei | Das Kleine Konzert Ltg. Hermann Max Hermann Max Sendung auf WDR 3 am 21. März 2024 ab 20.04 Uhr

Mit der Berufung ins Leipziger Thomaskantorat im Frühjahr 1723 brach für Johann Sebastian Bach eine neue Phase seiner künstlerischen Karriere an, die zunächst einmal nahezu jede Woche die Komposition einer Kirchenkantate mit sich brachte. Auch heute noch kann man nur staunen, mit welchem Elan und Ideenreichtum der neue Kantor da ans Werk ging. Hermann Max und seine Ensembles Rheinische Kantorei und Das Kleine Konzert führen das genau 300 Jahre später in einer Auswahl von Kantaten aus der Epiphanias-Zeit des Jahres 1724 vor.

Programmfolge

Johann Sebastian Bach (1685–1750) Herr, wie du willt, so schicks mit mir BWV 73 Kantate zum 3. Sonntag nach Epiphanias (23. Januar 1724) für Sopran, Alt, Tenor, Bass, Horn, 2 Oboen, Streicher und Basso continuo Jesus schläft, was soll ich hoffen? BWV 81 Kantate zum 4. Sonntag nach Epiphanias (30. Januar 1724) für Sopran, Alt, Tenor, Bass, 2 Blockflöten, 2 Oboen d‘amore, Streicher und Basso continuo Nimm, was dein ist, und gehe hin BWV 144 Kantate zum Sonntag Septuagesimae (6. Februar 1724) für Sopran, Alt, Tenor, Bass, 2 Oboen (d’amore), Streicher und Basso continuo Leichtgesinnte Flattergeister BWV 181 Kantate zum Sonntag Sexagesimae (13. Februar 1724) für Sopran, Alt, Tenor, Bass, Trompete, Traversflöte, Oboe, Streicher und Basso continuo

Bach in Leipzig – Neue Maßstäbe

Die Messe-Stadt Leipzig ist zur Zeit Johann Sebastian Bachs einer der modernsten Orte in Europa. Internationales Publikum bringt neuestes Gedankengut in die Stadt. Die überregionale Presse erfreut sich reger Nachfrage. Bis zu Bachs Tod wird die Stadt im Sinne der Aufklärung rasch fortschrittlich. Der Philosoph Christian Thomasius konnte in der Mitte des 18. Jahrhunderts als Professor in seine Stadt zurückkehren, nachdem er 30 Jahre zuvor bei Nacht und Nebel hatte fliehen müssen, um sein Leben zu retten. Er hatte nämlich aufklärerisches Gedankengut verbreitet, wonach ihm der Tod am Strang drohte. 1750 ist das nicht mehr denkbar.

Nach seinem Amtsantritt als Thomaskantor im Mai 1723 soll Bach in Leipzig die Kantaten-Aufführungen modernisieren, eine neue Kantaten-Typologie mit seiner „Handschrift“ finden und so die Gattung über ihre bisherigen Formen hinaus verändern. Deshalb stellt er zunächst eigene Werke in den Vordergrund, wie er sie bis zum Wechsel nach Leipzig in Arnstadt, Mühlhausen, Weimar und Köthen hatte entwickeln können und jetzt bei der Wiederverwendung nur überarbeiten muss. In Leipzig erwarten Rat, Thomasschule und sicher auch die Universität einen Neuanfang im Kantatenschaffen.

Bach verwendet nun moderne Instrumente wie Oboe d’amore/da caccia und Traversflöte. Auch fordert er mehr Virtuosität von Sängern wie Instrumentalisten. Er experimentiert mit Satztypen, indem er in Rezitative kurze Ariosi einbaut oder in Arien wie Chöre Rezitativisches einfügt. Seine Neigung zu deutlicher Formulierung von musikalischen Bildern entwickelt er weiter. Mit all dem setzt er neue Maßstäbe. Um diese Maßstäbe wirken zu lassen, nimmt er in Leipzig Verbesserungen im Gesangsunterricht, den Lehrmethoden und der Probenarbeit vor. Das alles mag ein mutiger wie wirkstarker Schritt in Richtung „autonomer Komponist“ sein, der über die Gegebenheiten seiner Zeit hinaus eigenen Ideen folgt wie Thomasius. Vielfach wirkt Bach, als habe er keine Epochenzugehörigkeit mehr.

Bei heutigen Aufführungen älterer Musik stellt sich mitunter die Frage, ob Tempi strikt gehalten oder mit agogischen Freiheiten zu variieren sind. Wir wissen nicht, wie Bach im Laufe seines gesamten Lebens über Agogik gedacht hat. Es gibt zahlreiche Äußerungen von seinen Zeitgenossen und Schülern über das Bewundernswerte seiner Vortragskunst, doch keine einzige präzise Beschreibung dessen, was er tatsächlich gemacht hat.

Im Bach-Schrifttum fehlen Untersuchungen darüber, wie deutlich die Zuhörer zu Bachs Zeit den gesungenen Text - er lag vielfach gedruckt vor, aber nicht alle konnten lesen - akustisch wie inhaltlich verstanden haben. Abschweifende Gedanken der Hörer sind eine Art Universalerbe in der Musikgeschichte: Dagegen könnte Bach mit seinen Besonderheiten gearbeitet haben.

Sara Levy (1761-1854) ist als eine Art „missing“ link zwischen Bach und der Generation seiner „Wiederentdecker“ denkbar - also den Mendelssohns, Schumanns, Johannes Brahms mit Joseph Joachim und letztendlich der heutigen Generation. Was noch immer fehlt, sind eindeutige Hinweise auf Agogik und Bildlichkeit bei Bach. Wäre doch überliefert, was Sara Levy erzählt hat! Sie, die Schwester der Großmutter von Fanny und Felix Mendelssohn, hatte Cembalo-Unterricht bei Wilhelm Friedemann und Carl Philipp Emanuel Bach. In diesem Unterricht wird sie erfahren haben, wie deren Vater sich die Wiedergabe seiner Werke gedacht hat, und sie dürfte diese authentischen Informationen an die Mendelssohn-Geschwister und durch sie an die Schumanns und Brahms/Joachim weitergegeben haben. In einem Brief an Felix Mendelssohn schreibt Clara Schumann, dass sie nun, nachdem sie eine Fuge im Wohltemperierten Klavier mit ihm durchgegangen sei, wisse, wie diese Werke zu spielen seien.

Das ist alles, was sie schreibt, und wieder wissen wir nichts. Viel Agogik? Bewegte Darstellung von „Bildern“ in seinen Werken? Nichts. Immerhin gab es zu Bachs Zeit etwa 100 bildlich-rhetorische Figuren als Erzählschlüssel und -hilfe. Clara soll immer mit Metronom geübt haben. Hat Mendelssohn sie eines Besseren belehrt? Bei all den Unklarheiten kommt man wieder zur Vermutung, dass es zu allen Zeiten Agogikphobe (Clara Schumann?) gab und Agogikphile (Brahms, der angeblich nicht mehr im Takt spielen konnte).

Der Kosmos menschlicher Emotionen hat sich im Laufe zurückliegender Epochen aber so gut wie nicht verändert. 1724 wurde alles zwischen Leid und Freude „empfunden“ wie 2024. Letztlich geht es darum, Bachs Werke so darzustellen, dass sie nicht nur als große Musik wahrgenommen werden, sondern ihre ursprünglichen emotionalen Inhalte für ein heutiges Publikum durch sinnvolle Übertreibung deutlich erkennbar sind. In barockem Sinne.

Hermann Max

Reichlich Erfahrung hatte Johann Sebastian Bach während der ersten sieben Monate als neuer Thomaskantor mit den Aufführungen vokal-instrumentaler Predigtmusiken in den Leipziger Hauptkirchen St. Nikolai und St. Thomae gesammelt, als er sich im Januar 1724 an die Komposition der entsprechenden Werke für die Sonntage nach dem Epiphaniasfest setzte. 300 Jahre ist das jetzt her. Wir wissen nicht, ob er für die Kantatentexte schon einen festen Autor gefunden hatte. Jedenfalls stellt sich die Form seiner Textvorlagen im ersten Leipziger Amtsjahr alles andere als einheitlich dar, entsprechend abwechslungsreich fielen die Vertonungen aus.

Vor allem hatte Bach in den vergangenen Monaten einige der Ratsmusiker besonders schätzen gelernt, die ihm neben den musiktalentierten jungen Stipendiaten aus dem Internat der Thomasschule und einigen Studenten für die Kantatenaufführungen zur Verfügung standen. Darunter der Leiter der Stadtpfeifer, Gottfried Reiche, für den Bach immer wieder markante Trompeten- oder Hornpartien ersann, und dessen Kollegen Johann Caspar Gleditsch und Johann Gottfried Kornagel als Oboisten, die bedarfsweise auch zu den Blockflöten griffen. Gerade die Farben der Oboeninstrumente, nicht zuletzt ihre eigenständigen Solo- oder Duo-Partien in vielen Arien, prägen Bachs Leipziger Kirchenmusik in besonderer Weise.

Die girlandenartig parallelgeführten Oboen bestimmen zunächst auch den komplex gestalteten Choralchor zu Beginn der Kantate Herr, wie du willt, so schicks mit mir. Doch dann gewinnt ein prägnantes Terzmotiv an Bedeutung, das schon im Instrumentalvorspiel deutlich vom Horn herausgestellt wird. Aus den ersten Tönen der Choralmelodie abgeleitet, wandert es als Motto durch die Stimmen: „Herr, wie du willt“. Es durchzieht als instrumentale Begleitung sogar die rezitativischen Exkurse von Tenor, Bass und Sopran innerhalb des Chorsatzes. Nach der Tenor-Arie, die Jesus als Hoffnung der Glaubensschwachen anspricht, lenkt der Solo-Bass in einer musikalisch eng verzahnten Folge von Rezitativ und Arie den Blick auf das Jenseits. Die im Text erwähnten Sterbeglocken klingen dabei in den Streicher-Pizzicati an. Außerdem greift Bach in der Arie die Idee der devisenartigen Wiederholung noch einmal auf, jetzt abgewandelt in das konditionale „Herr, so du willt“. Den vierstimmigen Schlusschoral bereichern eigenwillige Linienführungen in den Unterstimmen auch im Hinblick auf die Harmonie.

Der Kantor habe „solche Compositiones zu machen, die nicht theatralisch wären“, hatte einer der Leipziger Ratsherren im Berufungsverfahren 1723 zu Protokoll gegeben. Darüber hat sich Bach in der Kantate Jesus schläft, was soll ich hoffen geflissentlich hinweggesetzt. Sie paraphrasiert in verteilten Rollen jene Schilderung aus dem Matthäus-Evangelium, nach der Jesus auf dem See Genezareth in einem Schiff schläft, bis ihn die ängstlichen Jünger im aufziehenden Sturm wecken. Verlassenheit ohne jede Hoffnung bestimmt das eröffnende Alt-Lamento in der Ruhe vor dem Sturm zum Klageton der Blockflöten. Das Unwetter entlädt sich in den furiosen Streicherkaskaden und Linienführungen der Tenorstimme in der nächsten Arie. Darauf reagiert der Bass als Stimme Jesu in einem generalbassbegleiteten Arioso, das sich auf eine kurze rhetorische Frage beschränkt - „Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam?“ Bach formt daraus ein wahres Kabinettstück musikalischer Rhetorik. In der anschließenden Arie mit ihrem aufwallenden und wieder abebbenden Streichersatz besänftigt Jesus die Unbilden der Natur - wie ein hoffnungsvoller Silberstreif am Horizont erscheinen die Klangfarben der beiden Oboen d’amore. Die zweite Strophe des Chorals „Jesu, meine Freude“ fasst die religiöse Aussage dieser aufwühlenden Kantatenmusik noch einmal im schlichten Kantionalsatz zusammen, der seinerzeit die Leipziger Gemeinde wieder an musikalisch vertrautere Gestade führte.

Der Schlusssentenz aus Jesu Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg ist der kurze Satz entnommen, mit dem Bach die Kantate Nimm was dein ist, und gehe hin nach alter Motettenart „a cappella“ eröffnet. Da verzichtet er also auf eigenständige Instrumentalpartien mit Ausnahme der Generalbassstimme, keineswegs aber auf eine rhythmisch und harmonisch akzentuierte Rhetorik. Diese auch satztechnisch formvollendete Fuge war Friedrich Wilhelm Marpurg, einem der Berliner Musikästheten der nachfolgenden Generation, sogar eine Druckveröffentlichung wert (Bachs Kantaten insgesamt war das erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vergönnt). In der Alt-Arie gleich im Anschluss an den Eingangschor blitzt Bachs Schalk auf, wenn er das Murren über das eigene Geschick ebenso lautmalerisch in der Singstimme auskostet wie in der bebenden Streicherbegleitung. Umso galanter wirkt als Sinnbild der Genügsamkeit die Melodik der zweiten Arie, in der sich Sopran und Oboe d’amore verbinden. Gleich zwei Choralsätze liefern in dieser Kantate wohlvertraute theologische Ankerpunkte.

In der ernst mahnenden Eröffnungsarie der Kantate Leichtgesinnte Flattergeister zeichnet die nervöse, nie zur Ruhe kommende Orchesterbegleitung zweifellos das Bild der Vögel nach, die in Jesu Gleichnis vom Sämann den ausgestreuten Samen aufpicken; das Auftreten des teuflischen Belial begleiten bedrohliche Dissonanzen. Ob Bach hier die Stimme der ersten Violine schon 1724 über weite Strecken durch Holzbläser verdoppeln ließ oder erst bei einer Wiederaufführung Jahre später, lässt sich heute nicht mehr sagen. Bislang hatte der galant-empfindsame Traversflöten-Ton in Bachs Leipziger Ensemble noch gefehlt; bei der Uraufführung seiner Johannes-Passion am Karfreitag, keine acht Wochen später, konnte der Kantor aber auf jeden Fall mit einem Traversflötisten in seinem Kirchenensemble aufwarten. Ähnlich eindringlich wie in der Bass-Arie fällt der Ton in der von Glaubenseifer befeuerten Tenor-Arie aus, zu der Bachs konzertierende Violinstimme leider nicht überliefert ist - heute Abend erklingt ein Rekonstruktionsversuch von Reinhold Kubik in der Bearbeitung von Anne Röhrig. Mit Zuversicht und Trompetenglanz - anno 1724 also dem Auftritt von Gottfried Reiche - überrascht der Schlusschor. Sein hymnischer Ton und seine Da-capo-Form deuten an, dass Bach hierzu auf Musik zurückgriff, die er schon zuvor als Köthener Hofkapellmeister für einen feierlichen weltlichen Anlass komponiert hatte. Auch die eine und andere Gesangstextkorrektur im originalen Notenmaterial weist darauf hin.

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Mitwirkende

Veronika Winter David Erler Georg Poplutz Matthias Vieweg Rheinische Kantorei Rheinische Kantorei Das Kleine Konzert Ltg. Hermann Max Mit dem heutigen Konzert verabschiedet sich Hermann Max vom Konzertpodium.

Die Rheinische Kantorei und Das Kleine Konzert erhalten im Zeitraum 2020 bis 2022 sowie 2024 bis 2026 im Zuge der Stärkungsinitiative Kultur des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft Nordrhein-Westfalen eine Ensembleförderung.

Im heutigen Konzert treten die Ensembles in folgender Besetzung auf: Anja Bittner, Kathleen Danke, Karin Gyllenhammar, Katja Kunze – Sopran Edzard Burchards, Anne Hartmann, Gudrun Köllner, Dorothee Merkel – Alt Lothar Blum, Maximilian Fieth, Bruno Michalke, Michael Schaffrath – Tenor Ansgar Eimann, Frank Hermans, Carsten Krüger, Paul Lüschen – Bass Stephan Katte – Horn | Gabor Hegyi – Trompete Leonard Schelb – Blockflöte, Traversflöte Hans-Peter Westermann, Annette Spehr – Oboe | Elisabeth Kaufhold – Fagott Anne Röhrig, Ulla Bundies, Marika Apro-Klos, Bettina von Dombois – Violine 1 Cosima Taubert, Hendrike Steinebach, Christine Moran, Horst Peter Steffen – Violine 2 Aino Hildebrandt, Almut Krämer – Viola Marie Deller – Violoncello, Blockflöte | Katharina Holzhey – Violoncello Jörg Lühring – Kontrabass | Johannes Liedbergius – Orgel