2024/2025: Konzert 2
Senza accompagnato
Johann Sebastian Bach: Partita Nr. 2 d-Moll, BWV 1004, und Sonata Nr. 1 g-Moll, BWV 1001, für Violine solo
Unter den Sätzen der berühmten sechs Sonaten und Partiten, die Johann Sebastian Bach
für Violine allein komponierte, ist die Ciaccona
der 2. Partita in d-Moll geradezu
legendär. Die virtuose Kraft einer einzelnen Geige wird hier aufs Äußerste gefordert,
zutage tritt ein Bezug zu den Themen Tod
und Transformation
. Midori Seiler
kombiniert diese Partita nun mit der Sonate in C-Dur, die sich in Bachs Manuskript unmittelbar
anschließt. Dort wirke nun der pure stille Geist der Ewigkeit
.
Programmfolge
Eine ganze Welt auf einem System
Vor allem als Tastenvirtuose war Johann Sebastian Bach schon zu Lebzeiten berühmt. Weniger
bekannt war (und ist) hingegen, dass er gerne auch einmal zur Violine griff: In
seiner Jugend bis zum ziemlich herannahenden Alter spielte er die Violine rein und durchdringend
und hielt dadurch das Orchester in einer größeren Ordnung, als er mit dem Flügel hätte
ausrichten können. Er verstand die Möglichkeiten aller Geigeninstrumente vollkommen.
So berichtet es sein Sohn Carl Philipp Emanuel noch 1774. Schon 1703 hatte Bach als Achtzehnjähriger
am Hof des Herzogs Johann Ernst von Sachsen-Weimar sein geigerisches Können unter Beweis
gestellt, als er dort einige Monate als Musiker angestellt war. Bald lockte aber das
Organistenamt in Arnstadt. Und so kehrte Bach erst 1708 nach Weimar zurück, nun als
Organist und Kammermusiker. 1714 wurde dort dann eigens für ihn das Amt des Konzertmeisters
eingerichtet. 1703 hatte Bach in Weimar noch Johann Paul von Westhoff kennengelernt,
einen herausragenden Geiger. Westhoff hatte damals bereits zwei Bände mit Suiten für
Violine ohne Begleitung veröffentlicht – das war bis dahin eine absolute Rarität
in der Violinliteratur. Bach könnte sich diese innovativen Werke zum Vorbild genommen
haben, als er spätestens während seiner Zeit als Hofkapellmeister in Köthen seit 1717
selbst für Soloinstrumente komponierte. Bis Anfang der 1720er Jahre entstanden sechs
Suiten für Violoncello, eine Partita für Traversflöte und seine Sei Solo â Violino
senza Basso accompagnato. Mit der Reinschrift dieser Violinwerke begann Bach vermutlich
im Frühjahr 1720, als er seinen Fürsten Leopold von Anhalt-Köthen zur Kur nach Karlsbad
begleitete. Zurück in Köthen, erwartete ihn eine schockierende Nachricht: Seine Frau
Maria Barbara war in der Zwischenzeit gestorben und bereits begraben.
Bachs Sei Solo gelten als einzigartige Meisterwerke der Violinkunst. Im korrekten
Italienisch müsste es für die sechs Solostücke eigentlich Sei Soli
heißen.
Offenbaren sich hier Bachs begrenzte Italienischkenntnisse? Oder sollte er tatsächlich
sei solo
gemeint haben – zu Deutsch du bist alleine
? Die Violine erklingt
hier vollkommen unbegleitet. Und Bach stand nach dem Tod seiner Frau in gewisser Weise
erst einmal allein da.
Die Sammlung enthält mit je drei Sonaten und drei Partiten Beispiele für zwei beliebte
Formen der barocken Instrumentalmusik. Dabei orientiert Bach sich zum einen am Modell
der italienischen Sonata da chiesa – der Kirchensonate
– mit ihrer zweifachen
Folge von je einem langsamen und einem schnellen Satz, zum anderen an der typischen Reihung
von Tanzsätzen nach dem Vorbild der französischen Suite. Ob er sich die Sonaten und
Partiten selbst in die Finger geschrieben hat? Denkbar wäre es. Als weitere Kandidaten
kämen der Köthener Hofgeiger Joseph Spieß in Frage und der Konzertmeister am Dresdner
Hof, Johann Georg Pisendel, mit dem Bach befreundet war. Weitere Geiger, nicht zuletzt
aus Bachs Schülerkreis, haben sich die Werke in der Folgezeit abgeschrieben.
Ohne Frage verlangt Bach von den Ausführenden höchste spieltechnische Versiertheit und Virtuosität. Anspruchsvolle Doppelgriffe und Bariolagen sorgen für eine deutliche harmonische Verortung und eröffnen dem Melodieinstrument immer wieder die Möglichkeit zum scheinbaren oder auch zum realen mehrstimmigen Spiel. Das gipfelt in den Fugenkompositionen, die Bach in den drei Sonaten jeweils auf die langsame Einleitung folgen lässt – und in der Ciaccona, mit der er die zweite Partita beschließt.
Diese lange, formsprengende Variationsform über ein vielfach wiederholtes Grundthema
macht die d-Moll-Partita zum Herzstück der ganzen Sammlung
, so beschreibt es Midori
Seiler. Die virtuose Kraft der Violine wird hier vom Komponisten aufs Äußerste gefordert,
und der nahe Bezug zu den Themen Tod
und Transformation
tritt in der Komposition
offen zutage. In der darauffolgenden Sonate in C-Dur seien dann alle Transformationen
vollendet, es wirke hier der pure stille Geist der Ewigkeit
. Deshalb kombiniert
Midori Seiler im heutigen Konzert ebendiese beiden Werke – die zweite Partita und die
dritte Sonata.
Die Partita d-Moll präsentiert zunächst die schon im 17. Jahrhundert zum Standard
gewordene Satzfolge einer Suite mit Allemande, Corrente, Sarabande und Gigue. Bach ergänzt
aber noch die Ciaccona (Chaconne). Sie beruht auf einer stetig wiederkehrenden
Linie von vier abwärts geführten Tönen, die als harmonische Grundlage für 32 anspruchsvolle
Variationen dient. Der bemerkenswerte Satz wurde im 19. Jahrhundert berühmt und auch
isoliert immer wieder bearbeitet, unter anderem von Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert
Schumann und Johannes Brahms. Der brachte in einem Brief an Clara Schumann seine Begeisterung
zum Ausdruck: Die Chaconne ist mir eines der wunderbarsten, unbegreiflichsten Musikstücke.
Auf ein System für ein kleines Instrument schreibt der Mann eine ganze Welt von tiefsten
Gedanken und gewaltigsten Empfindungen.
Die Sonata C-Dur ist ein schönes Beispiel für Bachs individuelle Lesart des italienischen Stils. Er eröffnet sie mit einem von Punktierungen und Doppelgriffen geprägten Adagio, spielt reizvoll mit einer changierenden Harmonik, die bisweilen Takt für Takt in andere Tonarten führt. Herzstück ist hier die Fuge, die zu den längsten zählt, die wir von Bach kennen. Ihr Thema leitet sich bemerkenswerterweise vom Beginn eines Pfingstchorals Martin Luthers ab: Komm, Heiliger Geist, Herre Gott. Wieder stellt Bach dem Hauptthema ein spannungsvolles chromatisches Gegenthema an die Seite. Nach einem filigranen Largo gibt das abschließende Allegro einer quirligen Virtuosität Raum.
Mitwirkende
Emilio Percan