2024/2025: Konzert 5
Vox Naturae
Geistliche und philosophische Klänge aus dem Mittelalter In memoriam Maria Jonas (1957–2024) Candens Lilium: Sabine Lutzenberger | Norbert Rodenkirchen
Bestens vertraut mit dem mittelalterlichen Musikrepertoire und seinem philosophischen Kontext spüren Sabine Lutzenberger und Norbert Rodenkirchen der Stimme der Natur in Werken von Mystikerinnen und Mystikern aus dem 12. bis 14. Jahrhundert nach. Da tun sich enge Verbindungen auf zwischen dem dichterischen Werk und musikalischen Genres wie dem mittelhochdeutschen Sangspruch und Leich sowie lateinischen Sequenzen mit philosophischem und naturmystischem Inhalt. Deren Melodiebestand findet sich auch in der kontemplativen Instrumentalmusik dieser Zeit wieder.
Programmfolge
Im Echoraum mittelalterlicher Mystik
Als Praxis der Kontemplation und der inneren Schau beschäftigt sich die Mystik in allen Kulturen der Welt bevorzugt mit Allegorien aus dem Bilderschatz der Natur. Oft werden in den Visionen der Mystiker:innen Blumen, Kräuter, Wasser, Wein, Sonne, die vier Elemente oder auch das Sehnen der Minne herangezogen, um eine innere Seelenreise zu veranschaulichen und quasi poetisch zu begleiten. Alttestamentliche biblische Inspirationen kamen dabei aus dem Hohen Lied der Liebe und den Psalmen Davids. Dieser meditativ-philosophische Komplex reizte auch die Lieddichter:innen des Mittelalters sehr, und so verwundert es nicht, dass im großen Werkschaffen des so genannten „Minnesangs“ und „Sangspruchs“ die philosophischen und religiösen Gesänge einen überaus großen Raum einnehmen, oft mit klarer mystischer Ausrichtung und in spürbarer Nähe zu den Mystiker:innen der Zeit, wovon als prominenteste Hildegard von Bingen und Meister Eckart zu nennen sind.
Die poetischen Projektionen der Visionärin Hildegard, die in der Musik den „Atem Gottes“ erkannte, waren ebenso prägend für folgende Generationen wie Meister Eckarts Suche nach dem allumfassenden „Seelenfünklein“. Das inspirierte zur inneren Einkehr, auch in der Musik. Hier lehnte sich die westliche Mystik übrigens deutlich an die östlichen Lehren des Buddhismus an, ob bewusst oder unbewusst. Es bildeten sich damals mystisch orientierte fromme Lebensgemeinschaften zumeist als kleine Konvente wie bei den rheinischen und niederländischen Beginen.
Unser Programm soll aber nicht vorrangig die Praxis dieser Zirkel dokumentieren, sondern die Faszination aufzeigen, welche die Mystik als kontemplative Praxis der inneren Schau im späten Mittelalter vor allem im mittelhochdeutsch (oder niederländisch) sprechenden und singenden Raum erfuhr. Wir präsentieren ihr musikalisch reichhaltiges Repertoire in einem Florilegium aus unterschiedlichen Quellen vom 12. bis zum 15. Jahrhundert.
Heinrich von Seuse, auch Suso genannt, war Schüler Eckarts und verfasste das bedeutende Lied von dem Überschalle – womit natürlich nicht der Knall beim Erreichen der Schallmauer gemeint ist, vielmehr das Empfinden von Klängen und den dahinter liegenden Bedeutungen. Dieses explizit als „Lied“ bezeichnete Gedicht steht im Versmaß des sogenannten Nibelungentons, der identisch ist mit dem Versmaß des Hildebrandslieds aus dem 11. Jahrhundert. Von der melodischen Überlieferung dieses „Tons“, also der Kombination aus Versmaß und Melodie unter einem bestimmten Namen, gibt es nur zwei noch in unserer Zeit erhaltene Quellen: die bekannte Melodie des späteren Hildebrandslieds aus dem 15. Jahrhundert in einem polyphonen Satz von Georg Rhau und seit neuestem den Fund in einem Gesangbuch der konservativen Amish People in Philadelphia. Sie sangen das Hildebrandslied und damit den Nibelungenton nach mündlicher Überlieferung in einer leicht abweichenden Version seit Jahrhunderten als geistliches Kontrafaktum, also mit neuem Text, wiesen aber auch in Amerika immer auf die Herkunft aus dem alten Hildebrandslied hin. Wir präsentieren heute erstmals diese Version, basierend auf der Transkription der Weise durch Marc Lewon und Norbert Rodenkirchen nach einem Gesangbuch der Amish People aus dem frühen 20. Jahrhundert. Sie hören also das Lied Seuses in der archaischen Melodie, welche die Amish aus Europa mitnahmen und in ihrer neuen Heimat nur wenig veränderten.
Ein weiteres Beispiel für ein Kontrafaktum zeigt die flämische Begine Hadewijch von Brabant in ihrem Gesang Ay in welken, der die Bedeutung der Minne für die mystische Hingabe reflektiert. Dazu verwendet sie die bekannte Sequenz Mariae praeconio. Hadewijch hat in den meisten Fällen keine eigene Musik komponiert, sondern ihre Lyrik zu schon bekannten Melodien verfasst, die aus dem Repertoire der französischen Troubadours stammen oder eben aus geistlichen Sequenzen.
Der Pariser Gelehrte Alanus ab Insulis (Alain de Lille) hat das berühmte Gedicht Omnis mundi creatura über das wichtigste mittelalterliche Symbol der Mystik verfasst: die Rose als Spiegel allen Seins. Die Dichtung steht im Versmaß der Mariensequenz Stabat Mater, ebenso wie eine Handvoll sehr innovativer Sequenzen des Adam de St. Victor – er war ein Pariser Zeitgenosse von Alanus. Zur Melodie seiner Sequenz Profitentes unitatem interpretieren wir die Dichtung des Alanus.
In unserer Stadt sind inzwischen schon viele Gesänge aus dem berühmten Liederbuch der Anna von Coeln erklungen, einer Begine aus dem 15. Jahrhundert. Das verdankt sich vor allem unserer geschätzten Kollegin Maria Jonas, die tragischerweise kurz vor Weihnachten verstorben ist. In das heutige Programm haben wir ein besonderes Lied der Anna mit naturmystischem Inhalt aufgenommen. Davon ist zwar nur der Text überliefert, doch ermöglichen die Hinweise auf die kurze Gregorianik-Phrase des Gratias und die klare Strophenstruktur problemlos eine halb improvisatorische Rekonstruktion.
Die weiteren Lieder in unserem Programm zeigen die mittelalterliche Mystik im thematisch vielfältigen Repertoire des Sangspruchs. Der im Mittelalter üblichen Durchlässigkeit von Vokal- und Instrumentalmusik entsprechend haben wir aus dem gut überliefertem Melodienschatz auch die Instrumentalversionen abgeleitet.
Mitwirkende
Sabine Lutzenberger – Gesang
Norbert Rodenkirchen – mittelalterliche Flöten und Harfe