Saison 2003/2004: Konzert 4

Sonntag, 21. Dezember 2003 17 Uhr Sendesaal des Deutschlandfunks

Antonio Cartellieri

Weihnachtsoratorium Chorus Musicus Köln Das Neue Orchester Ltg. Christoph Spering In Zusammenarbeit mit dem 2. Kölner Weihnachtsfestival Sendung im Deutschlandfunk am 25.12.2003

Christoph Spering ist ein Entdecker. Natürlich hätte er, wie üblich in der vorweihnachtlichen Kantorenpraxis Bachs Weihnachtsoratorium, ganz oder in Teilen, auf das Programm setzen können. Anstelle dessen ist Christoph Spering in die Archive der Österreichischen Nationalbibliothek gestiegen und hat ein "neues" Weihnachtsoratorium eines Meisters entdeckt. Auch wenn sich die üblichen Lexika zum Komponisten ausschweigen, wissen wir doch, dass Beethoven den Schüler Salieris so hoch geachtet hat, dass er gleich zwei seiner Werke auf das Benefizkonzert der Tonkünstlergesellschaft am 29. März 1795 gesetzt hat, eine Symphonie und das Oratorium "Gioas, Re di Giuda". Mit Antonio Carellieris Weihnachtsoratorium bietet Christoph Spering eine echte klangliche Entdeckung.

Programmfolge

Antonio Cartellieri (1772-1807)

La Celebre Natività del Redentore

Soli: L'Amor Divino (Die Göttliche Liebe) - Giovanni Battista (Johannes der Täufer)
L'Angelo della Gloria (Der Glorienengel) - Satanasso (Der Teufel)

Cori di Angeli, di Pastori e di Demoni (Chöre der Hirten, Engel und Dämonen)

Szenenfolge

I Introduktion
Dialog "Nel rigore imperversante" (Pastori, Amor Divino)
Rezitativ und Arie "Scuote annose piante" (Battista)
Dialog "Ferma, oh Giovanni, il piè" (Battista, Satanasso)

II Rezitativ "Or voi dai ciechi abissi" (Satanasso)
Dialog "Oh Ciel! Quai urli rendi" (Pastori, Demoni)
Rezitativ "Cessate, oh indispettite" (Angelo)
Chor "Qual raggio fulgido" (Pastori, Demoni)
Rezitativ "Non temete, oh pastori" (Angelo)
Chor "Gloria in cielo al vero Dio" (Pastori, Angelo)
Rezitativ und Arie "Che intendo? Il Verbo Eterno" (Amor Divino)
Szene "Gran cose narri" (Battista, Angelo, Amor Divino)

III Rezitativ "Ah più che mai fervente" (Battista, Amor Divino)
Terzett "Tu che schiudi al basso mondo" (Amor Divino, Angelo, Battista)
Rezitativ und Arie "Oh della mia possanza fermi sostegni" (Satanasso, Demoni)
Rezitativ und Arie "T'intendo, ah sì, t'intendo" (Battista)

IV Rezitativ "Oh Giovanni" (Amor Divino, Angelo)
Chor "Augusta immensa Triade" (Angeli, Amor Divino, Angelo, Battista)
Chor "Oh del cielo insano orgoglio" (Tutti, Soli)
Chor "Dell'ambiente universale" (Tutti)

Das Libretto im Pdf-Format

Erster Teil (ca. 17 kB)
Anm.: Bei der Anzeige des ersten Teils kann es zu einer (unbedeutenden) Fehlermeldung kommen.
Zweiter Teil (ca. 16 kB)
Dritter Teil (ca. 16 kB)
Vierter Teil (ca. 13 kB)

Antonio Cartellieris Weihnachtsoratorium
Eine Spurensuche

Am 27. September 1772 wird Antonio Casimir Cartellieri in Danzig als Sohn eines Sänger-Ehepaares geboren; die Mutter stammt aus Riga, der Vater aus Mailand. Als sich die Eltern 1786 scheiden lassen, folgt Antonio seiner Mutter nach Berlin, wo diese am Königlichen Opernhaus ihrer Sängerkarriere nachgeht; der Vater lebt später als Gesangslehrer in Königsberg. Auch Antonio Cartellieri strebt eine Musikerkarriere an und nimmt in Berlin Kompositionsunterricht. Nicht ohne Erfolg: Mit 18 Jahren tritt er als Musikdirektor und Komponist in die Dienste des polnischen Grafen Oborsky, 1792 wird in Berlin seine Kantate "Contimar und Zora" aufgeführt, im folgenden Jahr die Operette "Die Geisterbeschwörung". Oborsky lässt seinen Musiker in Wien weiterstudieren, der bedeutendsten Musikmetropole der Zeit, in der im Gefolge des kaiserlichen Hofes auch der prestigebewusste Adel eine große Zahl eigener Orchester, Bläserensembles und Streichquartette unterhält. So werden hier zwei bedeutende Künstlerpersönlichkeiten zu Cartellieris Lehrern: Johann Georg Albrechtsberger, seit 1793 Kapellmeister am Stephansdom, und Antonio Salieri, seit 1788 kaiserlicher Hofkapellmeister.

Bald schon macht Cartellieri Bekanntschaft mit dem zwei Jahre älteren Ludwig van Beethoven. Der ist etwa zur gleichen Zeit wie er in Wien eingetroffen und erwählt sich dieselben Meister zu seinen Lehrern, nachdem der anfängliche Unterricht bei Joseph Haydn durch dessen Abreise nach London ein schnelles Ende gefunden hat. Albrechtsberger unterweist Beethoven im Kontrapunkt, Salieri führte ihn in die Raffinessen der italienischer Gesangskomposition ein - und ebenso sehen wohl die Unterrichtsschwerpunkte für Cartellieri aus. Demnach ist es kaum ein Zufall, dass die Nachwuchskünstler sich am 29. und 30. März 1795 gemeinsam in Wohltätigkeitskonzerten am Wiener Burgtheater einer breiteren Öffentlichkeit vorstellen: Cartellieri gibt sein Oratorium "Gioas, Rè di Giuda" (nach einem Libretto Pietro Metastasios), Beethoven brilliert als Solist in einem eigenen Klavierkonzert. Für die adeligen Kunstförderer Wiens sind sie bald keine Unbekannten mehr. Einer der bedeutendsten Mäzene ist ihr Altersgenosse Fürst Franz Joseph Maximilian von Lobkowitz, ein ausgezeichneter Basssänger, erfahren auf Violine und Violoncello, auch des Komponierens kundig. 1794 hat er eine eigene Kapelle gegründet, die in seinem Wiener Palais alsbald Werke Beethovens zur Uraufführung bringt - der Komponist widmet dem Fürsten u.a. die Sinfonien 3 ("Eroica"), 5 (c-Moll) und 6 ("Pastorale"), die Streichquartette op. 18 und das Tripelkonzert op. 56. Für Cartellieri wird Lobkowitz 1796 zum neuen Dienstherren: Der hat ihn in einem Konzert als Dirigent einer eigenen Sinfonie erlebt; "der überraschte Fürst hielt sogleich bey Oborsky um ihn an, der ihn sehr ungern ziehen ließ", wird später Cartellieris Sohn Joseph in seiner handschriftlichen Biographie berichten (wiedergegeben bei Dieter Klöcker in "Rohrblatt" 11/1996). Als fürstlicher Kapellmeister wirkt Cartellieri nun bis zu seinem frühen Tod am 2. September 1807; das letzte Jahr ist allerdings von Krankheit überschattet. Im Jahr 1803 hat er sich verheiratet; seine Frau Franziska ist die Tochter von Anton Kraft, dem Cellisten der Kapelle.

Lobkowitz residiert nicht nur in Wien; oft hält er sich in Böhmen auf, in seinen Schlössern Raudnitz (Roudnice) und Eisenberg (Jezerí) sowie in seinem Prager Palais. Seine Kapelle begleitet ihn dorthin, Künstler wie Beethoven und der musikbegeisterte preußische Prinz Louis Ferdinand sind auch dort gelegentlich seine Gäste. Die vielen kammermusikalischen Kompositionen Cartellieris tun ihre praktischen Dienste, doch wagt man sich augenscheinlich auch in den böhmischen Landschlössern an größer besetzte Kompositionen. So findet in Raudnitz am 27. Oktober 1805 unter Leitung Cartellieris die erste Aufführung von Haydns "Schöpfung" in tschechischer Sprache statt, wobei Lobkowitz selbst die Basspartie singt - eine fast subversive Aktion, beargwöhnt die Habsburger-Monarchie doch solche Unternehmungen als Ausdruck separatistischer Bestrebungen. Aber nicht nur das Erfolgsstück Haydns, sondern auch Cartellieris italienische Oratorien "La celebre Natività del Redentore" und "La Purificazione di Maria Vergine" dürften hier musiziert worden sein. Nachweisen lassen sich - zumindest auf der Basis des zur Zeit zur Verfügung stehenden Materials an Noten und zeitgenössischen Berichten - aber nur deren öffentliche Aufführungen in Prag.

Partiturabschriften von Cartellieris Weihnachtsoratorium finden sich in der Prager Nationalbibliothek (in der große Teile der Lobkowitz'schen Bibliothek aufgingen), bei der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien (Lobkowitz war 1812 Mitbegründer dieser Vereinigung) und im Konservatorium von Florenz. Die autographe Originalpartitur befindet sich in Privatbesitz und ist nicht allgemein zugänglich; die heutige Aufführung beruht auf der Wiener Quelle, die über die Entstehungs- und Aufführungsumstände des Werks allerdings keinen Aufschluss gibt. Doch findet sich in der "Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung" ein bemerkenswerter Korrespondentenbericht aus Prag, der eine Aufführung des Werks am 1. Weihnachtstag 1806 bezeugt:

"Die hiesige Anstalt, zur Versorgung der Wittwen u. Waisen der Musiker ist bekannt, ist löblich, ist immer sehr reichlich unterstützt. Sie war letzteres auch diesmal: eine große Menge strömte den 25sten Dec. nach dem Nationaltheater in das zu jenem Behuf gehaltene Konzert. ... Diesmal hörten wir ein Pianoforte-Konzert von Hrn. Dr. Kanka, von der Tochter unsers würdigen Kozeluch vorgetragen, und ein Oratorium von Hrn. Cartelieri - Kapellm. beym Fürsten von Lobkowiz - für Ihre Majest. die Kaiserin von Oestreich komponirt. Es hatte keinen andern Titel, als: Per celebrare la Festività del S. S. Natale..." Die 1803 zu wohltätigen Zwecken gegründete Prager Tonkünstler-Sozietät hatte also zu ihrem traditionellen Weihnachtskonzert im Ständetheater (dem Uraufführungsort von Mozarts "Don Giovanni") das Oratorium Cartellieris aufs Programm gesetzt (ein Jahr zuvor war an gleicher Stelle die "Schöpfung" erklungen). Es wurde bei der Gelegenheit mit einem Klavierkonzert des Prager Juristen, Pianisten und Komponisten Johann Nepomuk Kanka kombiniert, in dem Barbara Kozeluch brillierte, die Tochter des Kapellmeisters an der Prager Veitskathedrale. Das Konzert setzte man zwischen die instrumentale Einleitung und die erste Vokalnummer des Oratoriums - "welche Verkehrtheit", bemerkt dazu der Prager Rezensent. Das Oratorium selbst machte ihn wegen seiner Nähe zur Oper staunen: "Die ganze Komposition ist im theatralischen Stil, und da wir in demselben Local Opern zu sehen gewohnt sind, so hätten die Sänger nur etwas Mimik zu Hülfe rufen dürfen, um uns ganz vergessen zu machen, dass wir diesmal eigentlich gekommen waren, um einer Produktion anderer Art beizuwohnen." In der Tat, Cartellieri bedient sich für sein Weihnachtsoratorium eines dramatisch angelegten Librettos von Luigi Prividali, das vier eher allegorisch handelnde Charaktere ("Die Göttliche Liebe", "Johannes der Täufer", "Der Glorienengel" und "Satan") zusammenführt und ihnen Chöre von Hirten, Engeln und Dämonen zur Seite stellt. Beim Prager Publikum fand die Aufführung wohl ihren Beifall, denn ein Jahr später stand an gleicher Stelle Cartellieris Oratorium "della Purificazione di Maria Vergine" ("zur Feier der Reinigung Mariae") auf dem Programm - "gleichsam ein zweyter Theil des vorjährigen Oratoriums", wie derselbe Korrespondent nun an die Redaktion in Leipzig berichtete. - Antonio Cartellieri war wenige Wochen zuvor verstorben, und so mag der Erlös dieses Konzertes auch seiner Frau und seinen drei kleinen Söhnen zugute gekommen sein, die später in Prag von einer Pension des Fürsten Lobkowitz lebten.

Dass Cartellieri bei der Aufführung seines Weihnachtsoratoriums in Prag 1806 anwesend war oder gar den wohl überwiegend aus Laienmusikern bestehenden umfangreichen Aufführungsapparat leitete, wird nirgends erwähnt. Das spricht dagegen, in diesem Konzert die Uraufführung des Werks zu sehen. Die Rezension weist auch darauf hin, dass Cartellieri das Oratorium der Kaiserin gewidmet hatte. Man kann demnach davon ausgehen, dass der Prager Aufführung eine unter der Leitung des Komponisten in Wien vorangegangen war - dann vermutlich im Palais Lobkowitz, denn über eine öffentliche Wiener Aufführung ist nichts bekannt. Da sich Cartellieri andererseits seit dem Herbst 1806 im Gefolge von Lobkowitz in Böhmen aufgehalten hatte, sollte man die Datierung von "La celebre Natività del Redentore" auf dieses Jahr, wie sie sich bisweilen in der Cartellieri-Literatur findet, mit einem Fragezeichen versehen.

behe

Mitwirkende

Katerina Beranova - Sopran (L'Amor Divino)
Andreas Karasiak - Tenor (Giovanni Battista)
Ray M. Wade Jr. - Tenor (Angelo della Gloria)
Alexander Marco-Buhrmester - Bass (Satanasso)

Mülheimer Kantorei - Chorus Musicus Köln
Das Neue Orchester
Konzertmeisterin: Pauline Nobes

Christoph Spering