Saison 2016/2017: Konzert 2

Sonntag, 30. Oktober 2016 Trinitatiskirche 17 Uhr

Der Gesang des Echequiers

Musik von Guillaume Dufay, John Dunstable u.a. aus dem Buxheimer Orgelbuch Tasto solo Guillermo Pérez Tasto solo Sendung auf WDR 3 am 22. Februar 2017 ab 20:04 Uhr

Das Ensemble Tasto Solo um Guillermo Pérez, den spanischen Spezialisten für frühe Tasteninstrumente, entführt seine Zuhörer in die heute nahezu unbekannte Welt der spätmittelalterlichen Klaviermusik. Im Mittelpunkt steht dabei das Echequier oder Clavisimbalum – eine Art Zither mit Tasten, über die sich die Saiten anzupfen oder mit Hämmern anschlagen lassen. Das verleiht den Kompositionen aus Burgund, England und Italien, wie sie etwa das berühmte Buxheimer Orgelbuch überliefert, eine unerhört sinnliche Klanglichkeit, die im Konzert durch die Consortbesetzung mit Harfen, Fidel, Organetto und Gesang noch weiter aufgefächert wird.

Programmfolge

Johannes Ciconia (um 1370-1412)
Ligiadra donna
Gilles Binchois (um 1400-1460)
Je loe amours
Anonymus / Buxheimer Orgelbuch
Jeloymors
Guillaume Dufay (1397-1474)
Se la face ay pale
Anonymus / Buxheimer Orgelbuch
Modocomo
Bartholomeo Bruolo (1. Hälfte 15. Jahrhundert)
Entrepris suis
Gilles Binchois / Buxheimer Orgelbuch
Esclaphe
Guillaume Dufay / Buxheimer Orgelbuch
Par le regard
Se la phase pale
Anonymus / Lochamer-Liederbuch
Ein vrouleen
Anonymus / Manuskript Wroclaw IF687
Bonus Tenor
Gilles Binchois
Dueil angoisseus
John Bedyngham (um 1450) / Buxheimer Orgelbuch
O rosa bella
John Dunstaple (um 1390-1453) / Buxheimer Orgelbuch
Puisque m'amour
Anonymus / Buxheimer Orgelbuch
Virginem mire pulchritudinis
Praeambulum super D
Mit ganczem Willen

Schachzüge mit der Tastatur

Der franko-flämische Musiker Gilles Binchois und sein Landsmann Guillaume Dufay zählen mit dem Engländer John Dunstaple zu den einflussreichsten Komponisten aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Lange Zeit maß die moderne Musikwissenschaft Binchois in diesem erlauchten Triumvirat allerdings die geringste Bedeutung bei. Heute hingegen eröffnet ein zuvor wenig erforschter Teil seines Lebens die Möglichkeit zu einem umfassenderen Verständnis seiner Persönlichkeit: Von 1410 bis 1420 wirkte Binchois als Organist in seiner mutmaßlichen Geburtsstadt Mons im Hennegau, bevor er in die Kapelle des burgundischen Hofes von Philipp dem Guten eintrat, an dem die Künste blühten. In den Archivalien wird Binchois bezeichnenderweise auch als maistre Ghile l’orghanistre geführt. Wir wissen nicht, ob er seine Spieltechnik am Hof von Burgund weiterentwickelte. Eine Untersuchung der Werke, die in einer berühmten süddeutschen Handschrift, dem Buxheimer Orgelbuch, aus der Zeit um 1460 überliefert sind, legt aber nahe, dass eine enge Verbindung zwischen Binchois und dem Instrumentalrepertoire der Zeit besteht. Er ist von den namentlich bekannten Autoren, die in dieser wichtigsten Quelle zur Musik für Tasteninstrumente aus dem Spätmittelalter begegnen, am prominentesten vertreten: fast zwanzig der Werke sind instrumentale Bearbeitungen seiner Chansons. Sie gehen damit auf mehrstimmige Vokalkompositionen zurück, die in jenem melodisch und harmonisch experimentierfreudigen Stil gehalten sind, den die Zeitgenossen als Ars Nova, als die neue Kunst bezeichneten. Die instrumentalen Versionen weiten dabei die Vokalfassung auf individuelle Weise aus, bieten mannigfache Umspielungen einzelner Partien oder entwickeln auch ein ganz neues Satzgefüge, in dem die ursprüngliche Form nur hin und wieder durchscheint. Die Grenzen von der Ausschmückung des Vorgegebenen zur Kreation eines neuen Werks sind dabei fließend - das heutige Programm gestattet da einen aufschlussreichen Vergleich der Balladen Je loe amours von Binchois und Se la face ay pale von Dufay mit den Bearbeitungen aus dem Buxheimer Orgelbuch.

Der Gesang des Echequiers bildet den zweiten Teil eines dreiteilig angelegten Projektes des Ensembles Tasto Solo, das sich dem Tastenrepertoire aus der Mitte des 15. Jahrhunderts widmet. Das Programm ist im Laufe der Zeit gewachsen, nicht zuletzt dank zahlreicher Erfahrungen seit dem internationalen Erfolg des ersten Projektteils Meyster ob allen Meystern, der sich mit Conrad Paumann und der deutschen Organistenschule am Ende des Mittelalters beschäftigt hat. Der neue Projektteil wirft den Fokus auf die hervorragenden Balladen und Rondeaus von Binchois und Dufay. Die Werke dieser beiden Musiker, die sich vermutlich schon seit den 1430er Jahren persönlich kannten, flankieren Kompositionen aus der Feder ihrer beiden großen Vorgänger: John Dunstaple, der als Kanoniker und Musiker in den Diensten des auch in Frankreich präsenten John of Lancaster stand, und Johannes Ciconia, der in Lüttich geboren wurde, aber spätestens seit den 1390er Jahren in Italien wirkte. Dort sollten franko-flämische Musiker auch in den folgenden Generationen sehr gefragt sein: Dufay beispielsweise hielt sich wiederholt für mehrere Jahre südlich der Alpen auf. Zu den beiden anderen namentlich bekannten Komponisten in unserem Programm, dem vermutlich aus Venetien stammenden Bartholomeo Bruolo und dem Engländer John Bedyngham, ließen sich bislang kaum weitere biografische Details ermitteln - von beiden wissen wir eigentlich nur dank der Überlieferung ihrer Musik, die keineswegs weniger inspiriert ist als die ihrer berühmteren Kollegen.

Im Programm Der Gesang des Echequiers verfolgt Tasto Solo verschiedene künstlerische, aufführungspraktische und musikwissenschaftliche Ansätze. Zum einen geht es darum, instrumentale Aufführungsmöglichkeiten mit einem Schwerpunkt auf Tasteninstrumenten und Harfen zu rekonstruieren, wie sie in den Tabulaturen der Chansons aus dem Buxheimer Orgelbuch überliefert sind. Zum anderen geht es um die konkrete Arbeit mit besaiteten Tasteninstrumenten aus dieser Epoche - eben den Echequiers. Dazu verwenden wir zwei Instrumente: eines mit einer Hammer- und eines mit einer Plektrum-Mechanik. Wir profitieren dabei von den Recherchen unseres Ensemblemitglieds David Catalunya. In einigen Stücken gesellt sich die Gesangsstimme zu den Instrumentalstimmen von Tasto Solo, um neben der Schönheit und Finesse der Melodien auch die Rhetorik und die Expressivität der Dichtungen wieder lebendig werden zu lassen. Das Echequier führt die Zuhörer durch das Programm. Es begleitet nicht nur den Gesang, es antwortet auch auf ihn, kommentiert ihn, legt Freude, Liebe, Sehnsucht oder Trauer, die aus den Texten sprechen, auf seine Weise aus. So wie es schon 1424 der französische Mystiker Jean de Gerson beschrieb: Die Andacht lässt die Saiten des Echequiers ganz nach den jeweiligen Gemütsregungen von innen erklingen.

Der älteste Beleg für das Echequier (auch eschiquier, exaquier, chekker, checker, Schachbrett u.a.) wird auf etwa 1361 datiert und findet sich in einem Rechnungsbuch des englischen Königshauses. Bemerkenswerterweise erwähnt damals auch der große französische Literat und Musiker Guillaume de Machaut ein eschaquier d’Engletere in seinem Gedicht La prise d’Alexandrie. In den nächsten 25 Jahren verbreitet sich dieses besaitete Tasteninstrument in ganz Frankreich und Aragon, und im 15. Jahrhundert trifft man zunehmend auch auf Erwähnungen in Deutschland, Kastilien und anderswo in Europa. Unterschiedlichen Theorien zufolge hat der Name des Echequiers seinen Ursprung entweder in der rechteckigen Form des Instruments oder aber in der Ähnlichkeit des visuellen Eindrucks, den der Wechsel von schwarzen und weißen Tasten vermittelt, mit einem Schachbrett -im heutigen Französisch: échiquier. Diese Assoziation hat andere literarische und ikonographische Allegorien nach sich gezogen. Jean de Gerson präsentiert ein scacordo mistico, ein Schachbrett, auf dem eine allegorische Schlacht zwischen den Tugenden und den Lastern arrangiert ist und das an einer Seite Tasten aufweist, die durch die Finger der Meditation angeschlagen werden sollen. Dennoch gibt es gute Gründe anzunehmen, dass der französische Name Echequier auf die gesamte Instrumentenfamilie anspielt, die sonst mit den lateinischen Namen Clavichordium und Clavisimbalum bezeichnet wird.

Ein berühmter Traktat des flämischen Arztes und burgundischen Hofastronoms Arnaut de Zwolle über Musikinstrumente, der sich auf die Zeit zwischen 1430 und 1440 datieren lässt, bildet ein wertvolles Dokument, wenn man das Konzept verstehen möchte, das hinter der Entwicklung der besaiteten Tasteninstrumente am Ende des Mittelalters steht. In der Tat liefert Arnaut die älteste technische Beschreibung der mechanischen Vorrichtungen, mit denen man diese Instrumente ausstattete. Der erste Aspekt, der bei Arnaut auffällt, ist allerdings die Flexibilität in der Terminologie, die er verwendet und die eher im Zusammenhang mit der Form der Instrumente steht als mit der ihnen zugrundeliegenden Mechanik. Für die beiden Instrumententypen, das flügelförmige Clavisimbalum und das rechteckige Clavichordium, gibt Arnaut vier Funktionsweisen an - oder sogar fünf, wenn man die Beschreibung mitzählt, die sich auf einem später in das Manuskript eingefügten Pergament findet. Er nennt die Anspielarten mit Plektren, Tangenten und Hämmern und zeigt dann im Text und in zusätzlichen Zeichnungen eine beachtliche Anzahl von Experimenten, die nach dem Prinzip funktionieren, bereits existierende Instrumente wie Harfe, Hackbrett, Zither oder Monochord mit einer Tastenmechanik auszustatten. Da ist es nicht erstaunlich, dass die verwendeten Anspieltechniken in den neuen Tasteninstrumenten Analogien zu den schon bekannten spätmittelalterlichen Instrumenten aufweisen: Plektren wie für die Laute oder die Zither, Hämmer wie beim Hackbrett oder Glocken, Tangenten wie beim Monochord. Die Idee, schon vorhandene Instrumente mit einer Mechanik auszustatten, wird von Arnaut selbst explizit vorgeschlagen. Er erklärt, dass es zwei mögliche Arten gibt, ein Hackbrett zu konstruieren: entweder so, dass es nach rustikaler Art gespielt wird, indem der Musiker die Schlegel in die Hände nimmt - oder in einer zierlicheren Weise über eine Tastenreihe am Instrument.

Während der vergangenen zehn Jahre ist unser Wissen über das Repertoire der Tasteninstrumente aus dem 15. Jahrhundert dank der Forschungsbeiträge von Wissenschaftlern und darauf spezialisierten Musikern ungewöhnlich stark angewachsen. Von der Idee ausgehend, das Verständnis des Repertoires über die Instrumente zu erschließen und ebenso das Verständnis der Instrumente über das Repertoire, will unsere Rekonstruktion eines Hackbretts des 15. Jahrhunderts mit Tasten das Terrain über Arnaut hinaus erkunden, so dass wir letzten Endes eine Vorstellung von der Konzeption eines Hammerklaviers erhalten, wie es nach den spätmittelalterlichen Bedingungen des Instrumentenbaus hergestellt werden konnte.

Guillermo Pérez

Mitwirkende

Barbara Zanichelli – Sopran

Tasto solo, heute in folgender Besetzung:
David Catalunya – Hammer-Clavisimbalum
Angélique Mauillon, Reinhild Waldek – gotische Harfen
Pau Marcos – Fidel
Ltg. Guillermo Pérez – Organetto, Plektrum-Clavisimbalum