Saison 2000/2001: Konzert 6
Die Rache der Walküre
Die Geschichte von Sigurd, Brynhild und dem Rheingold aus der alt-isländischen Edda Sequentia Köln, Ensemble für Musik des Mittelalters Lena Susanne Norin - Gesang Agnethe Christensen - Gesang Benjamin Bagby - Gesang, Leier Elizabeth Gaver - Fiedel Norbert Rodenkirchen - Flöte, Leier Anm: Die vollständigen Texte der Aufführung in deutscher Sprache finden Sie auf der Seite Libretto."Das Gold soll / das Gunst hatte / Brüder [ent]zwein / bringen den Tod / und acht Fürsten / Fehde wecken: / niemandem / nütze mein Gut!" Diese Weissagung aus dem Reginsmál (dem Lied des Drachenhorts), einem Lied aus dem mittelalterlichen altnordischen Dichtungszyklus Edda, bildet die Grundlage einer uralten germanischen Liebes- und Rachegeschichte: der Erzählung über den jungen Helden Sigurd (Siegfried), der dem Drachen Fafnir das Gold stiehlt, und von Sigurds verhängnisvollen Begegnung mit der schönen Walküre Brynhild (Brünnhilde), deren mörderische Rache schließlich mehrere Familien zerstört. Diese Lieder und Erzählungen, rekonstruiert von Benjamin Bagby, waren übrigens die ältesten Quellen für Richard Wagners Ring-Zyklus und nacherzählen eine archaische Terrorgeschichte in der fesselnden musikalischen Sprache und Interpretation der Zeit.
Programmfolge
"Uns ist in alten maeren wunders vil geseit..."
(Nibelungen-Lied)
Die Lieder, die Sie heute hören, wurden zum erstenmal in der isländischen "Edda"-Handschrift des 13.
Jahrhunderts dokumentiert, obwohl sie aus der wesentlich früheren Epoche der germanischen und
nordischen Barden stammen. Hier wird u. a. vom Fluch des Rheingoldes erzählt, von Siegfried (isl.:
Sigurd), Brünhild (Brynhild) und Kriemhild (Gudrun), vom Drachen Fafnir und vom Zwerg Regin, vom
Hunnenkönig Attila (Atli), von Anfang und Ende der Welt ("Ragnarök" = Götterdämmerung). Dieser
epische Nibelungen-Stoff wurde zum Teil im berühmten "Nibelungenlied" schon um 1200 schriftlich
zusammengetragen und neu bearbeitet (im 19. Jahrundert haben viele dieser Texte natürlich auch
Richard Wagner inspiriert).
Diese archaischen Geschichten von Habgier, Leidenschaft und Rache waren einst Teil einer lebendigen
Tradition der Epen-Sänger (die Sänger der "alten maeren"), einer Tradition, die wir in einer möglichen
Version des frühen 11. Jahrhunderts - also der Zeit vor genau eintausend Jahren - zu rekonstruieren
versuchen.
Obwohl es als sicher gilt, dass in alten mündlichen Überlieferungen wie der Edda Stücke vor
sachkundigen Zuhörern stets "vokalisiert", d. h. gesungen oder gesprochen vorgetragen und sogar
vorgespielt wurden, sind wir gezwungen, uns ein Bild über den Kontext der jeweiligen Aufführung zu
machen, da hiervon keinerlei zeitgenössische Beschreibungen existieren. In unseren Aufführungen
kommt eine Tradition zum Tragen, wie sie sowohl in Island als auch in Norwegen und vielleicht auch in
weiter entfernten Teilen Europas zur Zeit des Snorri Sturluson (um 1200) existiert haben dürfte. Die
Ausführenden selbst sind keine an einen bestimmten Ort gebundenen Bauern, sondern recht erfahrene
Spielleute (isl. "leikari"), denen sich möglicherweise noch weitere nordische, keltische oder sächsische
Spielleute zugesellen. Diese durchstreifen weiträumig die nordischen Länder, womit sich der Gebrauch
der Fiedel erklärt.
Die eigentliche Aufführung konnte in der Behausung eines mächtigen Mannes in Island, aber auch in
der Halle eines norwegischen Lehnsherrn stattfinden. Die Musik und die Texte, die sie vortragen, sind
letzte Spuren alter mündlicher Überlieferungen aus dem vorchristlichen Nordeuropa, jedoch nun von
"Fachleuten" in einer dem Namen nach christlichen Gesellschaft aufgeführt, die noch immer eine starke
Bindung zu der archaischen Welt der Mythen und der alten Götterverehrung erkennen lässt. Und so
kommt es in dieser Aufführung vor, dass Singstimmen einzeln gehört werden können, oder die
solistische Fiedel beschwört eine Welt mythologischer Wesen, oder aber sie begleitet die Sänger. In
ritualartigen Augenblicken des Mysteriums kann sich der Sänger auf der Leier selbst begleiten.
Mit diesem Projekt setzt Sequentia die in 1995 begonnene Arbeit an der Edda fort ("Edda Eins",
Götterlieder der Edda, inszeniert von dem Kölner Regisseur Franz-Josef Heumannskämper, mit
Aufführungen in Europa, Amerika und Afrika), eine Produktion, die anschließend 1999 als CD mit dem
Titel "Edda: Myths from Medieval Iceland" bei der Deutschen Harmonia Mundi erschien. Sie erleben
heute in Köln die Erstaufführung des neuen Programms "Die Rache der Walküre" in Konzertform.
Anschließend reisen die Musiker in die USA, wo eine Inszenierung zusammen mit dem New Yorker
Regisseur Ping Chong zustande kommen und später u. a. beim Lincoln Center Festival (New York) zu
erleben sein wird.
Die Rekonstruktion einer Edda-Aufführung
Obwohl wir wissen, dass die epische Dichtkunst des Mittelalters den Barden und Sängern oblag, liegen
uns, soweit bekannt, keine musikalischen Quellen der Lieder-Edda aus dem Mittelalter selbst vor.
Tatsächlich gibt es keinerlei Grund zur Annahme, dass derlei Quellenmaterial überhaupt
niedergeschrieben worden ist. Das Milieu, in dem diese Lieder ursprünglich weitergegeben, gesungen
und vorgetragen wurden, war einzig und allein eine Kultur mündlicher Überlieferung, und
Berufsspielleute ("leikari") gaben Repertoire und Spielweise von einer Generation zur anderen weiter,
ohne sich mit der Niederschrift abzumühen. Wie beinahe immer im Falle des mittelalterlichen Liedes
wird die schriftliche Fixierung der Musik mit der Welt des Scriptoriums und dem adligen oder geistlichen
Anfertiger der entsprechenden Sammlung in Verbindung gebracht und nicht mit der Welt des
praktizierenden Musikers. Wir können davon ausgehen, dass die überlieferten Vortragsforrnen der Edda
wahrscheinlich bereits zu der Zeit, als der "Codex Regius", die wichtigste Abschrift des Textes,
entstand, im Niedergang begriffen waren. Bedenken wir diese Voraussetzungen, so fragen wir uns, wie
wir möglicherweise die Vortragsform der Lieder-Edda, die in der Zeit vor Snorri Sturluson im Island des
12. Jahrhunderts bekannt gewesen ist, rekonstruieren können.
Das früheste uns zugängliche Zeugnis von Gedichtvertonungen aus der Edda ist ein Bericht aus dem
1780 veröffentlichten "Essai sur la musique ancienne et moderne" des Benjamin de la Borde. Unter
weiteren Beispielen, die er anführt und die aus einer Sammlung Johann Ernst Hartmanns, eines
Musikers am dänischen Hof, stammen, befindet sich eine einfach vertonte Strophe aus der Vqluspá
(Weissagung der Seherin). Unglücklicherweise werden wir niemals wissen, ob diese Melodie Teil einer
unabhängigen isländischen Volkstradition des 17. und 18. Jahrhunderts ist oder ob der Ursprung ihrer
Form tatsächlich bis in mündlich überlieferte Melodieformeln, die der Lieder-Edda unterlegt waren,
zurückgeht.
Um Wege zur Melodieunterlegung für diese Texte zu finden, war es klar, dass wir mehr musikalische
Informationen benötigten als dieses Bruchstück an Melodiematerial aus dem späten 18. Jahrhundert.
Und so entschied ich mich, die Techniken der "modalen Sprache", die das Ensemble Sequentia
während der vielen Jahre seiner Beschäftigung mit dem mittelalterlichen Gesang entwickelt hat,
anzuwenden. Kurz zusammengefasst, ist für uns ein Modus (Tonart) keine Tonleiter, sondern eine
Zusammenstellung von musikalischen Formulierungen, die verinnerlicht, variiert und kombiniert werden
sowie als Vorlage für musikalische "Textstrukturen" dienen und die völlig neuartig erscheinen können,
wobei sie das ursprüngliche Material jedoch keineswegs verfälschen. Aber wie jener Met-Zaubertrank,
der als Geschenk an Odin dessen Fähigkeit zur Dichtkunst bewirkt, ist dieser "Modus-Trank" ein
Gebräu, das inspirierend und gefährlich zugleich ist. Wir benötigen ein gründliches Wissen über noch
heute in verschiedenen Kulturen der Welt vorherrschende Vortragsweisen gesungener epischer
Dichtung, um zu erfahren, wie derartige Aufführungen Gestalt und Seele haben müssen, um die alle
Grenzen übersteigende Freiheit eines "modalen Rausches" abzumildern.
Nachdem ich Monsieur de la Borde kurzzeitig zur Seite gelegt hatte: Wwohin sollte ich mich nun als
erstes wenden, um die Grundzutaten für dieses modale Gebräu herzunehmen? Natürlich nach Island.
Um ein Beispiel zu geben: In der als "Rímur" bekannten mündlich überlieferten Dichtung - die zwar
selbst aus dem Spätmittelalter stammt, deren Wurzeln jedoch in viel frühere skaldische Dichtung
zurückreichen - fand ich einen umfangreichen Vorrat an modalem Material, das sich ganz eindeutig in
mehrere Gattungen einteilen ließ. Während unseres Forschungsaufenthaltes in Reykjavik im Mai 1995
wurde mir freundlicherweise erlaubt, in den Tonbandarchiven des Árna-Magnússonar-Instituts zu
arbeiten, wo ich mir Hunderte Aufnahmen von Rímur-Aufführungen und verwandten Liedgattungen
anhörte. Ich machte mir dabei Notizen, analysierte die Gattungen und untersuchte die jeweilige
Anwendungsweise des modalen Materials. Das Ergebnis dieses Verarbeitungsprozesses, zu dem aber
auch ein Ausfiltern eindeutig späterer Melodiegattungen gehörte, war eine Reihe von modalen Formeln,
eingeteilt in "Zeichen" zur Strukturierung, damit sie den anderen Sängern weitervermittelt und auf die
Metren der Edda-Texte angewandt werden konnten, so wie es uns der Sprachwissenschaftler Heimir
Pálsson beigebracht hatte. All dies wurde so erlernt, als ob wir uns inmitten einer mündlichen
Überlieferungskette befänden. So waren unsere ausschließlichen Arbeitsmittel die vorliegenden Edda-
Texte sowie unser Gedächtnis. Außerdem gab es keinerlei Partituren. Und unter diesem Licht
betrachtet, ergab sogar die Melodie des Benjamin de la Borde schließlich einen Sinn. Wie immer man
diese Melodie auch übermitteln will, Tatsache ist, dass sie Charakterzüge erkennen lässt, die auf
spezielle Modusformen hinweisen. Sie bestehen aus einigen wenigen begrenzten Elementen, die immer
wiederholt und variiert werden. Und so könnte der aufmerksame Zuhörer ihren "genetischen Code", der
sich in diesen Umsetzungen widerspiegelt, wahrnehmen. Es ginge ihm dann wie einem erfahrenen
isländischen Rímur-Sänger, der diese Lieder hört und dabei zeitweise das Gefühl hat, das ihm
eigentlich unbekannte gesungene Stück auf Grund einiger nicht bestimmbarer Elemente bereits zu
kennen. In den Fällen, wenn zwei oder drei Sänger denselben Text vortragen, kann es durchaus
geschehen, dass bisweilen unterschiedliche modale Ausformungen gleichzeitig vernommen werden,
was zu einer Art der Heterophonie führt, wie sie etwa einer Form improvisierter Mehrstimmigkeit
entspricht, die für traditionelle Musikkulturen typisch ist. In Island hören wir noch heute Spuren dieser
alten Musizierpraxis bei den in Quintparallelen zweistimmig gesungenen "Tvísöngur" (Zwiegesänge)
heraus.
Neben der Beschäftigung mit den Rímur benötigt die Arbeit an der Rekonstruktion das Erforschen
weiteren isländischen Quellenmaterials wie auch altüberlieferter Tanzmelodien der Färöer-Inseln. Und
je mehr sich das Edda-Projekt im Laufe der Jahre herausschält, desto mehr wird man die Forschung
sicherlich auf das Quellenmaterial der gesamten Welt der Wikinger unter besonderer Berücksichtigung
Finnlands und anderer Ostseeanrainer sowie Lapplands ausweiten müssen.
Eine ebenso wichtige Rolle bei der Rekonstruktion der Musik nehmen die Instrumente ein, die teils
eigenständige Stücke spielen, teils aber auch die Sänger begleiten. Im 12. Jahrhundert waren mit
Sicherheit die beiden wichtigsten europäischen Instrumente zur Unterhaltung bei Hofe Fiedel und Harfe,
obgleich andere Instrumentarten, wie beispiels- weise Blas- und Schlaginstrumente, im Volke gewiss
bekannt waren. Elizabeth Gaver hat die Fiedel-Musik rekonstruiert. Die Harfen, die ich benutze, sind
Kopien der Überreste von Instrumenten, die in einer germanischen Grabstätte des 7. Jahrhunderts
gefunden und von Rainer Thurau, Wiesbaden, untersucht und rekonstruiert wurden. Diese Art von
Leiern war schon immer im gesamten Norden Europas bekannt, und zwar zusammen mit der
verwandten dreieckigen Kithara. Derlei Instrumente besitzen sehr wenig Saiten. Betrachten wir die
Spieltechnik, so erübrigt sich beinahe zu erwähnen, dass ein Instrument von sechs Saiten nicht gerade
geeignet ist, eine komplizierte Melodie mit Akkordbegleitung auszufahren. Statt dessen handelt es sich
hier um einen Harfentyp, der gemäß seiner Ausdrucksmöglichkeiten melodische Formeln benutzt, diese
variiert und so seinen modalen Bestand "herausarbeitet", wie wir es bei einigen gleichartigen
Instrumenten in nichteuropäischen Kulturen vorfinden. Genauso wie sich die Sänger auf ein kleines
Repertoire aussagekräftiger modaler Formulierungen beziehen, um ihren Texten Melodien zu
unterlegen, so macht die Harfe aus ihrer scheinbaren Begrenztheit eine Tugend und bereichert,
vergleichbar einem Wikingerflechtwerk, sogar noch die Ausdrucksmöglichkeit des Modus.
Benjamin Bagby
Quellen
Alle Texte entstammen dem Codex Regius (Árna-Magnússonar-Institut Reykjavik)
in der Edition von Gustav Neckel (umgearbeitet von Hans Kuhn, Heidelberg 1962)
Musikalische Rekonstruktionen von Benjamin Bagby
Philologische Konsultationen, Beratung und Aussprache-Training des Alt-Isländischen:
Heimir Pálsson (Reykjavik)
Mitwirkende
Ensemble für Musik des Mittelalters
Lena Susanne Norin - Gesang
Agnethe Christensen - Gesang
Benjamin Bagby - Gesang, Leier
Elizabeth Gaver - Fiedel
Norbert Rodenkirchen - Flöte, Leier
Sendetermin
Die Aufzeichnung des Konzertes sendet der Deutschlandfunk am Dienstag, den 17. April 2001, in seiner Reihe "Musikforum" um 21.05 Uhr.