Saison 2002/2003: Konzert 4
Puer natus est nobis
Weihnachtsmusik der Renaissance Josquin Capella Ltg. Meinolf Brüser Sendung im Deutschlandfunk am 24.12.2002Dass sich die Komponisten nicht immer an den theologisch verordneten Kanon zur Feier der Geburt Jesu Christi hielten, offenbart das Programm der Josquin Capella beispielhaft. Im 15. und 16. Jahrhundert widmeten die vertonten Texte der Gestalt Mariens als Mutter Christi und Mutter der Christenheit besonders in weihnachtlicher Musik wesentlich mehr Aufmerksamkeit als spätere Kompositionen. Werke von Pierre de la Rue, Johannes Ockeghem, Josquin Desprez, Johannes Eccard, Samuel Scheidt und Michael Prätorius werden zu hören sein.
Programmfolge
"Puer natus est nobis"
Introitus zum 1. Weihnachtstag
Pierre de La Rue (gest. 1518)
Missa "Ave Sanctissima Maria"
Anonymus (Magnus liber organi F 16r) / Gregorianischer Choral
"Alleluja. Dies sanctificatus"
Alleluja zum 1. Weihnachtstag
Pierre de La Rue
Missa "Ave Sanctissima Maria"
Nicolas Gombert (um 1500-um 1556)
Magnificat tertii et octavi toni
Pause
Johannes Ockeghem (ca. 1425-1496/7)
"Alma redemptoris mater"
Josquin Desprez (ca. 1455-1521)
"Responsum acceperat Simeon"
Johannes Eccard (1553-1611)
"Übers Gebirg Maria geht"
"Ich steh an deiner Krippen hier"
Leonhard Paminger (1495-1567)
"Omnis mundus iocundetur" / "Resonet in laudibus" /
"In dulci jubilo"
Michael Praetorius (1571/2-1621)
"Es ist ein Ros entsprungen"
Samuel Scheidt (1587-1654)
"O Jesulein süß, o Jesulein mild"
Georg Forster (um 1510-1568)
"Vom Himmel hoch, da komm ich her"
Costanzo Festa (ca. 1510-1568)
"Ecce advenit dominator"
"Vom Aufgang der Sonne"
Warum Weihnachten, das Fest der Geburt Christi, am 25. Dezember gefeiert wird - darüber bestehen unterschiedliche Ansichten. Die eine sieht das christliche Fest in einer bewussten Konkurrenz zu dem 274 durch Kaiser Aurelian eingeführten heidnischen Fest des "unbesiegten Sonnengottes". Die andere geht von der stark im Bewusstsein der frühen Christen verankerten Christus-Sonnen-Symbolik aus, die den Tagundnachtgleichen und den Sonnenwenden besondere Bedeutung beimaß. Sie errechnet über die Empfängnis Johannes des Täufers zur Herbstsonnenwende die Verkündigung Christi für den 25. März (nach Lukas 1,26 ist Christus sechs Monate später als Johannes empfangen worden) und gelangt so zum 25. Dezember.
Man wird die symbolische Wirkung des Einklanges von Wintersonnenwende und Verkündigung Christi in der frühen Kirche nicht unterschätzen dürfen. Diese Lichtsymbolik begegnet uns in den weihnachtlichen, meist liturgischen Gesängen des Programms, wie etwa im Vers des Alleluja. Sie begegnet uns darüber hinaus in den Texten des Festes der Darstellung der Herrn (2. Februar), das neben dem Fest der Verkündigung des Herrn (25. März) zu den weihnachtlichen Festen außerhalb des unmittelbaren weihnachtlichen Festkreises zählt. Auch Musik hierzu werden wir im heutigen Konzert singen.
"Puer natus est nobis", so hebt der Introitus zur Messe des 1. Weihnachtstages an, im hellen, freudigen 7. Ton, jubelnd mit aufwärts springender Quinte wird die frohe Botschaft verkündet. Es folgen mit Kyrie und Gloria zwei Ordinariumsteile der Messe in einer Kompostion von Pierre de La Rue. Er schrieb sie nach dem Modell einer Motette "Ave sanctissima Maria", von der sie auch ihren Titel hat. Das Werk ist als dreifacher Kanon angelegt - eine Kunstfertigkeit, die nicht nur zur damaligen Zeit als besondere Herausforderung empfunden wurde und in der sich die großen Meister zeigten. Zu den drei Stimmen Discantus, Contratenor und Bassus, die zu Beginn alleine stehen, gesellen sich nach vier Zeiten drei weitere Stimmen, die jeweils eine Quarte höher im Kanon erklingen.
Das weihnachtliche "Alleluja" ist die älteste mehrstimmige Musik des Programms. Das dreistimmige anonyme Organum ist einer in Florenz erhaltenen berühmten Sammlung mit Musik des 12. und 13. Jahrhunderts entnommen. Während die Unterstimme in sehr langen Notenwerten die ersten vier Neumen des Alleluja singt, entwickeln die beiden Oberstimmen melismatisch aus dem Geist des Chorals ein frühes Geflecht der Mehrstimmigkeit. Sanctus und Agnus Dei von Pierre de La Rue sind wieder als Tripelkanon gebaut, aus dem sich "Pleni sunt caeli" als einfacher und "Benedictus" als Doppelkanon abheben.
Das Magnificat als "Canticum Mariae" hat seinen liturgischen Platz in der Vesper, und gerade zu Weihnachten ist dieser Text wegen seines Bezuges zum Fest der Verkündigung des Herrn immer wieder Anlass zu besonders feierlicher Vertonung gewesen. Das von uns gesungene Magnificat des kaiserlichen Kapellmeisters Nicolas Gombert überliefert eine Quelle, die wahrscheinlich 1552 in der Kölner Kirchenprovinz, nämlich in Lüttich, entstanden ist. Im Wechsel zu den ungeraden gregorianischen Versen stehen mehrstimmige Vertonungen der geraden Verse, bei denen sich die Stimmenzahl jeweils um eine steigert, bis schließlich achtstimmig das "Sicut erat in principio" erklingt. Hier schreibt Gombert einen vierfachen Kanon. Eine weitere Besonderheit seiner Komposition liegt darin, dass er sie alternativ im 3. oder 8. Psalmton verwendet wissen will und zu diesem Zweck einen ersten Schluss im 3. Ton nach Wahl um einen Schluss im 8. Ton verlängert. Dabei ist der Übergang so kunstvoll, dass man ihn kaum hört.
Die marianische Antiphon "Alma redemptoris mater" wird in der Advents- und Weihnachtszeit gesungen und erinnert an die Verkündung durch den Engel Gabriel. Johannes Ockeghem hat als Komponist und Lehrer eine ganze Musikergeneration geprägt und den Stilwandel um 1500 vorbereitet. Die sehr lebendige Gestaltung der Linien mit ihrem beachtlichen Ambitus, das Wechselspiel von Zwei-und Vierstimmigkeit, besondere Klangeffekte - wie etwa die plötzlich eintretende Vollstimmigkeit bei "natura mirante" (zum Staunen der Natur) - oder auch die rhythmische Vielfalt mit "tempus perfectum", "tempus imperfectum" und "Tripla" sind Kennzeichen seines souveränen Stils.
Josquin Desprez' Motette "Responsum acceperat Simeon" verwendet den Text zweier Antiphonen vom Fest der Darstellung des Herrn. Der erste und der dritte Teil sind sechsstimmig, wobei sich der Altus als Kanon in der Quinte aus dem Tenor ableitet. Der dritte Teil wiederholt in verklärter Weise den Text des "Nunc dimittis". Johannes Eccard vereinigt in seinen Kompositionen motettischen und liedhaften Stil auf ganz eigene Weise. Unter seinem Lehrer Lasso geschult, beeindrucken seine Sätze durch Schlichtheit und Ausdruckskraft. Sie waren bis weit ins 17. Jahrhundert in Neudrucken verbreitet. Der Text des Paul-Gerhardt-Liedes "Ich steh an deiner Krippen hier" von 1653 wurde später unterlegt. Leonhard Paminger lässt in seiner Motette, wie der Titel "Omnis mundus iocundetur / Resonet in laudibus / In dulci jubilo" bereits andeutet, drei Weihnachslieder gleichzeit erklingen. Der vierstimmige Satz über "Es ist ein Ros entsprungen" von Michael Praetorius entstammt seiner 1609 in Wolfenbüttel veröffentlichten Sammlung deutscher Psalmen und Lieder, während Samuel Scheidts "O Jesulein süß" ursprünglich als Orgelsatz in seinem Tabulaturbuch von 1650 erschien. Die Vertonung des Luther-Liedes "Vom Himmel hoch" von Georg Forster führt die Liedmelodie in der Mittelstimme aus, um die herum sich kunstvoll die vier weiteren Stimmen ranken.
Das Programm schließt mit einer Motette von Costanzo Festa, der als päpstlicher Kapellmeister am Vatikan wirkte. Der Text "Ecce advenit dominator" ist dem Introitus des Festes der Erscheinung des Herrn entnommen. Dazu singt der Tenor die Rufe "Christus vincit, Christus regnat, Christus imperat". "Vom Anfang der Sonne bis zu ihrem Untergang wird der Erdkreis erfüllt vom Ruhm des Herrn" - es ist das Sonnensymbol, das uns hier wieder begegnet.