Saison 2002/2003: Konzert 3
Ich will in Friede fahren
Deutsche Trauermusik des 17. Jahrhunderts Kai Wessel Concerto di Viole, Basel Sendung im Deutschlandfunk am 3.12.2002Schwarzes Gewand, dunkler Hintergrund, ernste Gesichtszüge, Gesangbuch, Bibel oder Kreuz in der Hand - dermaßen "ins Leid" gekleidet schauen uns viele Personen auf barocken Gemälden an. Die Trauer - so will es auf den ersten Blick scheinen - ist einem Jahrhundert, in dem der Dreißigjährige Krieg ganz Europa ins Verderben stürzte, allgegenwärtig. Was läge näher als aus den vielen Trauergesängen ein musikalisches Programm zusammenzustellen, das am Ende dann doch ganz Erstaunliches offenbart: ein ungebrochenes Gottvertrauen und eine sinnenfrohe Musik, selbst im Leid.
Programmfolge
Pavane a 3
Heinrich Schütz (1585-1672)
"Erbarm dich mein, o Herre Gott" SWV 447
Johann Erasmus Kindermann (1616-1655)
La Affetuosa a 3: prima e seconda parte
Trauergesang "Dum tot carminibus" für Matthäus Lunßdörffer
La Affetuosa a 3: terza parte
Grabgesang auf Gottfrid Polycarp
Johann Jacob Froberger (1616-1667)
Toccata und Ricercar in G
Philipp Heinrich Erlebach (1657-1714)
"Auf des Kreuzes Finsterniss folgt die Sonne ganz gewiss"
Christian Geist (ca. 1640-1711)
"Vater unser, der du bist im Himmel"
Pause
Dietrich Buxtehude (1637-1707)
Klaglied "Muss der Tod denn auch entbinden" aus BuxWV 76
Carlo Farina (ca. 1604-1639)
Pavan - Gagliarda
Johann Krieger (1651-1735)
Lamento "Ich will in Friede fahren"
Franz Tunder (1614-1667)
"Ach Herr, lass deine lieben Engelein"
Auch ein barockes Lebensgefühl
"Was frag ich nach der Welt, /
die mich gefangen hält? /
Meyn Heyland zeiget sich, /
an diesen halt ich mich, /
der soll mir alles offenbaren. /
Ich will in Friede fahren."
In diesen klaren, einprägsamen Worten des Dichters Christian Weise (1642-1708) schwingt ein melancholisches und zugleich innig religiöses Lebensgefühl mit. Es bestimmte jene Generation nachhaltig, die mit den verheerenden Folgen des Dreißigjährigen Krieges leben musste, insbesondere in den protestantischen deutschsprachigen Gebieten von den Küsten der Nordsee und des Baltikums bis nach Franken und Württemberg. Die ständige Gegenwart von Leid und Tod selbst unter den Wohlhabenderen macht die nach heutigen Maßstäben mittelalterlich anmutende Hinwendung zum Jenseits verständlich - die sich allerdings nicht selten mit der Fähigkeit paarte, das Diesseits mit all seinen sich doch noch bietenden Freuden ohne Zögern anzunehmen.
Dass die Musik dieser Zeit oft und scheinbar gerne auf eine melancholische Sprache zurückgreift, kann vor diesem Hintergrund kaum verwundern. Ihre Schöpfer - Musiker an den Höfen der selbstbewussten größeren und kleineren Fürstenhäuser ebenso wie Kantoren und Organisten an den Hauptkirchen politisch eigenständiger "freier" Reichs- und Hanse-Städte - mussten mit ihrer Kunst nur allzu oft einem Buß- oder Bittgottesdienst zu eindringlicher Wirkung verhelfen, mehr noch: beim Begräbnis einer hochgestellten Persönlichkeit, vielleicht auch eines ihnen nahe stehenden Menschen den Trauergesang anstimmen. Die bald in mahnender Höhe, bald in gedankenschwerer Tiefe erklingende männliche Alt-Stimme und die Viola da gamba mit ihrem gleichzeitig verhaltenen und eindringlichen Ton galten dabei vielen Musikern des Barock als die idealen Partner des eigentlich allgegenwärtigen instrumentalen Generalbass-Fundaments.
Als der Dreißigjährige Krieg begann, standen zwei Große der Musikgeschichte in der Blüte ihrer Jahre: Heinrich Schütz und Samuel Scheidt. Als der Westfälische Friede besiegelt wurde, galten die beiden in den 1580er-Jahren Geborenen ihren Zeitgenossen bereits als hochbetagt. Was ihrer weiteren musikalischen Arbeit keinen Abbruch tat: Scheidt waren nach 1648 immerhin noch sechs Friedensjahre vergönnt, in denen sich der ehemalige Hofkapellmeister und "Director musices" seiner Geburtsstadt Halle an der Saale weiterhin jener freischaffenden Musiker- und Editorentätigkeit widmen konnte, zu der ihn Querelen mit Vorgesetzten schon 1639 bewegt hatten. Aus noch früheren Tagen stammt die Pavane a-Moll, ein Beispiel jenes damals überaus beliebten langsamen Tanzes, den man dank seines gravitätisch-feierlichen Gestus gerne an den Beginn von Instrumentalsuiten stellte. Ihm konnte dann als Kontrast eine Galliarda als schnellerer Nachtanz folgen, wie es Scheidt im Titel jenes Suitenrepertoires andeutet, das er seit 1621 in Hamburg sukzessive zum Druck beförderte: "Paduana, galliarda, courante, alemande, intrada, canzonetto, ut vocant, in gratiam musices studiosorum, potissimum violistarum" - "... den Musikbeflissenen gewidmet, hauptsächlich den Gambisten". Ebenso verfuhr der wandernde Mantuaner Violinvirtuose Carlo Farina in seinen nahezu titelgleichen Veröffentlichungen, die allesamt zwischen 1626 und 1628 in Dresden erschienen, während seiner Dienstzeit beim sächsischen Kurfürsten.
Mehr als vierzig Jahre im Amt, konnte sich seit 1657 auch der Kapellmeister Heinrich Schütz aus den aufreibenden Dresdner Dienstverpflichtungen nahezu vollständig zurückziehen; ihm waren fünfzehn weitere Lebenjahre vergönnt, in denen er seinen Ruf als Vater und Lehrmeister der deutschen Musik genoss und festigte. Ob die nur handschriftlich im Umfeld seiner Schüler überlieferte Choralbearbeitung "Erbarm dich mein, o Herre Gott" aus einer weit früheren Phase seines ereignisreichen Komponistenlebens stammt, ist nicht sicher zu sagen - schon angesichts ihrer für Schütz singulären Form: Über einem dichten Streichersatz entwickelt sich eine individuelle solistische Deklamation, die
aber selbst in ihren expressiven Anrufungen auf der Choralmelodie basiert.
Auf welch unterschiedliche Weise Schütz der nachfolgenden Generation zum Vorbild werden konnte, zeigen Christian Geists Vater-unser-Komposition und Franz Tunders Vokalkonzert "Ach Herr, lass deine lieben Engelein". Der aus Mecklenburg stammende Christian Geist vertonte das Vaterunser während seiner Anstellung am Königshof in Stockholm. Es fand (ebenso wie Schützens "Erbarm dich mein") Aufnahme in die bedeutende Musiksammlung des damaligen schwedischen Hofkapellmeisters Gustav Düben. Wo Schütz die Melodiefindung der vorgegebenen Choralmelodie entnimmt, fügt Geist das biblische Gebet mit den langen, nur leicht ausgezierten Notenwerten eines liturgischen Lektionstons in den bewegten Streichersatz ein - bis sich die Singstimme im abschließenden Vers "Denn dein ist das Reich" mit den Instrumenten zu einem beschwingten imitatorischen Satz vereinigt.
Der von der Ostseeinsel Fehmarn stammende Franz Tunder, seit 1641 und bis zu seinem Tod 1667 Organist an der Lübecker Hauptkirche St. Marien, beschreitet in "Ach Herr, lass deine lieben Engelein" geradezu den umgekehrten Weg. Er interpretiert den vorgegebenen Kirchenliedtext durch einen Tonsatz, der sich thematisch nahezu vollständig von der tradierten Choralmelodie gelöst hat, findet für fast jedes Zeilenpaar eine andere textausdeutende Musikalisierung und sichert den formalen Zusammenhalt der Strophen durch motivische Konstanten im Instrumentalen. Solch musikalisch-rhetorischer Modernität bediente sich auch sein Schwiegersohn und Amtsnachfolger Dietrich Buxtehude gerne. Verhaltener, inniger allerdings wirkt dessen Klaglied "Muss der Tod denn auch entbinden", mit dem er seinem 1674 verstorbenen Vater ein musikalisches (und als mutmaßlicher Verfassser des Textes auch ein literarisches) Denkmal setzte, unter dem Titel "Fried- und freudenreiche Hinfahrt". Die schlichte Form des Strophenliedes kleidet Buxtehude in einen akkordischen, durch Tonrepetitionen vibrierend emotional gefärbten Streicher-Begleitsatz.
Zwei aus einer Reihe von Trauergesängen, die der Nürnberger Egidien-Organist Johann Erasmus Kindermann zur Jahrhundertmitte für verdiente Patrizier seiner Heimatstadt schrieb, erklingen im heutigen Konzert in Verbindung mit seiner eigentümlichen Sonate "La Affetuosa". Dieses dreiteilige Werk mit seinem affektreichen Oberstimmen-Duktus, veröffentlicht 1643 in der dritten seiner "Deliciae studiosorum" betitelten Publikationen für Instrumentalensemble, lässt sich als "Aria ohne Worte" charakterisieren, in die sich das lateinische Epitaph aus den Trauergesängen für Matthäus Lunßdörffer trefflich einfügt. In diesem außergewöhnlich deutlich von der Textdeklamation bestimmten Stück "in stylo recitativo" hat Kindermanns Italienaufenthalt von 1635 seine Spuren hinterlassen, bei dem er wahrscheinlich den Unterricht im Venedig Claudio Monteverdis und Francesco Cavallis genoss.
Italienische Vorbilder spiegeln auch die Instrumentalwerke des Claviervirtuosen Johann Jacob Froberger wider. Der Sohn eines Stuttgarter Hofmusikers war als Wiener Organist zu einem kaiserlichen Stipendium gekommen, das ihm ab September 1637 einen mehrjährigen Studienaufenthalt bei Girolamo Frescobaldi in Rom ermöglichte. Seine späteren Toccaten und Ricercare gründen mit ihrem Wechsel von improvisatorisch anmutenden Passagen und konsequenter kontrapunktischer Strenge denn auch in den Formmodellen des römischen Meisters, verfügen aber über eine bis dahin unerhörte Ausdrucksfähigkeit. Ihr Schöpfer wurde alsbald an Orgeln und Cembali in ganz Europa zur Berühmtheit; seine Konzertreisen brachten ihn 1650 von Brüssel aus - mit Stationen in Bonn, Köln und Düsseldorf - auch an den Dresdner Hof, wo er im Wettstreit mit dem Schütz-Schüler Matthias Weckmann auftrat.
Welches hohe musikalische Niveau man sogar abseits der bedeutenden Fürstenhöfe und großen Städte pflegte, belegt in beispielhafter Weise das Wirken Philipp Heinrich Erlebachs am Hof der Grafen von Schwarzburg im thüringischen Saalestädtchen Rudolstadt. Schon 1681 mit nur 23 Jahren zum Kapelldirektor berufen, übte Erlebach das Amt bis zu seinem Tod 1714 aus. Eine Auswahl von 75 "moralischen", d.h. weniger für die Kirche als für fürstliche Kammern und bürgerliche Musizierzimmer bestimmten Arien veröffentlichte er in zwei Teilen 1697 und 1710 unter dem Titel "Harmonische Freude musicalischer Freunde". Und sicherte, ohne es zu ahnen, nur dadurch auch einer Reihe von Stücken aus seinen Opern und höfischen Repräsentationsmusiken das Überleben, deren ursprüngliche Noten 1735 einem Schlossbrand zum Opfer fielen: Die meisten, wenn nicht alle Stücke der "Harmonischen Freude" stellen nämlich umtextierte und mit moralisierenden Überschriften versehene Neufassungen Erlebach'scher Opern- und Serenaten-Arien dar, und so lassen sich aus ihnen auch Teile der originalen Bühnenfassungen rekonstruieren, soweit deren Librettodrucke erhalten sind. Daher schwingt auch in der heute Abend zu hörenden strophischen "Aria à Alto è 4 Stromenti" mit ihren instrumentalen Ritornellen und Zwischenspielen die eingängige Musiksprache der barocken Hofopernbühne Mitteldeutschlands um 1700 mit.
Zurück zu Christian Weise und seinem Gedicht "Ich will in Friede fahren". Sieht man von der Studienzeit in Leipzig ab, wirkte auch Weise abseits der kulturellen Metropolen; die letzten dreißig Jahre seines Lebens war er Rektor des Gymnasiums in seinem Geburtsort Zittau in der Oberlausitz. Nur zwei Jahre nach Weise trat 1682 auch der aus Nürnberg stammende Johann Krieger sein Amt in Zittau an: als Organist von St. Johannis und "Director chori musici". Wiederum zwei Jahre später veröffentlichte Krieger seine "Neue musicalische Ergetzligkeit", eine umfangreiche Sammlung von ein- bis vierstimmigen Liedern und Arien, die allesamt Texte Weises zur Grundlage haben - Ausweis einer intensiven künstlerischen Zusammenarbeit, die sich nicht ohne Erfolg einer besonders anmutigen Art der religiösen und moralischen Unterweisung ihrer Mitmenschen verschrieben hatte.
Mitwirkende
Concerto di Viole:
Rebeka Rusó,
Brigitte Gasser,
Arno Jochem, Viola da gamba
Markus Hünninger, Orgel und Cembalo