Saison 2003/2004: Konzert 1

Sonntag, 28. September 2003 17 Uhr Sendesaal des Deutschlandfunks

Von Bach bis Schubert

Klaus Mertens, Bariton Ton Koopman, Orgel Cembalo Tini Mathot, Fortepiano Cembalo Sendung im Deutschlandfunk am 7.10.2003

Zum "Musicalischen Gesangbuch von 950 auserlesenen geistlichen Liedern und Arien", dem Schemelli-Gesangbuch, benannt nach dem Zeitzer Schlosskantor und vermutlichen Herausgeber Georg Christian Schemelli, trug Johann Sebastian Bach die Musik bei, oder hat sie zumindest, so das Vorwort "nach Befinden verbessert". Der Bariton Klaus Mertens bringt Arien aus gesicherter Bachscher Autorenschaft und kombiniert diese Zeugnisse barocker Liedkultur mit Vokal- und Instrumentalsätzen aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach und aus dem Werk der Bach-Söhne Carl Philipp Emanuel und Wilhelm Friedemann. Der zweite Teil des Konzerts gilt dem Liedschaffen klassischer und romantischer Provenienz: Franz Schuberts Heideröslein oder Mozarts Das Veilchen. Vermutlich würden diese Lieder nicht fehlen, würde Bach heute noch einmal ein repräsentatives "Notenbüchlein" anlegen.

Programmfolge

Johann Sebastian Bach (1685-1750)

Dir, dir Jehova, will ich singen BWV 299
Jesu, meines Glaubens Zier BWV 472
(aus Schemellis Gesangbuch)

Wer nur den lieben Gott lässt walten BWV 691 für Orgel
(aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach)

Brunnquell aller Güter BWV 445
(aus Schemellis Gesangbuch)

Willst du dein Herz mir schenken BWV 518
(aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach)

Amore traditore BWV 203
Kantate für Bass und Cembalo

Präludium und Fuge C-Dur BWV 547 für zwei Cembali

Carl Philipp Emanuel Bach (1714-1788)

Der Frühling
Kantate für eine Singstimme und Clavier H. 688/2,3

Wilhelm Friedemann Bach (1710-1784)

Konzert für zwei Cembali F-Dur Fk 10
Allegro moderato - Andante - Presto

Pause

Franz Schubert (1797-1828)

Der Lindenbaum D 911/5
Du bist die Ruh D 776
Heidenröslein D 257

Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791)
Andante F-Dur KV 616 für Orgel

Die Verschweigung KV 518
Das Veilchen KV 476
Abendempfindung KV 523

Andante mit Variationen C-Dur KV 501 für Cembalo und Fortepiano

Für Kenner und Liebhaber

Nicht ohne Stolz berichtet Johann Sebastian Bach im Oktober 1730 seinem Jugendfreund Georg Erdmann von der Musikalität seiner Familie: "Insgesamt sind sie gebohrne Musici, u. kan versichern, daß schon ein Concert Vocaliter u. Instrumentaliter mit meiner Familie formiren kan, zumahln da meine itzige Frau gar einen sauberen Soprano singet, auch meine älteste Tochter nicht schlimm einschläget." Wahrhaftig, es wird nicht übel geklungen haben, wenn sich so viele Talente der notorisch musikalischen Bache zur Hausmusik in der Leipziger Kantorenwohnung einfanden. Dafür sorgten damals neben schönen Stimmen wie jener der einstigen Hofsängerin Anna Magdalena Bach und ihrer nur sieben Jahre jüngeren Stieftochter Catharina Dorothea die virtuosen Finger von Vater Bach und seinen Söhnen Wilhelm Friedemann, Carl Philipp Emanuel und Johann Gottfried Bernhard, nicht zuletzt aber der delikate Klang der verschiedenen Tasten- und Saiteninstrumente, die Johann Sebastian im Laufe der Jahre erworben hatte. Klein besetzte Vokal- und Instrumentalmusik, oft in besonderen, liebevoll arrangierten Sammlungen überliefert, lässt heute noch etwas vom heiter-intimen Rahmen solcher Familien-Soiréen erahnen, aus einer Zeit, in der zum Musikhören selbstverständlich "Live-Musik" gehörte: Eine bunte Mischung aus anspruchsvolleren Repertoirestücken und unterhaltsamen Kleinigkeiten bieten Notenbände wie das "Clavier-Büchlein vor Wilhelm Friedemann Bach", das Johann Sebastian Bach selbst Anfang 1720 für seinen 11-jährigen Ältesten anlegte. Für seine Gattin begann er zwei Jahre später das "Clavier-Büchlein vor Anna Magdalena Bachin", dem bald ein weiteres mit auf grünem Pergamenteinband geprägtem Goldtitel "A.M.B./1725" folgte. Es enthält zwei Clavierpartiten in der Handschrift des Ehemannes, daneben Einzelstücke, die Anna Magdalena zum Teil selbst eingetragen hat; doch ist auch der junge Carl Philipp Emanuel schon mit kleinen Kompositionen vertreten. Selbst Arrangements größer besetzter Kompositionen fehlen nicht; so hat sich Anna Magdalena die wiegenliedartige Arie "Schlummert ein, ihr matten Augen" aus der Bass-Kantate BWV 82 transponiert und dabei die Instrumentalbegleitung auf die Generalbassstimme reduziert. Ebenso nahe lag den Clavieristen im Bach'schen Hause sicherlich die Übertragung eines Orgelwerks auf zwei Cembali, wie sie im heutigen Konzert in Gestalt von Präludium und Fuge C-Dur BWV 547 zu hören ist. Die Cantata "Amore traditore" BWV 203 in italienischem Gusto mochte Bach ursprünglich als Hofmusiker in Weimar oder Köthen komponiert haben; sie ließ sich aber auch in der bürgerlichen Kammer trefflich verwenden.
Die Clavier-Büchlein machen deutlich, dass zum Bereich der Hausmusik damals neben dem weltlich Unterhaltsamen ebenso selbstverständlich die geistliche Andacht zählte. Ein Aspekt, dem auch zeitgenössische Gesangbücher Beachtung schenkten: "Singe sie, singe sie öffentlich in der Gemeinde, aber auch zu Hause in deiner Privat-Andacht", mahnt der Superintendent Friedrich Schultze aus Zeitz in der Vorrede zu jenen 954 geistlichen Liedern und Arien, die sein Kantor Georg Christian Schemelli 1736 in Leipzig herausgab. In Erinnerung geblieben ist das "Schemelli-Gesangbuch" nicht zuletzt dank jener 69 Stücke, die es inklusive Melodie und zusätzlicher bezifferter Instrumentalbassstimme offeriert, denn diese Sätze gehen auf Johann Sebastian Bach zurück. Für "Dir, dir Jehova, will ich singen" steht er nicht nur als Verfasser oder Überarbeiter der Begleitstimme fest, sondern auch als Komponist der Arien-Melodie, findet sie sich doch auch in Anna Magdalenas zweitem Büchlein.
Hatte Vater Bach seine klein besetzten Kompositionen entweder als Hofmusiker in der adeligen Kammer oder als Privatier in der bürgerlichen Stube musiziert, genossen seine Söhne wenige Jahre später die Konversations-Atmosphäre städtischer Salons, in denen sich wohlhabendes Bürgertum und aufgeklärter Adel gleichermaßen als Kunstmäzene gefielen. So entstammt Carl Philipp Emanuel Bachs Kantate "Der Frühling" auf Christoph Martin Wielands in Hexametern gehaltenen Text dem Jahr 1760 und damit den akademischen Kreisen Berliner Kunstverständiger. Als virtuoser Clavierspieler präsentierte sich Wilhelm Friedemann Bach zwischen 1774 und 1784 ebenfalls in den Salons der preußischen Hauptstadt, wo er zusammen mit seiner talentierten Schülerin Sara Levi (der späteren Großtante Felix Mendelssohn Bartholdys) auch in seinem Konzert für zwei Cembali brilliert haben mag.
Gab das vornehme Berlin der Aufklärung den weltmännischen Attitüden eines Tastenvirtuosen weiten Spielraum, stellte sich die Situation im Wien der Restaurationszeit unter Fürst Metternich beklemmend anders dar, wenn Franz Schubert mit seiner Klavier- und Liedkunst im Mittelpunkt der Freunde stand: Die "Schubertiaden" erscheinen als nahezu geheimbündlerische Zusammenkünfte in Privatwohnungen, in den Hinterstuben der Wirtshäuser oder - im Idealfall - auf dem abgeschiedenen Landsitz eines Gönners. Momente, in denen man sich gerne zu jenen romantischen musikalischen Landschaften tragen ließ, deren Idylle dann - wie im "Lindenbaum" - doch die Beklemmungen der Realität spiegelte.
Weitaus unbeschwerter wirkt dagegen das Wiener Kunstlied der vorangegangenen Generation, wie es Wolfgang Amadeus Mozart in der zweiten Hälfte der 1780er Jahre schuf. Beschwerlichkeiten empfand der Genius hingegen beim Komponieren für die Flötenuhr im 1791 eröffneten "Laudon-Mausoleum", einem Raritäten-Kabinett, in dem man in einem Glassarg die Wachsfigur eines 1790 verstorbenen Feldmarschalls zeigte. Dem Andante mit Variationen F-Dur KV 616 merkt man es allerdings nicht an, dass Mozart dem mechanischen Instrument wenig Sympathie entgegen brachte; gleichwohl dürfte jede nicht-mechanische Wiedergabe des Stücks in seinem Sinne sein (noch 1791 erschien in Venedig eine Fassung für Tasteninstrument). Wie eine Reminiszens des Wiener Künstlers an die Zeit im Salzburger Elternhaus wirkt die Variationenfolge C-Dur KV 501 "pour Forte-Piano, ou Clavecin à Quarte Mains" (so der Druck um 1787): an Momente, da sich "Nannerl" und "Wolferl" dem ungezwungenen gemeinsamen Musizieren am Tasteninstrument hingeben konnten.

behe

Mitwirkende

Klaus Mertens, Bariton
Ton Koopman, Orgel, Cembalo
Tini Mathot, Fortepiano, Cembalo

Im heutigen Konzert spielt Ton Koopman auf einem Cembalo nach Joannes Ruckers, gebaut von Willem Kroesbergen 1979, und einer Truhenorgel von Marc Garnier (1988).

Tini Mathot spielt heute Abend auf einem Cembalo nach Joannes Couchet, gebaut 1991 von Willem Kroesbergen, und einem Hammerklavier nach Anton Walter, gebaut von Rien Hasselaar 1988.